September 2015

[7.6] Ich-Fest und Selbst-Stress

English Version: [7.6] Ego-Fest & Self-Stress →
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Vermutlich wie kaum je zuvor in der Menschheitsgeschichte wird das Individuum gefeiert. Jeder ist sich selbst ein Superstar. Mit Old-Styling wird das Ich real, mit New-Styling wird es virtuell gestaltet, erhöht, geliked, mit vielen Freunden umgeben. Das Erziehungs-Netzwerk lässt uns möglichst frustrationsfrei aufwachsen, die sozialen Netzwerke versprechen dem Ich eine andauernd große Aufmerksamkeit. Das Ich wird gefeiert, getuned, überhöht – so lange, bis es stockt, bis es zweifelt, bis es bricht. Bis reale und imaginäre, innere und äußere Realität auseinanderfallen. Wir leben in einer sehr narzisstischen Welt zurzeit, in der das Gemeinwesen, der Gemeinsinn, die Vorstellung, ein Teil eines Ganzen zu sein, von den Möglichkeiten von „enhanced realities“, von übersteigerter Selbstwahrnehmung im Schweinwerfer von Social Media überstrahlt, überblendet wird. Das Selfie ist dafür ein augenscheinliches Sinnbild.

Ich schrieb vor ein paar Jahren im Kontext von Modefotografie: „Das Prinzip des Modischen, des Kommens und Gehens, des leichtfüßigen Wechsels, des Hochjubelns und Vergessens des inhaltlichen Brechens mit Traditionen bei gleichzeitigem Aufgreifen der Traditionen als bloße Partikel, als frei verfügbare Geruchs-, Stil-, Farb- und Form-Partikel. Darin manifestierte sich die Hybridisierung des Lebens in den neunziger Jahren. Der Modestil ‚Heroin Chic‘ ist vielleicht das anschaulichste Beispiel dafür, oder die Kleider-Marke ‚Sovjet‘. Sie demonstrieren, wie die reale Welt, die Geschichte, die Sucht als Bausteinlager, Materiallager für die Zeichenwelt, für das kommerzielle Branding des sogenannt neuen individuellen Lebens eingesetzt wurde. Der Geschmack von Realität. Individualismus und Identitätsspiele werden in den 1990er Jahren auch deshalb immer wichtiger, weil es quasi kein gemeinsames politisches, historisches, ethisches etc. Projekt mehr gibt; in den Worten des Philosophen Lyotard gibt es in der Postmoderne keine große Erzählung mehr, die trägt, keine Utopie, aber auch keinen wirklichen Feind, selbst die existenziellen Nöte sind für die meisten im Westkontext fast gänzlich verschwunden. Was bleibt ist die Erforschung und das Ausleben des eigenen Selbst, die Selbstverwirklichung, die bestens in die kapitalistische, materialistische Konsum- und Wettbewerbs-Logik passte.“1

Was sich in den Neunzigerjahren andeutete, hat sich in der Zwischenzeit spiralförmig nach oben getrieben. Das Bild ist neuer Identitätsversicherer, neues zentrales Kommunikationstool. Am (Selbst-)Bild misst sich der Rang im „Gefällt mir“-Wettbewerb. Ich kann mir meine Identität auch in einem persönlichen und kulturellen Sinn aus frei flottierenden künstlichen Bildern und anderen Zeichen schier beliebig zusammenstellen und modifizieren. Als Collage aus dezidiert nicht-natürlichen, oft auch scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften und „Oberflächen“. Ich kann (zumindest) im Netz, beziehungsweise im Bild meine Wunschidentität von meiner Alltagsidentität (und auch von meinem Alltagskörper) fast beliebig abkoppeln und in eine neue Online-Narration einbetten. Diese Zeichen-Identitäten beziehen sich wiederum auf andere Zeichen-Identitäten, also auf Bilder und nicht auf Referenten, Körper „in der realen Welt“. Wir bewegen uns also zunehmend im „Imaginären“ (Lacan). Fotografische Bilder sind die wichtigste neue Zeichenform bei der Erschaffung und Modellierung von postmodernen Identitäten. Identitätspolitik, nach dem Krieg noch mit Körpern und an Körpern ausgetragen, wird zu einer neuen „Identitätspolitik“ mit und am Zeichen, am Bild des Körpers, des Seins. Sie wird zum Spiel mit Zeichen. Löst sich derzeit eine früher fast absolut zentrale Identitätswurzel wie die (biologische, nationale, „analoge“) Herkunft im Digitalen wirklich ganz auf? Beziehungsweise: Gibt es eine neue Herkunft und Identität aus und im Digitalen, das heißt im Reproduzieren von Codes und im Zitieren von kulturellen Zeichen aller Art? Gibt es einen verlässlichen Ort oder nur das Schweben, Schwimmen, Gleiten, das bi-polare Hüpfen im Netz der Zeichen-Welt?

Rico Scagliola und Michael Meier entfachen in ihrer Zehnkanal-Video-Audio-Installation Double Extension Beauty Tubes (2008–2010) ein Feuerwerk von Bild-Identitäten. Sie haben zwei, drei Jahre lang mit Jugendlichen, mit Emos, gleichsam gelebt; sie haben sie getroffen, ihre Lokale frequentiert und sind mit ihnen ausgegangen. Die erste Generation, die fast von Geburt an mit digitalen Medien aufgewachsen ist und seit ein paar Jahren mit den Bildwelten im Internet konfrontiert ist. Aus den Tausenden von Fotos und Videos entstand einerseits das Buch Neue Menschen andererseits eben diese eindrückliche Video-Ton-Installation, die sie in der Sammlung Prinzhorn präsentieren und die das Lebensgefühl, die Selbstdarstellungslust dieser Jugendlichen zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügt. 

In Maya Rochats Projekt und Buch Crystal Clear lotet sie, wie im Verlagstext zu lesen ist, „mit symbolisch aufgeladenen, analogen wie digitalen Bildkompositionen die Tiefen der fotografischen Oberfläche aus.“2 Rochat durchsetze ihre Aufnahmen radikal assoziativ mit Selbstgeschriebenem und fremden Bildfragmenten. Als Ausgangspunkt diene dabei immer ihr unmittelbares Umfeld. Porträts von Freunden und Landschaftsaufnahmen verschränken sich in dichten, intimen Bildtexturen, die Rochat wiederum – fast schon militant chirurgisch – ritzt, seziert und erneut verwebt. Das Ritzen, das Sezieren, Aufschneiden, Verletzten ist ein zentrales, durchgängiges Thema bei Rochat. Es wirkt so eindringlich, als gehe mit diesem Bildverfahren auch eine existenzielle Erfahrung einher.

Melanie Bonajos Werk ist zu gleichen Teilen Fotografie und Performance, auch Video und Installation. Bonajo wirkt wie eine Treibende und eine Getriebene zugleich, ihr Werk scheint einem dünnen Lebensfaden zu folgen und sich selbst, das Werk, die Person, die Gegenwart immer wieder infrage zu stellen. Besonders eindrücklich thematisiert sie die Bedingungen des Seins heute, in der Konfrontation mit anderen Menschen, mit sich selbst, mit den mentalen und materiellen Strukturen, die sie umgeben, und mit der „spirituellen Leere“, die unser Leben heute kennzeichnet.

1 Urs Stahel, Absolut Fashion, in: Chic Clicks, Hatje Cantz 2002, o.p.

2 https://www.editionpatrickfrey.com/de/books/crystal-clear-maya-rochat (abgerufen am 31.7.2015)