September 2015

[7.1] High-Tech, Logistik & Migration

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Industriefotografie im klassischen Sinn war bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts interessant. Bis dahin bestimmten die Fachkamera, das Stativ, große Scheinwerfer und Blitzanlagen, aufwendige Vorbereitungen und eine ausgeklügelte Retusche-Technik sowohl am Negativ wie am Positiv das auffallend scharfe, präzise Bild der Industrie. In großen Industrien gab es eigene Abteilungen mit Fotografen, Retuscheuren und Lithografen für die Herstellung einer möglichst perfekten fotografischen Kommunikation und Dokumentation.

Im Zuge der Verschlankung der Firmen, der Besitzerwechsel, der schärferen Kostenkontrolle wurde in den vergangenen vier Dekaden die visuelle Geschichte vieler Firmen containerweise weggeworfen und Bildaufträge nach innen an Amateur-Fotoklubs und nach außen an schnell schießende Kleinbildfotografen vergeben. Mit dem Resultat einer sichtbaren Verschlechterung, ja, Verwässerung der Industriefotografie. Das zunehmende Unsichtbarwerden der Produktionswelt als Folge der Technologisierung, der Digitalisierung, und die Verlagerung von Schwerindustrien in entfernte Billiglohnländer verschärfte diese Bild-Situation noch. 

Doch die Industrien produzierten weiter, sie entwickelten sich, verlagerten sich, beschleunigten sich. Sie arbeiten heute mit neuen Werkstoffen, digitalen Steuerungen, roboterunterstützten Produktionsabläufen bis hin zum Einsatz von 3D-Druckern. Parallel zur „kulturellen Revolution“ in der Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre durchlebt die westliche Industriegesellschaft eine andauernde „High-Tech-Revolution“ mit neuen Partnerschaften. „[N]icht die Produktivfaktoren ‚Arbeit‘ und ‚Kapital‘, auch nicht die Produktivität materieller und energetischer Ressourcen oder der Ressource Information schlechthin enthalten den Schlüssel für den sozialen und ökonomischen Strukturwandel, sondern der Produktivfaktor ‚Wissenschaft und Technologie‘“.1 Noch schneller verändert sich die Wirtschaft und Gesellschaft heute durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie, durch das Internet. Die Revolution der Informationstechnologie hat Raum und Zeit neu verbunden und somit das Raum- und Zeitverhältnis der Postindustrie stark verändert. „Past societies [...] were primarily space-bound or time-bound. They were held together by territorially-based political and bureaucratic authorities and/or by history and tradition. Industrialism confirmed space in the nation state while replacing the rhythms and tempo of nature with the pacing of the machine. [...] The computer, the symbol of the information age, thinks in nanoseconds, in thousandths of microseconds. Its conjunction with the new communications technology thus brings in a radically new space-time framework for modern society.“2 (Krishan Kumar)

Während die altbekannte Form der schmutzigen und öligen Fabrik seit den 1980er-Jahren aus Westeuropa zu verschwinden begann, ist ein neuer Typ von Fabrik aufgetaucht: der Showroom. In den Showrooms werden Herstellungsprozesse wie Theaterstücke aufgeführt und dienen als Ausstellungs- und Marketingräume der Unternehmen. Industrieproduktion wird im Westen bewusst ins kulturelle Leben eingeführt. Beispielsweise mit der Gläsernen Manufaktur, die Volkswagen für die Produktion des Phaetons in Dresden errichtet hat. Die Fabrik wird zu einer Mischung aus kulturellem, rituellem und produktivem Ort, sie wird Teil eines neuen Life-Style-Marketings.

Die Visualisierung der neuen technologischen Entwicklung verdanken wir nicht mehr den klassischen Industriefotografen, sondern Künstlern, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Lewis Baltz zum Beispiel hat sehr früh die neuen Technologien fotografiert, bei Toshiba in Japan, im CERN in Genf, in Kraftwerken in Frankreich und anderswo. Im Rückblick hat er diese Bilder zu einer Art von Reigen der technologischen Entwicklung zusammengestellt, die seine zentralen Themen um 1990 – Digitalisierte Produktion und Kommunikation, Kontrolle, Überwachung und Machtdemonstration (in seinen großen 12-Meter-Panoramen Ronde de Nuit, Docile Bodies und Politics of Bacteria) – zusammenfassen. 

Henrik Spohler hat vier große Zeitdokumente geschaffen: mit 0/1 Dataflow, Global Soul, In Between und The Third Day, hat er den digitalen Datenfluss, den Geist globalen Wirtschaftens, die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion und das neue Groß-Thema Logistik, die globale Form einstiger Transporte (mit weit auseinanderliegenden Orten) inhaltlich und atmosphärisch kühl-eindrücklich gefasst.

Lukas Einsele weiß um das Brecht’sche Diktum, „daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in das Funktionale gerutscht.“3 Mit dem Zusatz: „Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas ,Künstliches‘, ,Gestaltetes‘. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.“ Einseles Künstliches, Gestaltetes ist die Visualisierung eines komplexen Netzwerks, das beim Bau, der Finanzierung, beim Vertrieb der Bombe M85, „spielt“, also agiert und sich schrittweise realisiert. 

Allan Sekula/Noël Burch mit ihrem Dokumentarfilm The Forgotten Place und Sharon Lockhart mit ihrem extrem präzisen und extrem verlangsamten Travelling/Zooming durch den Korridor einer Werft, in der die Arbeiter gerade „Lunch break“ haben, thematisieren verschiedene Aspekte des Groß-Kontexts „Ozean“, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der großen Ozean-Transporte, die noch immer, archaisch und containerisiert zugleich, 90 Prozent der weltweiten Tonnenkilometer leisten.

Während aus rußigen, schwarzen Fabrikhallen voller Menschen reinweiße Hallen mit hellem Tageslicht werden, in denen neben Robotern und Produktionsstraßen weit mehr Grünpflanzen als Arbeiter zu sehen sind, während sich also die Fabriken entleeren, füllen sich die Schiffe, Züge und Trampelpfade mit Migranten. Es wäre interessant, Warenströme, Kapitalströme und Migrationsströme präzise miteinander zu vergleichen. Ad van Denderen hat in So Blue, So Blue das Klima der Migration in den 17 Anrainerstaaten des Mittelmeers fotografiert, Jim Goldberg in Open See (und spezifisch im über 600-teiligen Werk Proof) ein Gefühl des Aufbrechens visualisiert, ein Migrieren voller Hoffnung und Verzweiflung, als würde die „Erde“ lebendig, als würde sie sich, träge, langsam in Bewegung setzen. Danach wird die Welt, wird Europa anders sein. 

Mishka Henner und Henk Wildschut schließlich thematisieren die Industrialisierung der Landwirtschaft. Wildschut anhand von Fleisch-Fabriken in Holland, Mishka Henner mittels sich überlagernder scharfer Satellitenbilder, die die Struktur der Fleischproduktion und der Ölförderung in den USA als System in Aufsicht dokumentieren.

1 Rolf Kreibich, „Die Wissensgesellschaft – Thesen zum gegenwärtigen Wandel der Industriegesellschaft“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 6, 1986, S. 334–343, hier S. 335

2 Krishan Kumar, From Post-Industrial to Post-Modern Society: New Theories of the Contemporary World, 2. Aufl., Malden und Oxford: Wiley-Blackwell 2005, S. 37

3 Bertolt Brecht: „Der Dreigroschenprozeß“, in: ders., Werke. Schriften 1, Bd. 21, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 448–510, hier S. 469