Ein orangener Rucksack steht auf hellem Boden. Versehen mit schwarzen Trägern, Riemchen, Seitennetzen und zahlreichen Reissverschlüssen. «Jack Wolfskin Berkeley» steht Schwarz auf Orange gestempelt, ergänzt durch zwei stilisierte Wolfstatzen.
Ist es ein Sportrucksack, ein Schulrucksack oder vielleicht ein Wanderrucksack, den wir auf dem Foto sehen?
Meine Kenntnisse in Rucksäcken reichen nicht sehr weit, meist enden sie in Jugenderinnerungen, als wir als Kleinfamilie von Kandersteg zum Oeschinensee hochmarschierten. Natürlich mit vollgepacktem Rucksack, darin Thermosflasche mit Tee, Landjäger und Gerber-Chäsli mit Schinkengeschmack.
Der Schultaschen-Ratgeber jedenfalls weiss es genauer: «Der Rucksack Jack Wolfskin Berkeley wurde entwickelt, um ein Begleiter für den Alltag in verschiedensten Situationen zu sein. Er hat ein Volumen von 30 Litern und kompakte Masse von 44 x 32 x 35 cm. Er wiegt leer etwa 720 Gramm und gehört zu den leichteren Schulrucksäcken. Damit eignet der Berkeley sich für Schule, Studium, das Büro oder einen kleineren Ausflug.» Okay, verstanden. Und dieses besondere Stück hier? Von einem Jugendlichen abgestellt, weil er dringend WhatsApp checken muss? Steht daneben eine Gruppe von Nordic Walkern? Wurde er schlicht vergessen oder absichtlich deponiert?
Oberhalb des Rucksacks erkennen wir eine Hand, mit einem hellblauen Plastikhandschuh überzogen, die sich an einer halb schwarzen, halb weissen Apparatur zu schaffen macht, die mit einer Steckdose in der Wand verbunden ist. Es wird nicht richtig deutlich, was sie da hantiert, der angeschnittene nackte Arm hingegen und die Armbanduhr lassen auf eine Männerhand schliessen. Das Foto ist korrekt aufgenommen. Es ist weder verzogen noch irgendwo unscharf, es wirkt wie ein sorgfältig ausgelöster, auf dem Bildschirm leicht gelblicher Schnappschuss.
Ein geheimnisvoller Sack, dem offensichtlich eine bestimmte Aufmerksamkeit gewährt wird, und ein etwas banales Foto, das doch rätselhaft wirkt. Was ist mit diesem Rucksack? Was enthält er? Was ist mit dieser Fotografie? Was will sie uns zeigen, und was verbirgt sie im Gegenzug?
Der Rucksack wurde am vorletzten Samstagabend, nach der Street Parade, beim Utoquai am See entdeckt. Nach schneller grossräumiger Absperrung untersuchte ihn ein fahrbarer Roboter, anschliessend wurde er auf einem Anhänger mit explosionsdämpfenden Materialien abtransportiert. Die Einzelteile wurden sorgfältig zu einem Puzzle zusammengefügt. Laut dem zuständigen Staatsanwalt fand man im Rucksack ein Handy, Metallteile und PET-Flaschen mit einer Flüssigkeit, es handelt sich dabei um Brandbeschleuniger. Nur der Sprengstoff und die Zündvorrichtung fehlten, weshalb man vorsichtig von einer Bombenattrappe sprach. Ein Tatverdächtiger ist mittlerweile geständig. Die Untersuchungen gehen weiter.
Das Bild vom Rohrbomben-Rucksack hingegen werden wir schnell vergessen haben. Gesehen, «verstanden» und ad acta gelegt. Gesehen, übersehen und vergessen. Wir glauben, mit einem auffallend schnellen Automatismus, Bilder und Fotografien in Sekundenbruchteilen gesehen und begriffen zu haben. Im Gegensatz zur präzisen, langwierigen forensischen Untersuchung eines Sachverhalts gehen wir meist davon aus, dass bei Bildern ein schneller Blick genügt. Dabei hielt doch Bertolt Brecht vor bald hundert Jahren schon fest: «Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ‹Wiedergabe der Realität› etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.»
Die Sicht auf die Hülle des Rucksacks erzählt uns wenig oder nichts vom Inhalt. Sein zeitgenössisches cooles Aussehen hat mich selbst dazu verleitet, zuerst an Rucksäcke von Schülern oder Nordic Walkern zu denken. Ich habe also die Funktion dieses fotografierten Objekts über seine «Fassade» falsch gelesen. Durch die Reproduktion der Fassade der modernen Gesellschaft helfe man zudem bei ihren «Täuschungsgeschäften» mit, lese ich bei Adorno, der damit diese Bildlage politisch schärft.
Seit dem Strukturalismus, auch seit dem ersten Medienzeitalter in den Siebziger- und Achtzigerjahren (dem Beginn der Bewusstseinsindustrie, wie der kritische Begriff der damaligen Zeit geheissen hat), wissen wir mehr von diesem «Funktionalen», vom Öffnen der Fassaden, vom strukturellen Verständnis einer Situation. Wir haben seither schrittweise begriffen, dass eine Person in der Gruppe, ein Haus im Stadtkontext, eine Pflanze oder ein Tier im Ökosystem, ja, dass Dinge und Wesen erst in ihrem Kontext und in ihrer Wechselwirkung betrachtet ihr wahres Sein und ihr wirkliches Handeln preisgeben.
Wir betrachten heute (immer noch mehrheitlich, hoffe ich) die Welt systemisch, wir verstehen sie als komplexen Zusammenhang, den es sorgfältig zu ergründen gilt, will man eine interessante, wichtige, vielleicht gar wahre Feststellung dazu äussern.
Nur für Fotografien gilt das nicht – oder jedenfalls weit weniger. Da die gleiche Landschaftsfotografie private Erinnerung, Werbeaufnahme, Werkzeug eines Landvermessers, meteorologische Aufzeichnung, Ort einer historischen Schlacht und noch viel mehr zugleich sein kann; da die gleiche Aufnahme des Rucksacks die sorgfältige Vorbereitung einer Bergtour, Tests bei der EMPA, die Erstellung des Condition Reports eines skulpturalen Kunstwerks oder eben den Beginn der forensischen Untersuchung eines möglichen Tatobjekts wiedergeben kann, scheinen wir schnell die Orientierung zu verlieren und der Fotografie auf den Leim zu gehen. Fotografie ist schwach kodiert, ihr Bildsystem ist nie eindeutig lesbar und bleibt ambivalent. Deshalb kann sie heute in den sozialen Medien, gratis und in Windeseile, fast beliebig in jeden neuen Kontext verschoben werden und immer wieder von neuem wahrhaftig, glaubwürdig auftreten – wie «mit den eigenen Augen gesehen». Sie gleitet wie ein Chamäleon durch die verschiedensten Medienkontexte und passt sich an, spiegelt gleichsam den je neuen Kontext. Und das mit eindrücklicher visueller Kraft.
Unser Verhältnis zu Bild und Fotografie ist deshalb nach wie vor unergründlich, ambivalent. Auf der einen Seite sehen wir Bilder, um sie gleich wieder zu vergessen. Auf der anderen Seite können wir sie – bei ikonischer Ausstrahlung – nie mehr vergessen: Das Bild steckt in unserem Hirn fest und überlagert alles.
Aufgrund ihrer realitätsnahen Darstellung der Wirklichkeit glauben wir der Fotografie fast instinktiv. In beiden Fällen – ob ein Bild nun ikonisch wird oder gleich wieder vergessen geht – scheinen wir das sorgfältige Schauen und Denken zugunsten unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, zugunsten purer Emotion auszuschalten. Warm oder kalt, süss oder sauer, schön oder hässlich. Unser Gesamtsystem sieht und entscheidet, spürt und reagiert, speichert oder verwirft – superschnell. Bisweilen verschmelzen wir geradezu mit den Bildern, bisweilen berühren sie uns kaum. Wir zappen mit unseren Augen durch Hunderte, Tausende solcher «Bildfallen» pro Tag, und projizieren oft mehr in die Bilder hinein, als dass wir sie wahrnehmen, zum Beispiel, wie zu Beginn, meine eigene Kindheitserinnerung.
Das ist sowohl der Reiz als auch die Gefahr des Bildes, sein Genuss und sein Verdruss.