September 2015

[7.3] Urbanismus & Real Estate

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Die Architektur ist seit jeher ein großartiger und heftig debattierter Schauplatz von Zeitgeist, Weltanschauung, Alltag und Ästhetik. Sie ist gewagte Materialisierung von privaten und öffentlichen Visionen, Gebrauchskunst und Avantgarde zugleich, und sie ist auch, wie Slavoj Žižek schreibt, Stein gewordene Ideologie. Die Geschichte der von Architekten entworfenen Baukörper ging in der westlichen Welt den Weg vom gedrungenen, rauen, dickwandigen Volumen zum hauchdünnen, glatten, lang- oder hochgestreckten, jedenfalls stark ausgedehnten Körper. Alte Häuser im Engadin zum Beispiel haben oft Mauern mit einer unglaublichen Dicke von ein bis zwei Metern, als müssten sie Erdrutschen, Bergrutschen Widerstand leisten. Stahl-Glasbauten hingegen sind so filigran, dass sich Innen und Außen kaum mehr unterscheiden lassen, dass die Bewohner im Drinnen ein Gefühl vom Draußen haben und die Wohligkeit des Eingebettetseins gegen das Gefühl des Ausgesetztseins eintauschen. Nur noch die Dicke eines Verbundglases trennt die Welten ab. 

Die radikalste Ausdünnung der Baukörper geschieht in der Verbildlichung von Architektur. Der voluminösen Körperlichkeit stehen die (ultraflachen) Bilder dieser Architekturen entgegen. Architekturen sind gedacht, gezeichnet, fantasiert und seit der Erfindung des Mediums endlos fotografiert worden. Die ersten Fotografien waren allesamt Architekturbilder. Architekturen leben ein zweites, ein paralleles Leben durch Bilder. Vor, während und nach ihrer Existenz sprechen Bilder über sie, überformen sie mit Gedanken, Fantasien und Ideologien. Baukörper wurden über die Jahrhunderte immer feingliedriger, bis sie ganz zart, bis sie transparent waren, fast wie ihre Bewohner auch. Doch erst die Bilder entmaterialisieren die Architekturen gänzlich, entziehen ihnen die Stofflichkeit und reduzieren sie auf Form und Zeichen. Oliver Wendell Holmes’ euphorische Forderung zu Beginn der Fotogeschichte, die Welt zu fotografieren, damit wir sie materielos erfahren können, und die Welt danach abzubrennen, wird besonders in der digitalen, virtuellen, in der medialen Welt zu einer Form von „Realität“: Der lange Weg von der Substanz zur Oberfläche, von der Materie zum Zeichen, ist beschritten – auch ohne die Vernichtung der Materie, die für Holmes als letzte Konsequenz anstand.

Das Thema „Urbanismus & Real Estate“ beschäftigt sich mit unterschiedlichen Entwicklungen von Stadtstrukturen heute. Mit rasend schnellen Umwälzungen zum Beispiel, wie der totale Neubau von Peking, der planmäßig angeordnet, die Stadt von einer gewachsenen, traditionellen Einstock-Bauweise flächendeckend in die Profit-Höhe schießen lässt. Ai Weiwei hat die Tabula rasa, diesen Bruch mit der traditionellen Bau- und Lebensstruktur in den Nullerjahren ausführlichst fotografiert und dokumentiert und in Provisional Landscapes Zeugnis von der Ökonomisierung der Stadtlandschaft abgelegt. Dieses Kapitel beschäftigt sich auch mit Immobilien, die weniger die einfache, strukturierende, ordnende Bedeutung „Haus“ erfüllen, dafür sowohl Kapitalinvestition wie Machtsymbol sind und viele Menschen, die daran glauben, in den Abgrund stoßen, weil sie plötzlich nur noch wertloses Papier in den Händen halten. Frank van der Salm und Sylvain Couzinet-Jacques thematisieren den finanziellen, den Investment Aspekt von Architektur und urbanem Raum. Van der Salm von der, wenn man so will, Sicht der Sieger her, die Glas-Stahl-Paläste, Machtsymbole hinstellen, Couzinet-Jacques von den Verlierern her. Er zeigt die Immobilien- und Finanzkrise Spaniens mit der visuellen Metapher des alles (ver-)brennenden Lichts.

Nick Waplington hat mehr als ein Jahr lang in den sogenannt besetzten Gebieten in der West Bank unter Siedlern gelebt und mitverfolgt, wie sich hier individueller Freiheitsdrang mit politischer Strategie mischt, wie Architektur als Waffe eingesetzt wird, wie kein Backstein unpolitisch gedacht werden kann. Architektur, Siedlungen, Häuserriegel, die wie die Avantgarden in der Kriegsführung hierhin oder dorthin gestellt, gebaut werden, damit andere Entwicklungen unterbunden, damit mögliche Gegner geschwächt werden.

Laurence Bonvins Film Sounds of Blikkiesdorp (2014) ist eine feine, ruhige Sozialstudie einer neuen Hometown, einer Blechbarackensiedlung außerhalb von Kapstadt, einer sogenannten „temporary relocating area“, in der sich, trotz der Ärmlichkeit, trotz der Gewalt, trotz der gewaltsamen (auch wegen der Fußballweltmeisterschaft) verordneten Umsiedlung allmählich Leben entwickelt.

Jules Spinatsch fotografiert in Heidelberg die Bahnstadt, ein neues, großes, urbanistisches Projekt: Die Stadt der Zukunft, in der Region. Er realisiert als einziger Künstler im Auftrag des Festivals zu jedem der sieben Themen des Projekts eine neue Panorama-Arbeit. Damit verbindet er die Themen mit der Region Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg, und gleichzeitig bindet er die sieben Kapitel zum Großthema [7P] zusammen. Er verwendet dazu eine computergesteuerte Spiegelreflexkamera, die nach einem programmierten Raster über mehrere Stunden einen Ort, ein Ereignis in Hunderten oder auch Tausenden Einzelaufnahmen im Sekunden- oder auch Minutentakt präzise abtastet. Schließlich werden alle Einzelbilder in chronologischer Reihenfolge zu einem Gesamtbild montiert. Das Besondere an seinem Verfahren ist die widersprüchliche Kombination aus präziser Planung und Zufall: So wird der Raum bruchlos wiedergegeben, setzt er sich aus Abertausenden intentionslosen Zeitfragmenten zusammen. Es sind spekulative Dokumentationen. Nebst dem gesehenen Raum enthalten Spinatsch’ Bilder auch die gelebte, erfahrene Zeit. Das Einzelbild von einem bestimmten Raum wird aufgelöst, in der Zeit gedehnt, und visualisiert dafür zum Schluss eine Essenz von Raum und Zeit, von Raum in einer bestimmten Zeit, von verdichteter, gestundeter Zeit in einem bestimmten Raum.

Zum Schluss das Werk von Hiroko Komatsu, ein begehbarer Bildtempel, eine erkundbare Performance, die mit Bildern gleichsam eine Architektur baut und mit Architektur, im ungeklärten Stadium der Konstruktion oder Dekonstruktion, mit Fabrikanlagen, Werkzeugen, Abfällen eine Atmosphäre des Katastrophischen, Abgründigen, Umbrüchigen erzeugt. Die Installation der Fotografien von Bau- und Konstruktions-Materialien aller Art wird zu einer Art existenziellem, körperlichem, dreidimensionalem Denkraum: zu einer Sanitary Bio-Preservation (2015).