Die Sache der fotografischen Abstraktion kam nicht zur Ruhe. Fotogramme standen lange Zeit an vorderster Front (bisweilen, wie bei Moholy-Nagy, auch missverständlich),6 aber auch schwarze Quadrate, Kreise, Dreiecke, die in der Nachfolge von Malewitsch mit Fotografie generiert worden sind, Alexander Rodtschenkos Schwarz auf Schwarz, ein Öl-Fotogramm als schwarze Fläche zum Beispiel, oder Gottfried Jägers «Generative Fotografie» der sechziger, siebziger und achtziger Jahre, diese selbsterzeugenden Fotografien mit eigener (Erzeugungs-) Ästhetik. Doch es fehlte die Durchsetzungskraft, es fehlte die Not, den tiefen, inzwischen theoretisch fundierten Zweifel ernstzunehmen. Noch liefen Angebot und Nachfrage parallel, noch ratterten Filmherstellung, Bilddruck, Presseerzeugnisse wie wild und kleisterten unsere Augen mit attraktiven, repräsentierenden Bildwelten zu.
Anfang 2011 trägt aber nun der Band 206 des Kunstforums einem neuen Trend zur Abstraktion Rechnung und fragt: «Diese Strömung geht durch alle Medien und scheint mehr zu sein, als eine kunstimmanente Auseinandersetzung. Doch was ist das spezifisch Neue an dieser Neuen Abstraktion? Gibt es tatsächlich ungekannte inhaltliche Ausrichtungen und Konzepte oder handelt es sich bloss um zeitgenössische Varianten oder Re-Interpretationen bereits bestehender künstlerischer Strategien. Und was besagt es, wenn die Künstler sich erneut der Abstraktion zuwenden? Postulieren sie damit eine Abkehr von der Realität, eine ästhetische Weltflucht, eine Kompensation oder vermitteln sie damit vielmehr einen Gegenentwurf, eine Erneuerung und eine utopische Qualität?»7
Wir leben nach Jean Baudrillard, und das heisst in diesem Fall hauptsächlich, dass sich über die Jahre hinweg die Zeichen und ihre Bedeutung noch stärker voneinander entfernt haben, dass der Signifikant, das Bezeichnende, weit wichtiger ist als das Signifikat, das Bezeichnete. Wir leben in einem Meer frei fliessender, referenzloser und derart für alles und jedes verfügbarer Zeichen. Die Digitalisierung der Zeichenwelt, der fotografischen Welt, hat die Verwischungen noch stärker explodieren lassen. Wir leben in einer Simulationswelt, in einem «Simulacrum», das die Unterscheidung zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild, Realität und Imagination unmöglich macht. Zeichen und Bilder werden zunehmend referenzlos.
Zum ersten Mal scheint heute die Abstraktion in der Fotografie wirklich ernst genommen und diskutiert zu werden, sie wird medientheoretisch und Fotografie-ontologisch als wichtig erachtet. Jetzt wird begriffen, dass letztlich jede Fotografie abstrakt ist, dass die Referenz in die Wirklichkeit «bloss» ein angenehmes, beruhigendes Scheinen ist, dass «alle Fotografien gleichermassen gegenständlich, konkret und abstrakt sind; Konstruktionen, die durch Übersetzungen und Manipulationen entstehen.»8 Heute wird aber auch eingesehen und diskutiert, dass «Abstrakte Fotografie» nur als Holding-Begriff taugt, sonst jedoch zu vereinfachend, zu leer ist, um das Reich der darin enthaltenen Möglichkeiten abzustecken. Was Ugo Mulas, Sigmar Polke, James Welling, Adam Fuss, Herwig Kempinger, Wolfgang Tillmans, Walead Beshty (um nur einige wenige Vertreter zu nennen) jeweils mit ihren fotoabstrakten, fotokonkreten Zeichenwelten beabsichtigen, referenzieren, unterscheidet sich so stark voneinander wie einst Landschafts- und Porträtfotografie, wie Krieg und Frieden, wie Himmel und Erde. Allen gemeinsam ist jedoch die Überzeugung, dass jede Fotografie eine Konstruktion ist und als solche angeschaut und begriffen werden soll.
«Wir werden keine Welt gestalten und wollen es auch nicht direkt. Sich gestalterisch denkend zu bewegen genügt fürs Erste, vielleicht wird etwas Neues daraus, nur eben nicht, indem es von vornherein mit einem neuen Weltbild in Einklang stehen soll, sondern als Selbstläufer, in der Hoffnung, dass es auch schön aus dem Ruder läuft und wunderbare Bastarde bildet.»9 Diese Zeilen des deutschen Malers Bernd Ribbeck formulieren einen der Grundtöne der neuen Beschäftigung mit der Abstraktion, in der Shirana Shahbazi zunehmend eine wichtige Rolle spielt.