September 2011  /  Du 819

Alles abstrakt und jedes konstruiert?

<p>Shirana Shahbazi: <em>Komposition-02-2011</em> (C-Print)<br />Shahbazis Fotografien sind ab September 2011 in einer Ausstellung des Fotomuseums Winterthur zu sehen: Shirana Shahbazi – Much like Zero (3.9.–13.11.2011).</p>

Shirana Shahbazi: Komposition-02-2011 (C-Print)
Shahbazis Fotografien sind ab September 2011 in einer Ausstellung des Fotomuseums Winterthur zu sehen: Shirana Shahbazi – Much like Zero (3.9.–13.11.2011).

Wie real oder abstrakt ist eine Fotografie? Die offizielle Formulierung der Abstraktion in der Fotografie setzt mit Alvin Langdon Coburn ein, mit seinem Aufsatz zur Zukunft der bildmässigen Fotografie von 1916 und seinen Vortographs, den abstrakten, durch ein Spiegelprisma aufgenommenen Fotografien, die sich von der «zwanghaften Verbindung mit der Realität» befreiten, wie Ezra Pound es formulierte. «Warum sollte nicht auch die Kamera die Fesseln konventioneller Darstellungskunst abstreifen und etwas Frisches, bisher nicht Erprobtes wagen?», schreibt Coburn. «Warum sollte nicht ihre subtile Geschwindigkeit benützt werden, um die Bewegung zu studieren? Warum nicht Mehrfachbelichtungen einer Platte, um einen bewegten Gegenstand aufzunehmen?» 

Coburns Gedanken wurden von Abstraktionsbewegungen genährt, die die Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachhaltig zu untergraben begannen: das Undurchsichtigerwerden der Geldflüsse zum Beispiel, das Abstrakterwerden der wissenschaftlichen Einsichten oder das Aufbrechen der als Einheit verstandenen menschlichen Psyche. Dieser revolutionäre Wandel der Wahrnehmung und des Weltverständnisses trieb die Kunst und das Denken in die Abstraktion. Dennoch, der Glaube an die fotografische Repräsentation trat einen unglaublichen Siegeszug an, erdrückte für Dekaden jedes andere Verständnis der Fotografie und überzog die Welt mit einem endlos scheinenden Bildteppich an Wirklichkeit und Wahrheit behauptender Fotografie. 

Shirana Shahbazi wagte sich mit ihrer allerersten Arbeit schon in die Dilemmas der Fotografie. Sie legte eine Arbeit über ihre ursprüngliche Heimat vor, aus der Sicht der zweiten, dritten Heimat gemacht (geboren in Teheran, mit elf Jahren nach Deutschland emigriert, seit 1998 in Zürich lebend), eine Mischung aus Erinnerung und Erfahrung im Iran um das Jahr 2000. Sie war unmittelbar mit der Frage konfrontiert, was diese meist alltäglichen Landschaften, Stadtlandschaften, Porträts bedeuten. Für die einen wirken sie exotisch, für die anderen banal, die Dritten schimpfen sie «Folklore». Shahbazi schifft ihre Arbeit gekonnt um das Repräsentationsdilemma der Fotografie herum, thematisiert es, fotografiert reale Menschen und Menschen in Bildern, in Mosaiken, lässt eine Frau malen und refotografiert diese Malerei, setzt sie neben das direkte Fotoporträt. Sie stört somit laufend den Fluss der Bilder, ihre mögliche leichte, süffige Lesart, ihre Rezeption. 

Eine (Exil-)Iranerin kehrt zurück und fotografiert den Iran. Das ist ein gefundenes Fressen für viele, ein farbenfroher Bilderschatz für bunte, wohlmeinende Missverständnisse. Shirana Shahbazi reagiert instinktiv darauf und verweigert den zweiten Schritt ins gleiche Feld. Fortan reist sie in die ganze Welt hinaus, fotografiert hier und dort gesehene, erfahrene, schon fotografierte Landschaften, Landstriche, urban sites. Sie porträtiert auch Freunde, Bekannte, Fremde, doch kaum je als Einzelbild, vielmehr als Doppelbild. Mit leicht verschobener Perspektive, leicht versetztem Blick. Nicht das Porträt, sondern zwei oder mehr Blicke auf eine sich leicht verschiebende Person ergeben eine dynamisierte Situation, lösen das Subjekt-Objekt-Gefälle, auch die Starre der Situation auf. Schliesslich beginnt Shahbazi auch sichtbar zu inszenieren, arrangiert Stillleben mit Korb, Früchten, Blumen, Muscheln, Perlenketten und Totenköpfen. Künstlich arrangierte Natur, drapiertes (totes) Leben, nature morte vor schwarzem Grund, wie in der holländisch-ämischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts. Schmetterlinge, Muscheln und Steine vor sattfarbenen, dunkel leuchtenden Hintergründen. Zudem überträgt sie die Bilder in andere Medien, lässt Porträts und Landschaften als Teppiche knüpfen, lässt Stillleben zu immensen Billboard-Malereien aufblasen und holt die medial verwandelten Bilder zurück in den Fotobereich. Sie bricht damit den (sentimentalen) Blick in die Welt, irritiert die nach kultureller, medialer Einheit verlangende Sichtweise. Und nähert sich so schrittweise der Abstraktion. 

Erst in den letzten Jahren scheint die Abstraktion in der Fotografie erstmals wirklich ernst und medientheoretisch wichtig genommen zu werden. Nach Jean Baudrillard, nach der Loslösung von Signifikant und Signifikat, von Zeichen und Bedeutung, von Zeichen und Verweisen in die Wirklichkeit, begreifen wir, dass letztlich jede Fotografie abstrakt ist, dass die Referenz in die Wirklichkeit bloss ein angenehmes, beruhigendes Scheinen ist. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass «abstrakte Fotografie» nur als Holding-Begriff taugt, sonst jedoch zu vereinfachend, zu leer ist, um das Reich der darin enthaltenen Möglichkeiten abzustecken. Was Ugo Mulas, Sigmar Polke, James Welling, Wolfgang Tillmans, Walead Beshty jeweils mit ihren fotoabstrakten, fotokonkreten Zeichenwelten beabsichtigen, referenzieren, unterscheidet sich so stark voneinander wie einst Landschafts- und Porträtfotografie, wie Krieg und Frieden. 

Seit zwei, drei Jahren stellt sich bei Shahbazi neben die Auseinandersetzung mit der Fotografie als Repräsentation eine reinere, gelöstere Bilderlust. Ihre Fotografien werden zunehmend «abstrakter». Freie, aber präzis gesetzte Farbformen, im Studio durch das Zusammenstellen von geometrischen Farbkörpern konstruiert, werden neben Bilder von Felsen, von Bergen, von Landschaften gestellt. Strukturähnlichkeiten zwischen draussen und drinnen, zwischen gesehener und konstruierter Landschaft werden in Beziehung gesetzt. Natürliche Formen stehen neben geometrischen, durch das blosse Sehen konstruierte Bilder neben bühnenhaften Installationen. Ihre Bilder preisen – obwohl weiterhin analog fotografiert, für die Kamera inszeniert, sich mit anderen Repräsentationsformen reibend – Farben und Formen, Strukturen und Dynamik als entschlackte Bildfelder, als offene, neue Bild- und Denkräume, als neue, eigene Bildutopie.