September 2015  /  Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg (Kehrer Verlag)

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Wunder und Sünde

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Der griechische Dichter Antipatros von Sidon listete vor mehr als 2000 Jahren die sieben Weltwunder der Antike auf, die sieben prachtvollsten Bauwerke seiner Zeit. Übrig geblieben sind über die Jahrhunderte nur die Pyramiden von Gizeh, alle anderen Weltwunder fielen dem Zahn der Zeit, den Zerstörungen und Katastrophen zum Opfer. Doch seither sind wieder sieben neue Weltwunder geschaffen worden, die Chinesische Mauer, die Felsenstadt Petra, die Inka-Ruinen Machu Picchu zum Beispiel. Zudem könnten wir die sieben Weltwunder der technischen Entwicklung festlegen, die sieben Wunder der Natur, die sieben Wunder der Neuzeit oder die sieben Schritte zur persönlichen Erleuchtung. Wir Menschen erschaffen Wunder. Wir sind fähig dazu. Wir erleben aber gleichzeitig auch den Zerfall der eigenen Leistung, und wir verantworten die Zerstörung der Wunder anderer. Selbst das, was wir nicht erschaffen, was wir geschenkt erhalten haben, die Natur, sind wir bereit, so zu modifizieren, dass die Folgen der Veränderungen nicht absehbar und später kaum mehr korrigierbar sind. Im Christentum zählt man als Kehrseite guten, menschlichen Verhaltens die sieben Todsünden auf, den Hochmut, Geiz, Zorn, Neid, die Wollust, Völlerei und die Faulheit. Mahatma Gandhi benannte seinerseits die dunklen Seiten menschlichen Verhaltens, konkreter und zeitgenössischer, mit Reichtum ohne Arbeit, Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opferbereitschaft, Politik ohne Prinzipien. Wir können uns alle die Frage stellen: Was sind heute unsere Wunder und was unsere Todsünden?

Glück und Katastrophe

Die Zahl Sieben ist einerseits hell leuchtende Glückszahl, wenn sie von starkem Willen, herausragender Kraft, großartiger Leistung und von unerschöpflicher Freude und Glück spricht, und andererseits düstere Schicksalszahl, Abgrundszahl, Katastrophenzahl, wenn sie von den Niederungen des menschlichen Lebens, den Schattenseiten, ja, dem Inferno in der Welt erzählt. Der französische Strukturalist Roland Barthes würde an dieser Stelle aufhorchen und sich analog zu seiner Kritik an der berühmten Ausstellung „The Family of Man“ so bemerkbar machen: „Hier zielt alles, Bildinhalt und Bildwirkung sowie die sie rechtfertigende Erklärung darauf ab, das determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben. […] Der Mythos von der conditio humana stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen“.1 Er würde uns auffordern, ein fortschrittlicher Humanismus müsse diesen „alten Betrug“ umkehren, das heißt, die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten „unaufhörlich aufreißen“, um endlich die Natur selbst als historisch zu setzen. Konkreter: „Geburt und Tod? Wenn man ihnen die Geschichte entzieht, gibt es nichts mehr darüber zu sagen, dann wird der Kommentar rein tautologisch. […] Dass das Kind unter guten Dingen oder schlechten Bedingungen geboren wird, dass es seine Mutter Schmerzen kostet oder nicht, dass es von Sterblichkeit betroffen ist oder nicht, dass es zu dieser oder jener Form der Zukunft Zugang hat, davon müssten die Ausstellungen zu uns sprechen, und nicht von einer ewigen Lyrik der Geburt.“2

Mit diesem Argumentarium, das in seinen „Mythologies“, 1957 erstmals publiziert und nachzulesen ist, legt er den Finger auf einen wunden Punkt: Von den sieben Wundern und Todsünden der Welt zu reden, klingt zwar groß und menschlich, stimmig und wesenhaft zugleich, aber eben auch wie ewige menschliche Lyrik vom mythisch umrankten Gang der Welt. Der Lauf der Zeit entschlackt das gelebte, gebaute, umkämpfte Leben und seine konkrete Geschichte von fast allem, außer den bleibenden ästhetischen Reizen und erlaubt uns die süße Stilisierung von Gegenwart und Vergangenheit. „Arkadien“ wird so schnell mythologisiert und klingt nur noch wie eine weite hügelige Ideallandschaft mit duftenden Pflanzen und Bäumen und erinnert nicht mehr an die Zweiklassen-Gesellschaft von Bürgern und Sklaven und an eine Geschichte voller Kriege und Schlachten. Ein wunder Punkt, auch in vielen Beispielen der Fotografie.

Die flüchtige Wirklichkeit

Wie also leben wir heute? Im Reich der Wunder oder im Reich der Todsünden? Allenfalls in einem Zwischenreich? Konkreter: Was ist das, was, wie, warum, wozu, wohin wir gerade leben? Wir merken alle, dass wir in einer besonderen Zeit leben, einer hektischen, schnellen, energischen Zeit einerseits, einer Gegenwart auch, in der sich Rahmenbedingungen, Grundvoraussetzungen, Lebenspfeiler und damit die Verhältnisse, Qualitäten und Wertigkeiten des Lebens mit ungewöhnlich schneller und grundsätzlicher Taktung verändern. Nicht mehr von Epoche zu Epoche, von Generation zu Generation, sondern im Rhythmus von zehn Jahren, fünf Jahren, manchmal einem Jahr. Paradigmenwechsel reiht sich an Paradigmenwechsel. Zygmunt Bauman, einer der renommierten, einflussreichen Soziologen Europas, hat dafür den Begriff der „flüchtigen Moderne“ geprägt, eine Zeit der Ungewissheit, der Unsicherheit, in der der Alltag vieler Menschen fließend, verschwimmend, eben flüchtig sei, weil stabile gesellschaftliche Formen und Institutionen, stabile „Glaubenssätze“, also ein klarer, verlässlicher Bezugsrahmen für das alltägliche Handeln und für langfristige Lebenspläne fehlten. „Leben in flüchtigen Zeiten bedeutet, mit der Ungewissheit umzugehen – mit der zunehmenden Fluidität der wählbaren Lebensformen und der Dialektik von Angst und Sicherheit, mit dem Wachsen der sozialen Ungleichheit und dem ‚Überflüssigwerden‘, mit der Globalisierung und dem Permanenzstatus des ‚Flüchtlings‘.“3 Der französische Raum-Zeit-Philosoph Paul Virilio sprach früher schon vom Prinzip „Fahren, fahren, fahren …“ (Berlin: Merve Verlag 1978), von der Eroberung der Zeit nach der Eroberung des Raumes.

Kommerzialisierung und Digitalisierung

Die Geschichte der Menschheit ist voller Zeiten der Umbrüche, der Beschleunigung, der Verunsicherung, der radikalen Umwälzung auch. Die Erfindung des Buchdrucks zum Beispiel hat den Gang der Welt in einer Weise beeinflusst – fortan war Wissen teilbar, mitteilbar und nicht mehr einer Elite von vornehmlich geistlichen Denkern vorbehalten –, dass wir uns die Aufklärung ohne diesen technischen Schritt schlicht nicht vorstellen können. Doch seit Mitte, Ende des 20. Jahrhunderts scheint der einst westlich-kapitalistische, heute erdumspannend-kapitalistische Teil der Welt von einer ungeheuerlichen Dynamik getrieben zu sein. Wir kommen im Alltag manchmal kaum noch zum Atmen, leiden am Gefühl, ständig alles zu verpassen, und sind, je nach Alter, kaum mehr in der Lage, die gravierenden Veränderungen der Rahmenbedingungen zu analysieren und nachzuvollziehen. Kunst, Literatur und Philosophie haben ihre große Kraft, ihre Möglichkeiten zur Utopie seit geraumer Zeit zur Seite gelegt und beschäftigen sich fast ausschließlich mit der Diagnose, der Analyse, der Versinnbildlichung der Veränderungen von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und medial-kommunikativen Phänomenen.

Eine Reihe von Schubkräften hat diesen Wirbel, diese Dynamik entfacht. Drei markante Drehkräfte will ich herausgreifen: den Glaubens- und Autoritätsverlust in der Folge der Weltkriege, die Kommerzialisierung und die Digitalisierung. 

Nach dem unfassbaren Schrecken des Zweiten Weltkrieges konnte man nicht weitermachen, als sei nichts geschehen, nicht mit den gleichen Mitteln weiterwerkeln wie bisher – selbst wenn die Gesellschaft, ihre Institutionen, auch die Trägheit in den Menschen mit aller Kraft versuchten, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, sich selbst und die damit verbundenen Wertvorstellungen in alter Form wieder zu installieren und zu festigen. Zu sehr hatten der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen den Einzelnen auf sich selbst zurückgeworfen. Der Glaube an den Staat, an die Institutionen, die Kirche, die verschiedenen moralischen und juristischen Instanzen hatte eine kräftige Erschütterung, das Freud’sche Über-Ich eine tiefe Verstörung erfahren. Die beiden Kriege zusammen trieben das Denken, das Erfahren von Welt und Leben von übergeordneten, „absoluten“ Autoritäten weg in Richtung der Suche nach der eigenen, persönlichen Existenz. Begriffe wie Volk, Nation, Vaterland lösen sich gerade in ihrer erhabenen Einzahl auf. Das Vertrauen in die europäischen Strukturen, in die Pfeiler des Daseins war zusammengebrochen. Der Mensch musste sich selbst neu entwerfen: eine Chance und eine Panik, eine Freiheit und eine Verpflichtung zugleich. „[Der] Mensch ist nichts anderes, als das, wozu er sich macht“,4 schrieb Jean-Paul Sartre damals philosophisch passgenau in Ist der Existenzialismus ein Humanismus? zum Autoritäts- und Sinnverlust nach der Katastrophe.

Der Umgang der Menschen mit den Dingen ist ein guter Gradmesser für die Befindlichkeit, die Wertigkeiten, die gerade herrschen. Die Welt der Dinge, der von Menschenhand geschaffenen und erworbenen Objekte war den Menschen immer etwas zwiespältig. Lange Zeit musste ein Messer genügen, solange das Messer seinen Dienst versah. Im 20. Jahrhundert, besonders im letzten Viertel, wandelte sich unser Verhältnis zu den Dingen fundamental. Die Massenproduktion demokratisierte den Besitz von Gegenständen, machte sie für viele erschwinglich, um den Preis, dass sie nicht mehr gewachsen, keine Unikate mehr sind, ihre Aura vielmehr über den Glanz der Neuheit beziehen. Die Massenproduktion wurde von Anfang an positiv besetzt: Mit neuen klaren funktionalen, von den historisierenden Formen und repräsentativen Inhalten des bürgerlichen 19. Jahrhunderts entschlackten Gegenständen soll die Welt, unser Verhältnis zur Welt verändert werden. Das rasche Wachsen der Wirtschaft, des Wohlstandes, der Kaufkraft des Einzelnen nach dem zweiten Weltkrieg ließen den Kreislauf von Produktion und Konsumption anschwellen, gleichzeitig größer, breiter, wuchtiger und schneller werden. Überraschend schnell veränderte sich die Bedürfniskultur in eine Konsumkultur, in die bekannte Mischung von Konsumrausch und Konsumzwang: Wir dürfen und müssen konsumieren. 

Ein zweiter Verweis auf „The Family of Man“: Diese Ausstellung spiegelte eindringlich ein „humanistisches Bedürfnis“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Edward Steichen, ihr Kurator, wollte eine große Menschenfamilie zeigen, die sich versöhnt und in der alle gleich sind: „We two form a multitude“, „wir zwei“, steht unter dem Bild eines Paares geschrieben, „formen eine Vielzahl.“ Die Ausstellung wurde zur weltweit größten, am längsten gezeigten Fotoausstellung, weil sie perfekt in die Nachkriegsideologie der USA passte. Gesponsert von Coco Cola Overheads, begleitet von monatlich erscheinenden Heften von Coca Cola, unterstützt und massiv gefördert vom USIA, der United States Information Agency, wurde die Ausstellung zur Botschafterin der Weltsicht der USA. Die USIA bezahlte fünf Kopien, damit die Ausstellung jederzeit an fünf Orten der Welt gleichzeitig gezeigt werden konnte. Das Universell-Gute wurde losgelöst von den grössten Kriegen, losgelöst von industriellen Arbeitsbedingungen als eine sonnenscheinige Werbewelt gezeigt. Einige Autoren sehen in dieser Gleichschaltung – wir sind alle gleich, wir sind die anderen –, in dieser Demokratisierung des Menschseins das Terrain für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Die erste Hälfte war noch existenziell, die zweite Hälfte kommerziell. Und diese Welt brauchte eine möglichst die Welt umspannende einheitliche Konsumentengruppe, frei von konsumhinderlichen Wertvorstellungen, Glaubenssätzen. 

Wir stehen heute mitten in der digitalen Welt, und scheinen gleichwohl erst am Anfang grosser Umwälzungen zu stehen. Das Digitale verändert das Wissen, die Produktion und die Kommunikation von Grund auf. Christoph Kucklick untertitelt sein Buch über Die granulare Gesellschaft (2014) mit der lakonisch-beiläufigen Bemerkung „Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst“. Computer rechnen Modelle durch, wofür die Menschheit sonst Tausend Jahre gebraucht hätte, Roboter produzieren ohne Schmerz und Sonderzuschlag rund um die Uhr, in höherer Präzision als die Menschen. Die Wissensaneignung und Kommunikation hat sich fast gänzlich ins Internet verlagert. 3D-Drucker revolutionieren den Zusammenhang Innovation-Produktion-Vertrieb, Algorithmen spalten die Vorstellung von Gleichheit, von gleichen Menschen auf in hochindividuelle, eben granulare Sonderfälle, die von Politikern und Werbern kommunikativ engmaschig und singulär „betreut“ werden. Kucklick analysiert, wie sich unser persönliches Verhalten, die herkömmlichen Formen der Produktion, die Demokratie und die Gesellschaft auflösen und neue Gestalt annehmen werden.

Das Internet steht im indirekten, wenn nicht direkten Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Kriegs. Die vorher oft in militärischen Zusammenhängen benutzten (Waffen-, Camouflage-, Kommunikations-)Technologien, die im Kalten Krieg aufwendig vor den gegnerischen Geheimdiensten versteckt werden mussten, durften nun freigegeben und entsprechend kommerzialisiert werden, was dann auch prompt zu einer riesigen (Börsen)Blase führte. Das massive technologische Wettrüsten des Kalten Krieges wird seither auf dem Markt ausgefochten.

Die Auflösung der „Fotografie“

Die Kommerzialisierung des Internets und die ersten „massentauglichen“ Digitalkameras auf dem Markt entwickelten sich etwa gleichzeitig. Diese unvorhergesehene, überraschend schnelle Entwicklung warf eine Reihe von Fragen auf. Florian Rötzer beschrieb damals in den Neunzigerjahren die Situation so: „Die Fotografie erleidet gegenwärtig das Schicksal aller analogen Medien, deren Eigenständigkeit mit der Integration in den digitalen Code aufgehoben wird. Fotografien oder der Fotoapparat liefern nur noch digitalisierbare Daten, die vom Computer prozessiert und daher beliebig verändert werden können. Die herausragende Eigenschaft der Computertechnik ist die Möglichkeit, alles, was digitalisiert werden kann, verarbeiten, d. h. berechnen, und diesen Datenstrom mit Ausgabegeräten jeder Art verbinden zu können. Diese Eigenschaft des Computers, die ihn zu einer Universalmaschine deswegen werden lässt, da er prinzipiell jede andere Maschine imitieren kann, greift tief in das Verständnis vom Wirklichen ein.“ Und weiter: „Die Täuschung ist das innerste Prinzip der technischen Bilder, deren Realismus stets ein Selbstbetrug. Digitale Fotografie liefert Bilder, die nur noch realistisch erscheinen, in denen alle Arten der Bildproduktion ganz nach Belieben miteinander verschmolzen sein können, in denen auf Teufel komm raus und je nach Geschick manipuliert werden kann: Fotografie als perfekte Malerei eines digitalen Surrealismus, das Bild eine nackte Imaginationsfläche, die der subjektiven Aufzeichnung offensteht. Keine Unterwerfung mehr unter das Objekt, das gegebene Licht, die vorhandenen Farben.“5

Nicht nur die Gesellschaft, die Demokratie, das Verständnis von Gleichheit, sondern auch die Fotografie löst sich auf. Sie wechselt die Natur, wird eine andere, eine Bildermaschine, die Realität noch perfekter als bisher simulieren kann, die wir von nun an stärker als Teil eines großen Medien- und Kommunikationssystems begreifen. Die „humanistische Fotografie“, mit gutem, gut meinendem, absichtsvollem Glauben fast ein Jahrhundert lang unterwegs, scheint ausgespielt zu haben, weil ihr Weltverständnis, ihr Autorenverständnis, ihr mangelndes Systemverständnis sich kaum mehr den sich radikal verändernden, komplexen Gegebenheiten angepasst haben.

[7] Prekäre Felder

[7P] beschäftigt sich weniger mit Wundern und Todsünden als mit einem Zwischenreich, mit [7] prekären, kritischen Feldern der heutigen Gesellschaft, mit Feldern, in denen Vorgänge von großer Tragweite, mit Einfluss auf das persönliche und gesellschaftliche Leben, stattfinden: Die Ausstellung und das Buch widmen sich den folgenden Feldern:

- der (High-Tech) Produktion, Logistik und Migration, den großen Innovations- und Marktkräften, die unser, aber auch das Leben vieler anderer verändert, mit einer großen Wertschöpfung für die einen und dem Gegenstück, der Armut, für die anderen; 

- der Gewalt und Zerstörung, der persönlichen, der verordneten, der gesellschaftlichen Gewalt, und damit einem Feld schmerzlich großer Sünde; 

- der Architektur, dem Urbanen und der Stadt als Investment. Die Immobilie nicht mehr als Haus, als Heim, sondern als konkretisierte, greifbare Investition verstanden. Die Architektur aber auch als politischer Schachzug, als kriegerische Strategie eingesetzt und benutzt;

- der Abstraktion Geld und der Konkretion Gier, dem Feld, das sich in den vergangenen 20 Jahren zum Tummelfeld extremer Verfehlungen, extremer Kriminalität entwickelt hat, meist höchst eigennützig zur persönlichen Bereicherung, zur Distanzierung von den Anderen;

- dem Wissen, der Ordnung und Macht; der persönlichen Suche nach Wissen, der Orientierung in der Welt versus der Produktion von Wissen in der Gesellschaft und der damit verknüpften Machtkonzentration; 

- der Zelebration des Ichs, des Narzissmus und seiner Kehrseite, den Brüchen des Selbst, dem Verlust der Person. Ein Feld menschlicher Eigenschaften, die sich zurzeit in ungewohnter Weise nur noch in eine Richtung entwickelt: in Richtung der Optimierung des eigenen Ichs, der übersteigerten Sicht auf sich selbst;

- der Kommunikation und Kontrolle. Ein heutzutage intensiv diskutiertes Thema, das uns alle betrifft, selbst Frau Merkel. Die Kontrolle von außen und die Kontrolle von innen, durch die detaillierte Aufzeichnung unseres Verhaltens, als seien wir ein Fall. Ein Fall für die Psychiatrie, für die Kriminalistik? Nein, vorerst nur ein Fall für den rauschenden Konsum. 

[7] Prekäre Felder, ausgestellt an [7] verschiedenen Orten, in Ludwigshafen im Wilhelm-Hack-Museum und im Kunstverein Ludwigshafen, in Mannheim im Zephyr, im Port25 und in der Kunsthalle Mannheim, in Heidelberg in der Sammlung Prinzhorn und im Kunstverein Heidelberg. Teilweise durchaus abgestimmt auf die Lokalitäten oder auf die städtische Situation.

Fotografie und System

In der ZEIT vom 3. Juni 2015 stand unter dem Dossier-Titel „Morgen vielleicht – Die Grenzen der menschlichen Natur“ etwas verkürzt und zusammengeschoben dies: „Tote Wale wären gut. Die könnte man beschreiben, fotografieren, das gäbe Bilder. Die Not eines Wals lässt sich leicht beschreiben, die Not eines Systems eher nicht. Hier gibt es nur tiefe Wolken, ein paar Inseln und Wasser. Saures Wasser. Man merkt das nicht, Kohlendioxid ist unsichtbar.“ 1988 verabschiedete die Generalversammlung der UNO die Resolution 43/53, sie hieß: „Der Schutz des globalen Klimas für die heutige und die künftige Menschheit“. Seit sich 1992 in Rio de Janeiro Vertreter fast aller Staaten verpflichteten, „die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, das künftige menschengemachte Störungen des Klimas ausschließt“,6 ist der CO2-Ausstoß um 60 Prozent gestiegen. Im angefügten Gespräch äußerte sich Andreas Ernst, Professor für Umweltpsychologie an der Universität Kassel, zur Frage der Problemlösungskapazität der Menschen: „Der Einzelne kommt aber leichter durchs Leben, wenn er immer glaubt, alles wird gut. Für die Gesellschaft als Ganzes ist diese positive Sicht jedoch nachteilig, weil Probleme oft nicht als solche erkannt werden. Hinzu kommt: Wir sind so strukturiert, dass uns individuelle Probleme, die uns jetzt, in diesem Moment betreffen, wichtiger sind. Da ist dann der Kita-Streik oder der Ärger mit den Arbeitskollegen dringlicher als der Klimawandel.“7

In diesem Zusammenhang wird noch etwas augenscheinlicher, wie wenig doch ewige menschliche Lyrik vom mythisch umrankten Gang der Welt zu prekären, kritischen Feldern der Welt aussagen kann. Zur Ausstellung wurden deshalb Künstler und Künstlerinnen mit fotografischen und videografischen Arbeiten eingeladen, die sich in den jeweiligen Feldern mit großer Intensität, visueller Kraft und einem Sinn für die Systeme der von uns kreierten Realitäten umtun. Und keine schnellen Antworten, dafür ein dichtes visuelles Netz an Informationen, Fragen und Konfrontationen liefern. Das strenge Nummerierungssystem der Ausstellung bietet uns den Schein von Halt, von „Alles in Ordnung“ in einer Welt, in der vieles am Fließen, am Wegrutschen ist. Bisher schauen wir zu, starren auf das Loch, gelähmt, und voller Hoffnung auf ein American Ending, also auf ein Wunder. Ob diesmal Das Prinzip Hoffnung, einst vom Ludwigshafener Philosophen Ernst Bloch in seinem amerikanischen Exil formuliert, wieder tragen wird? Ob uns eine schlaue Erfindung aus der Patsche helfen wird?

1 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 17 f.

2 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 17 f. 

3 Zygmunt Bauman, Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg: Hamburger Edition 2008 [Zitat auf dem Einband]

4 Jean-Paul Sartre, „Der Existentialismus ist ein Humanismus“, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 117–155, hier S. 120 f.

5 Florian Rötzer, „Betrifft: Fotografie“, in: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Fotografie nach der Fotografie, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 13–25, hier S. 21

6 zitiert nach: Andreas Ernst, „Menschheitsprobleme: Unser Gehirn ist nicht mitgewachsen“, Interview von Wolfgang Uchatius, in: DIE ZEIT, Nr. 23, 2015 vom 3. Juni 2015

7 Ebd.