Mai 2019  /  Anthropocene - Edward Burtynsky. Jennifer Baichwal, Nicolas de Pencier

Adams, Adams, Baltz, Burtynsky – und die Rolle der Landschaft in der nordamerikanischen Fotografie

English Version: Adams, Adams, Baltz, Burtynsky →
installation-views-22.jpg
installation-views-25---kopie.jpg
installation-views-33---kopie.jpg

Um 1970 findet in der Fotografie, besonders in der amerikanischen, ein grosser Wandel statt. Die Rolle der Natur, der Landschaft in der Fotografie beginnt sich radikal zu ändern. Vergleichen wir beispielsweise die Fotografie „The Tetons and the Snake River“, die Ansel Adams 1942 im Grand-Teton-Nationalpark, südlich des Yellowstone-Nationalparks, aufgenommen hat mit „Tract Houses, Colorado Springs“ oder „Pikes Peak Park, Colorado Springs“ von Robert Adams, die eine Fotografie 1968, die andere 1970 aufgenommen, dann erkennen wir auf Anhieb zwei, drei markante Unterschiede. In der Fotografie von Ansel Adams steht der Berg thronend in der Mitte des Bildes, im Fluchtpunkt der Perspektive, daraus entspringt, so suggeriert das Bild, der Snake River, der sich, dem Namen gemäss, dem Betrachter der Fotografie entgegenschlängelt. Das Bild ist dunkel gehalten, bedrohlich düster fast, mit einzelnem Aufblitzen von Licht in den Wolken über dem Berg und einer strahlenden Wasserschneise, die – in einer Schwarzweissfotografie ist dieses Scheinen möglich –, wie glühender Stahl durch die Landschaft fliesst, hellleuchtend, aus dem Dunkeln herausbrechend. Von Zivilisation ist auf dem Bild keine Spur zu sehen. Wir sehen offenbar eine reine, durch das Licht, die Blende, allenfalls mittels Gelb- oder Rotfilter und dann mit Dunkelkammereingriffen romantisch-dramatisierte Landschaft sich vor uns ausbreiten.

Ganz anders die Bilder von Robert Adams. Sie sind nicht zentralperspektivisch aufgebaut, sie rechnen nicht mit einem gefüllten, erfüllten Zentrum, vielmehr laufen die darauf sichtbaren Häuser mehr oder weniger unkontrolliert in die Tiefe und links und rechts über den Bildrand hinaus. Die Bilder sind, im Vergleich zu Anselm Adams, auffallend hell, fast grell gehalten. Wir schauen nicht in eine abgedunkelte, dramatisierte Wetterlage hinein, in der die graphische Gestaltung und das Hell-Dunkel-Spiel unsere Augen und unsere Gemüt, unsere Seele führen, sondern in eine von der Sonne offen ausgeleuchtete, hell erleuchtete Landschaft hinein, in der einzig der Schattenwurf der Häuser – die Aufnahmen entstanden vermutlich um 4 oder 5 Uhr nachmittags – Kontraste schafft und die beiden Fotografien strukturiert. Im Gegensatz zur Leere und Einsamkeit bei Anselm Adams sehen wir bei Robert Adams vor allem Zivilisation. Wir schauen in eine Landschaft, in Natur hinein, in der sich einzelne Häuser, Ansammlungen von Häusern oder ganze Siedlungen über die Ebene ausbreiten, sie besetzen, in Besitz nehmen, wenn man so will.

Wir können uns vorstellen, wie ein Drehen um die eigene Achse, eine 180-Grad-Wende den Blick weg von der möglichst unberührten Natur und hin zu den wachsenden Vorstädte schwenkte, in die wuchernden Ansammlungen von Tracthouses hinein, die die Ebenen überziehen, und wie dieser Schwenk einen Blitz der Erkenntnis ausgelöst hat, die Einsicht nämlich, dass die bisherige, vorherrschende Vorstellung von Natur in der Fotografie vielleicht nicht oder nicht mehr mit der Realität der amerikanischen Landschaft übereinstimmt. Und der gleiche Blitz, um die Szene humorvoll zu betrachten, hätte aus Ansel eben Robert werden lassen, 25 Jahr später. Diese blitzartige Verwandlung hat aber auch das Werk von Lewis Baltz entstehen lassen, oder jenes von Joe Deal, Henry Wessel jr., Frank Gohlke, Stephen Shore und anderen mehr, die wir mit dem Ausstellungsprojekt „New Topographics“ in Verbindung bringen, der Ausstellung, die aus heutiger Sicht ein wahrer Milestone ist, die damals aber nur wenige wahrnahmen und noch weit weniger Besucher attraktiv fanden. Ein wahrer, doppelter Reality-Shift, ein Bruch der Wirklichkeit und ein Sprung ihrer Wahrnehmung fanden in diesen Jahren statt, als sei es den Fotografen und, mit Verzögerung, uns Betrachtern wie Schuppen von den Augen gefallen. Ein Paradigmawechsel. In der Aufarbeitung der Ausstellung, die Britt Salvesen 2009 für das Creative Center of Photography in Tuscon Arizona unternommen hat, führt sie an, wie trocken, wie wenig spannend damals einige der Besucher diese sachliche Fotografie empfunden haben. [1]

Ansel  Adams war einer der letzten grossen, fototechnisch brillanten Heroen einer Landschaftsfotografie, die die Natur in ihren Bildern idealisiert und romantisiert haben, die in den Bildern nicht nur die Natur, sondern weit mehr, das Schöne, das Heilige, ja das Göttliche, wie Estelle Jussim in „Landscape as Photograph“[2] schrieb, fotografiert haben. In ihren Fotografien wandelt sich die Natur zu einem Symbol. Walt Whitman schrieb in seinem berühmten Langgedicht „Leaves of Grass“ unter dem Titel „Give me the Splendid Sun“ um 1865:

GIVE me the splendid silent sun, with all his beams full-dazzling;
 
Give me juicy autumnal fruit, ripe and red from the orchard;
 
Give me a field where the unmow’d grass grows;
 
Give me an arbor, give me the trellis’d grape;
 
Give me fresh corn and wheat—give me serene-moving animals, teaching content;
         5
Give me nights perfectly quiet, as on high plateaus west of the Mississippi, and I looking up at the stars;
 
(…)[3]

 

Whitman war die poetische Stimme für eine Bewegung, die Carlton Watkins, Timothy O'Sullivan, Eadweard Muybridge, William Henry Jackson im 19. Jahrhundert, Edward Steichen, Edward Weston, Anselm Adams, Brett Weston im 20. Jahrhundert als Fotografen – je unterschiedlich – weiterführten. In all ihren Fotografien formierte sich die Vorstellung der amerikanischen Land­schaft als einer grossartigen, unberührten, heiligen, grossgeschriebenen NATUR. Sie wird idealisiert und hochstilisiert zur Verkörperung des Ewigen, Beständigen, Göttlichen, das nur herausgefordert wird durch die eigenen Kräfte, durch Sonne, Regen, Schnee und Sturm. Die Landschaft wird zum unberührten, heiligen Natur-Körper gegenüber dem vermaledeiten, beschmutzten Stadtkörper. Die Psyche des amerikanischen Subjekts schuf sich hier, wenn man so will, eine Fluchtmöglichkeit, ein Refugium des Ursprünglichen, ein Surrogat für das Heilige. Sie erschaute das Göttliche in der natürlichen Natur, und wandte sich gleichzeitig von der wachsenden Industrialisierung, von der schrittweisen Besetzung und der zunehmenden Ausbeutung des Landes ab. Fotografie, dieses vorzüglichste Instrument der Wahrheit, wie sie oft genannt wurde, wurde hier weniger zum Enthüllen bisher verborgener Wahrheiten eingesetzt, vielmehr diente ihr Realismuscharakter als visuelle Beglaubigung poetischer, pantheistischer, konservierender oder auch, wenn man es zuspitzt, politisch-ideologischer „Schönfärbereien“. Sie waren symbolische Erhöhungen, versehen mit der Sanktion des Wahren, weil sie mechanisch-technisch, physikalisch-chemisch hergestellt sind. Die Transzendierung jeglicher realer Wirklichkeit durch und in der Fotografie wird deutlich in den Worten von Ansel Adams: “When words become unclear, I shall focus with photographs. When images become inadequate, I shall be content with silence.”[4]

Lewis Baltz, Robert Adams, Joe Deal, Frank Gohlke und ihre Kollegen[5] haben das Ideal Amerikas, das als karg, leer, immer aber als in-sich-ruhend-schön-und-erfüllt dargestellt worden war, ganz einfach bevölkert. Aus dem heroischen Ich und die Natur wurde ein Wir und der Park und schließlich ein banales Sie und das Vorgärtchen. Wenn es einst ein unberührtes Fleckchen Natur gegeben hat, dann stehen da nun immer schon Einfamilienhäuser oder es liegen ausgefahrene Gummireifen oder anderer Abfall herum, als Zeichen von: Da war doch schon wer, und jemand hat sich hier breit gemacht. Die Landschaft ist zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, vor allem aber besetzt. Die Landschaft ist zum Feld des Ökonomischen geworden: sie wird erobert und kommerzialisiert. Lewis Baltz im Besonderen wendet das neue Landschaftsbild gegen die alte Romantik der Natur und gegen die Romantik des alten Bildverständnisses.

Ein Höhepunkt der Inbesitznahme von Natur, von Landschaft fotografierte Lewis Baltz 1979 in Park City. Die aufwändige Begleitung eines riesigen Bauprojekts, mit dem Ziel, 45 Minuten von Salt Lake City entfernt auf dem verseuchten Grund einer ehemaligen Silberminenstadt eine Gartenstadt, eine Schlafstadt der Wohlhabenden zu errichten, ist die Kulmination seiner scharfen, präzisen Landschafts-Betrachtungen. Park City war ein grossangelegtes Immobilienprojekt, von dem sich die Erbauer satte Gewinne erhofften. Ein Projekt der Art, von dem Baltz sagte, es gehe in keiner Weise mehr darum, etwas für die Menschen zu bauen, im Visier hätten die Bauherren, das Konsortium lediglich den angestrebten Gewinn. 102 Fotografien sind es zum Schluss, nach zwei, drei Jahren Arbeit, geworden. Ein umfassendes und präzises visuelles Forschungsprojekt, im Kleinstformat an die Wand gepinnt, das den Bau dieser gigantischen Mischung, bestehend aus Werbebotschaften von fiktiver Naturromantik und hartem Finanzgeschäft, umkreist, von außen, von den Hügeln her in Supertotalen hinunter die Ebene dokumentiert, um dann Schritt für Schritt dem Lager der Neuzeit näher zu kommen, es einzukreisen, nach einem vorbereiteten, vorgegebenen Raster zu fotografieren, zuerst die Materiallager, dann zunehmend die konkreten Bauabschnitte und zum Schluss die Häuser, das Innere der allmählich entstehenden »Homes«, das innere Versprechen dieser als luxuriöse Bauten angelegten Überbauung. Wie ein Landvermesser ging Baltz dabei vor und notierte zu jeder Fotografie den Standort und die Blickrichtung, zum Beispiel »Park Meadows, Subdivision 2, Lot 64, looking West“. Seine Fotografien im Inneren der Bauten sind voller Ambivalenz: Wir sehen nie genau, ob hier auf- oder abgebaut, errichtet oder abgerissen wird.

In den siebziger und achtziger Jahren dominierte eine Fotografie, die „zeigen will, was da draussen der Fall ist", die ungeschminkt, unromantisch, möglichst neutral und fast wissenschaftlich genau hinschaut. Ihre Bilder sind gewollt kühl gehalten, weil sie sich vom Human­pathos, von jeder Gefühlshaftigkeit absetzen wollen. Sie fotografieren im Zeichen des Konzeptualismus und des Strukturalismus, versuchen also den Strukturen und Morphemen auf die Spur zu kommen, wollen der wuchernden Urbanität Typologisches, Systematisches abzugewinnen, demonstrieren in ihren Fotografien zu gleichen Teilen die Geometrisierung und Ökonomisierung der Natur zu einer grossen Gebrauchs-, zu einer ausufernden Nutzlandschaft. Diese Fotografie konnte, wenn sie wollte, ihre Bildsprache betreffend auf Vorbilder zurückgreifen: auf einige der Fotografen der zwanziger und dreissiger Jahre, auf Eugène Atget zum Beispiel, auf Albert Renger-Patzsch oder auf Walker Evans. Nur die Zeiten und Zeichen hatten sich geändert, die Landschaft wandelte sich insgesamt zu einer grossen, endlichen Peripherie – von der Natur zur Peripherie, von der Prärie zur Peripherie –, und die Fotografie zunehmend zu einem Forschungs- und Rechercheinstrument.

Die vergangenen zwei, drei Jahrzehnte haben die Strukturen von Stadt und Land nochmals gründlich aufgewühlt. Wenn wir schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine starke Dynamisierung, eine „Futurisierung“ der Stadt erkennen, dann sind die Veränderungen, die heute stattfinden, noch viel grundsätzlicher. Nach der Eroberung des Raumes folgte die Eroberung der Zeit  – „Fahren, Fahren, Fahren“ hat Paul Virilio dafür vor einiger Zeit als Begriff geschaffen[6] –, nach der Eroberung der Zeit folgt die Aufhebung des Ortes. Wir sind hier, arbeiten aber für dort und sind online verbunden. Was erstmals mit dem Telefon möglich war, eine ortsungebundene Kommu­nikation zu führen, wurde durch die mobile Kommunikation alltäglich in Wirtschaft und Privatleben. Das Zentrum-Peripherie-Verhältnis erfährt dadurch ebenfalls eine 180-Grad-Drehbewegung, nur eben in die umgekehrte Richtung: Die Zentren entleeren sich, werden umfunktioniert, die Peripherie wird für die Wirtschaft zentral. Peripherie ist plötzlich überall, bis an die Wüste, bis ans Meer, bis an die Berge heran. Sie werden und sind die neuen Investement-Gegenden,  Ökonomieareale, losgelöst von Geschichtlichkeit, Tradition, von Bedeutung und Symbolik durch Gewachsenheit, sind sie rein funktional angelegt. Sie werden eingezont, umgezont, verkauft und verbraucht. Der Umgang mit der Landschaft, die Ausbeutung der Natur, ihre Ökonomisierung und Industrialisierung radikalisiert sich in schnellen Schritten.

Nochmals und aus anderer Perspektive formuliert: Parallel zur „kulturellen Revolution“ in der Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre durchlebt die westliche Industriegesellschaft eine andauernde „High-Tech-Revolution“ mit neuen Partnerschaften. „Nicht die Produktionsfak­toren „Arbeit“ und „Kapital“, auch nicht die Produktivität materieller und energetischer Ressourcen oder der Ressource Information schlechthin enthielten den Schlüssel für den sozialen und ökonomischen Strukturwandel, sondern der Produktivfaktor „Wissenschaft“ und „Technologie“.“[7] Noch schnel­ler verändert sich die Wirtschaft und Gesellschaft durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikations­tech­nologie, durch das Internet. Die Revolution der Informationstechnologie hat Raum und Zeit, Materie und Daten neu verbunden und somit das Raum- und Zeitverhältnis der Postindustrie stark verändert. „Past societies [...] were primarily space-bound or time-bound. They were held together by territorially-based political and bureaucratic authorities and/or by history and tradition. Industrialism confirmed space in the nation state while replacing the rhythms and tempo of nature with the pacing of machine. [...] The computer, the symbol of the information age, thinks in nanoseconds, in thousandths of microseconds. Its conjunction with the new communications technology thus brings in a radically new space-time framework for modern society.“[8]

In diese neue, radikalisierte Weltlage, Wirklichkeitssituation hinein setzt Edward Burtynsky seit Jahren seine Fotografie. In der Zwischenzeit verändern wir Menschen unsere Welt, unsere Umwelt nicht mehr nur lokal, sondern global, wir greifen in einer Heftigkeit und mit einer Geschwindigkeit in unsere natürlichen Ressourcen ein, dass man neu mit dem Begriff „Anthropozän“ operiert. Mit der Vorstellung der vom Menschen geprägten Epoche, und darin mit der Industrialisierung  von 1800-1945 als der ersten Phase, nach dem Zweiten Weltkrieg mit der „Great Accelaration“ als zweiter Phase, der raschen Zunahme der Weltbevölkerung, verbunden mit flächenhafter Versiegelung der Landschaft durch Megastädte, ökonomischer Globalisierung und die Entwicklungen der exzessiven Konsumgesellschaft, und schliesslich mit der Jetztzeit, in dem zunehmend das Bewusstsein hinsichtlich der Folgen dieser Eingriffe in das globale Ökosystem greift.[9] Sahel-Syndrom, Raubbau-Syndrom, Dust-Bowl-Syndrom, Verbrannte-Erde-Syndrom,  Aralsee-Syndrom, Favela-Syndrom, Havarie-Syndrom, Hoher-Schornstein-Syndrom, Müllkippen-Syndrom: das sind einige der Syndrome, der unerwünschten charakteristischen Fehlentwicklungen oder Umweltdegradationsmuster von natürlichen und zivilisatorischen Trends, des sogenannten „grossen Schattenwurfs“, den die Menschheit auf das Ökosystem Erde wirft.[10]

Wie alle Fotografen der heutigen Zeit kämpft auch Edward Burtynsky mit dem Unsichtbarwerden, mit dem Verschwinden von wesentlichen Elementen, vom Spiel von Ursache und Wirkung, in Kabel, Blackboxen, Datenbanken, in Abstraktionen. Seine Strategie muss sich von jener der New Topographics unterscheiden. Die Vorstellung und Realität von „Man altered Landscape“ geht heute so weit, dass man sich nicht mehr mit einer visuellen Feldforschungen den Problemen nähern kann, sondern dass man eine sinfonische Bildwelt erzeugen und präsentieren muss, die mögliche Zuschauer, die die Weltenbürger erschreckt und aufrüttelt und mit quälend schlechtem Gewissen zurücklässt. Dafür bedient sich Burtynsky verschiedener Bildmittel, einer heraldischen Formensprache zum Beispiel, die das Thema visuell dokumentiert und zugleich zum Symbol erhöht. Sehr oft steigt Burtynsky in den Helikopter oder lässt eine Drohne fliegen, damit er die grossen Landschaftsflächen von oben einfangen und zeigen kann, wie eine animierte Landkarte, die die ausgreifende Inbesitznahme der Landschaft wiedergeben kann. Die Landschaften in seinen Fotografien wirken oft wie ausgerollte, ausgewallte Repitilienhaut, in die sich die Benutzung durch den Menschen eingeprägt, eingraviert hat. Wir Menschen scheinen die Haut der Erde umzupflügen, zu tätowieren, die biochemische Balance von Boden und Luft schrittweise, schubweise, explosionsweise zuweilen aus der Bahn zu werfen. Diesen sich überkreuzenden, zum umfassenden Netz sich verdichtenden und ausbreitenden Eingriffen in die Natur setzt Burtynsky seine Bildwucht, seine Konzentration auf Symmetrien, Kreise, Gitter, geometrisch scharf gezogene Linien entgegen. Er entfacht ein Crescendo an Farben und Formen, an Bildgrössen, das zusammen mit den Filmelementen von Nick de Pencier und Jennifer Baichwal – ihren sorgfältigen Blickwinkeln, Schnitten, verbunden mit eindringlicher, saugender Slowmotion – Bildbänder, Bildräume vor uns Zuschauern aufzieht, denen wir uns, wie in Beethovens 5. Sinfonie,  nicht entziehen können. Bildräume, die das Innen und Aussen, Hier und Dort, Jenseits und Diesseits verschmelzen lassen, so dass wir selbst gedanklich aufgewühlt zurückbleiben. Um die Wirkung noch zu verstärken, operieren sie mit dem starken Gegensatz zu den Wundern, den Ursprüngen, der unbeschreiblichen Schönheit der Natur und mit der durch AR, durch Augmented Reality-Technik, wiederauferstehende verlorene Welt, zum Beispiel der als Zeichen gegen die Wilderer verbrannten Stosszähne von Elefanten.

Wie gesagt: All diese Ereignisse, Einflüsse, Eingriffe, Umwandlungen, Prägungen bezeichnet die wissenschaftliche und politische Diskussion mit dem Begriff des „Anthropozän“ und meint damit, dass wir nach der Epoche des Holozän in eine Epoche eingetreten sind – sie zeitlich eben gerade erst betreten haben –, in der die Menschen die Erde in einer Weise verändern, prägen, Arten aussterben lassen, die Nahrungskette mit Mikroplastik, Materie und Luft mit dem Niederschlag von radioaktiven Teilchen in einer Art und Weise, in einer Heftigkeit verseuchen, „consuming the planet to excess“[11], wie es sonst nur geologische Umwälzungen über Jahrtausende, Jahrhundertausende, Jahrmillionen imstande waren zu tun.

Mit der wichtigen Einschränkung, dass es nicht wertneutral „die Menschen“ sind, die diese Ausbeutung und Vernichtung vorantreiben, „Nicht der Mensch oder die Menschheit sind zu einer erdgeschichtlichen Kraft geworden, sondern ganz konkrete Menschen, die sich bisher in den Sozial- und Wirtschaftsökonomien der OECD-Welt eingerichtet haben und „eine Art globale Sippenhaftung aller Menschen für Probleme wie den Klimawandel verhängen, die in Wahrheit von einer Minderheit im kapitalistischen Westen verursacht werden.“[12] Das Anthropozän sei, so sagen die Kritiker des Begriffs, ein Ergebnis des Handelns machtvoller Akteure einer globalen Ökonomie und Politik sowohl des „alten“ wie des  „neuen“ Imperialismus.“[13]

Der Begriff ist diskutabel[14], die Folgen der Eingriffe jedoch nicht. Fotografische, künstlerische, schriftstellerische, kulturelle Arbeiten sind nebst Zahlen und Berichten heute zentral im Vergegenwärtigen, Veranschaulichen, im visuellen Debattieren in dieser schwierigen Situation. Nick de Pencier, Jennifer Baichwal und Edward Burtynsky leisten in diesem Feld eine enorm wichtige Arbeit. Die Landschaft hat ihre Unschuld, die ihr zugeschriebene Heiligkeit verloren, unser Handeln, unsere Ausbeutung auf der anderen Seite hat jegliches bisher vorstellbare Mass gesprengt.


 



[1] Der bis 2012 amtierende Direktor des George Eastman House, Anthony Bannon, damals Filmemacher und Journalist bei den Buffalo News, erinnert sich, die Schau "langweilig" gefunden zu haben. So zitiert ihn Alison Nordström in ihrem Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von "New Topographics" in dem von Britt Salvesen, der Direktorin des Center for Creative Photography an der University of Arizona, verantworteten und bei Steidl erschienenen Katalog zur Ausstellungsrekonstruktion. Der Landschaftsfotograf Mark Klett, damals im Visual Studies Workshop in Rochester eingeschrieben, fand die Fotos "absichtlich langweilig" und er mochte nicht, wie sich die Fotografen von ihren Motiven distanzierten, also kühl wirkten. Das der Schau zugrunde liegende Konzept der Objektivität sah er nicht eingelöst. Siehe: Britt Salvesen: New Topographics, Göttingen 2009
[2] Siehe Estelle Jussim/Elizabeth Lindquist-Cock: Landscape as Photograph. Yale University Press 1985
[3] Zit. nach Walt Whitman Archive: https://whitmanarchive.org/published/LG/1867/poems/184
[4] In: AB bookman's weekly: for the specialist book world. (1985) Vol 76, Nr. 19-27; p. 3326
[5] Siehe: Britt Salvesen: New Topographics, Steidl Göttingen 2009
[6] Paul Virlio: Fahren, Fahren, Fahren, Merve Verlag Leipzig, 1978
[7] Rolf Kreibich: Die Wissensgesellschaft, Köln 1986
[8] Krishan Kumar, From post-industrial to post-modern society. New theories of the contemporary world. Malden MA: Blackwell, 2005
[9] Hans Gebhardt: Das „Anthropozän“ – zur Konjunktur eines Begriffs, in HDJBO 2016, Artikel 3, Band 1, S, 28
[10] Gebhardt, ebenda, S. 33- 34
[11] John Urry: Consuming the Plate to Excess, in. Theory, Culture & Society 2010 (SAGE, Los Angeles, London, New Delhi, and Singapore), Vol. 27(2–3): 191–212
[12] Schwägerl, C. & Leinfelder, R. (2014): Die menschengemachte Erde. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 5 (2), S. 233–240.
[13] Harvey, D., The new imperialism. Oxford University Press. Oxford 2003
[14] Diskussion des Begriffs siehe auch Jürgen Manemann: Kritik des Anthropozäns – Plädoyer für eine neue Humanökologie. Transcript, Bielefeld 2014. Manemann, Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, diskutiert darin das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt: „Der Mensch formt die Natur. Das ist der Kern der Anthropozän‑These.“ Er kritisiert die Extropianer und Transhumantisten, für die es gelte, die „Menschheit zu überwinden“, und formuliert, dass die gegenwärtigen Herausforderungen pragmatischer, praktischer, gar politisch greifbarer sein könne, dass wir der Welt demütiger begegnen sollten.