September 2015

[7.5] Wissen, Ordnung, Macht

English Version: [7.5] Knowledge, Order, Power →
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Wissen und Macht bilden in der Theorie des französischen Philosophen Michel Foucault zwei eng miteinander verflochtene Konzepte. Je extensiver und detaillierter unser Wissen, desto größer werden die Möglichkeiten der Kontrolle und damit der Macht. Kontroll- und Disziplinierungstechniken führen seiner Ansicht nach zu immer neuen Formen des Wissens und umgekehrt. Das 19. Jahrhundert entwickelte zahlreiche Programme, um Objekte und Personen zu identifizieren, zu klassifizieren, auszumessen und zu berechnen. Praktiken der Überwachung, Beichte und Dokumentation konstituieren das Individuum als beschreibbares und analysierbares Objekt. Diese Entwicklung hat sich mit neuen Techniken der Beobachtung, der Archivierung, der Sammlung, der Analyse und der Vernetzung von Daten beschleunigt und verschärft. Die Wissensgesellschaft ist die neue Klassengesellschaft, die Digitalisierung der Welt treibt eine Welt der Gleichen unter Gleichen in eine neue Welt von Milliarden von Singulären. 

Ein Beispiel dazu aus dem zweiten Wahlkampf von Obama: Der Chef eines der Datenerhebungsteams, „der erst 29 Jahre alte Daniel Wagner“, hatte sich vorgenommen, „mehr Wissen über die Wähler zusammenzutragen als je zuvor. Und damit meinte er nicht die Durchschnittswerte für bestimmte Gruppen, sondern Wissen über möglichst viele einzelne Wähler. Das gelang mit erschreckender Präzision. […] So geht man davon aus, dass Wagners Datenbank für jeden der 166 Millionen Wähler rund 10 000 bis 20 000 Datenpunkte enthielt: Name, Anschrift, Telefonnummer, frühere Wahlentscheidungen, Antworten in Umfragen, politische Meinungen, Daten über Einkommen und Konsumverhalten, Freunde auf Facebook und Twitter – und etliche Details mehr. […] Aus diesem gewaltigen Datenfundus errechneten Wagners Algorithmen für jeden Wähler mehrere Kennziffern. Einen persuasion score zwischen 1 und 100, der die Wahrscheinlichkeit angab, dass ein Bürger Obama wählt. […] Acht Monate vor der Wahl destillierte Wagner aus der Datenflut 15 Millionen Wähler, auf die sich die Kampagne konzentrieren sollte, weil sie als persuadable galten, als überzeugbar. […] Kein Wahlvolk der Welt ist je so genau vermessen, so präzise aufgelöst worden.“1

Diesem Reich an institutionellem Wissen steht unser eigenes, individuelles Interesse an Wissen gegenüber, das für uns eine sinnvolle Ordnung in unserem Leben im Großkontext Welt schafft. Mit Aufmerksamkeit versuchen wir, die Vermischung der beiden Erkenntnisinteressen zu vermeiden. Doch wie, wenn die Wissensproduktion, Wissensvermittlung heutzutage hauptsächlich übers Internet läuft, das algorithmisch angelegt und ausgewertet wird?

Ilit Azoulay kämpft sich in der Zwischenzone zwischen eigenem und fremden Wissen durch die Ritzen der Welt und ringt mit der Schwierigkeit, für sich selbst ein System des Verstehens, des Wissens aufzubauen, eine Art privater, lebbarer Ordnung in einer fremden Welt. Ihre große, mehrteilige, audiovisuelle Arbeit Shifting Degrees of Certainty, 2014, steht im Zentrum des Raumes, des Kapitels und fragt gleichsam für alle KünstlerInnen und für uns BesucherInnen, wie wir einen bestimmten Grad an Gewissheit, an Festigkeit erreichen können. 

Hans Danuser ist die Vaterfigur in diesem Kapitel. Was heute viele junge Künstler beschäftigt, die Wissensproduktion, hat Hans Danuser in den Achtzigerjahren in der siebenteiligen Großarbeit In Vivo behandelt. Er betrat mit seinen essayistischen Serien zu Goldverarbeitung, Atomkraft, Pathologie, Chirurgie, Ronald Reagans Versuch eines „Kriegs der Sterne“ (Los Alamos), Tierversuchen und Gen-Technologie einige (un-)heimliche Felder der Gesellschaft, Tabuzonen, in denen Wissen, Werte und Macht generiert werden. Wir zeigen hier seine Reihe zur Pathologie und zu Tierversuchen. In beiden Bereichen werden Körper geöffnet, um Wissen über sie zu gewinnen, bei den Tierversuchen werden zusätzlich Eingriffe in vivo, am lebendigen Leib, vorgenommen, um aus den Reaktionen des Körpers Wissen zu generieren. 

Simone Demandt fotografierte verschiedene Labors mit Langzeitbelichtungen. Wir erfahren, erleben in ihren Bildern das Eigenleben der Maschinen, der Geräte während der Nacht, wenn alle Menschen das Labor verlassen haben. Sie belichtet gleichsam die selbsttätige maschinelle Intelligenz, die auch nachts, wenn alles schläft, unablässig weiterarbeitet.

Yann Mingard beschäftigt sich mit Deposit und den vier Unterthemen „Tier“, „Menschen“, „Pflanzen“, „Daten“ einerseits mit der Wissensproduktion in diesen Feldern und andererseits mit dem Versuch der Menschen, sowohl das Wissen wie die Samen und Daten an sicheren Orten in der Arktis oder Antarktis aufzubewahren, für den Zeitpunkt Null nach einem Megagau auf der Erde, für eine Zukunft, in der man die Probleme von heute vielleicht lösen kann. Diese Dokumentation erzählt von der Utopie und vom Wahnsinn zugleich, das Leben komplett planbar und rettbar werden zu lassen. 

Dayanita Singh fotografiert, unablässig fast, seit ein paar Jahren das Indien der Archive. Die Akten häufen, vermehren sich, lagern sich ab, denn Gerichtsfälle beispielsweise dauern in Indien oft Jahre, Jahrzehnte, manchmal ein ganzes Leben lang. Sie wuchern, beginnen das eigene Leben mit einem Teppich von Fragen und Antworten, mit einer Haut von eingebrannten Enttäuschungen, von vergeblichem Warten zu überziehen. Eine Schattenwelt manifestiert sich in ihren Bildern, merkwürdig lebhaft und leblos zugleich, die Unterwelt des Papiers, der Paragrafen, der Akten, der Gesellschaft, blässlich erleuchtet durch das Licht alter Neonröhren. 

Daniel Blaufuks beschäftigt sich in einem großen Projekt mit dem Titel All the memory of the world, part I mit der Fotografie als einem Archiv der Erinnerung, zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Entlang der Beschäftigung mit W. G. Sebald, Georges Perec und Didi Huberman verarbeitet er Fragen über das Verhältnis von Sprache und Bild für die Erinnerung und beschäftigt sich mit der bildlichen Erinnerung an Auschwitz, zum Beispiel mit dem Gegensatz der Bedeutung der großen europäischen Bahnhöfe als Netzwerk der Reisenden, der Bürger einer neuen Freiheit, und der Eisenbahnstrecken und Waggons, die schließlich alle in die Konzentrationslager führten.

Jules Spinatsch hat zum Thema „Wissen, Ordnung, Macht“ im Planetarium in Mannheim fotografiert und da seine computergesteuerte Mehrfachabtastung realisiert. Wir gleiten in diesem Panorama, unter der Kuppel des Planetariums, durch die Entwicklung des Weltalls nach dem Urknall.

1 Christoph Kucklick, Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Berlin: Ullstein 2014, S. 35 f. [Hervorhebungen im Original]