2002  /  Chic Chlicks

Absolut Fashion

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Fashion ist alles. Das Prinzip des Modischen, des Kommens und Gehens, des leichtfüssigen Wechsels, des Hochjubelns und Vergessens, des inhaltlichen Brechens mit Traditionen bei gleichzeitigem Aufgreifen der Traditionen als blosse Partikel, als frei verfügbare Geruchs-, Stil-, Farb- und Form-Partikel. Dieses Prinzip eines dynamisierten modernen Umgangs mit Kern und Oberfläche hat zahlreiche Lebensbereiche, hat vielleicht das gesamte gesellschaftliche Leben ergriffen. Dazu zählen auch die Freude am Ephemeren, am Augenblick, die Lust an der Hülle, die Konzentration auf die Erscheinung, die Animation – dagegen ein Gefühl der Langeweile gegenüber dem einfachen Sein, der Basis, der Grundlagen(-forschung). Könnten Luftballone schlank, ja hager, mager sein, gäben sie das Idealbild für ein modisches Verhalten ab. Heisse, bewegte, aufsteigende Luft verhilft der Hülle zu einem schönen, attraktiven, präsenten Aussehen, haucht dem Ballon Existenz ein. Und mit dieser Hülle schweben wir eine Zeit lang leicht und luftig über der Erde, über dem Boden, über der Substanz, sehen sie aus der Ferne, verlieren sie aus den Augen, doch bald einmal geht ihr die Luft aus. Der Ballon sinkt, sackt für kurze Zeit auf den Boden ab, um mit neuer heisser Luft und anderem Kleid wieder aufzusteigen. Nur heisse Luft, aber dieses "Nur" ist so zauberhaft parfümiert, weht uns frisch ums Gesicht, berührt uns zärtlich, entführt uns in Träume, verändert die Schwere des Alltags in feinstoffliche Hochgefühle. Dieses "Nur" trägt zarte oder starke, bunte oder einfarbige Farben, streicht über den Körper wie frischer Wind, fliesst an ihm runter wie Quellwasser, erhitzt ihn wie Feuer. Einzig die Erde, den Boden scheut es wie den Teufel. Das "Nur" verwandelt sich in meinem Reden hier, verliert das Einschränkende, das Abschätzige, verliert die Position im Satzgefüge, im streng gebauten Argument, und wird selbst zu einem zauberhaften Partikel, zum neuen Label eines Lebensgefühls. "Nur": ein Label auf Zeit.

Das Modische verwandelt laufend unseren Aggregatzustand. Das Prinzip des schnellen, diskontinuierlichen Wechsels, des Hüpfens, und das Prinzip des Drängens an die Oberfläche – die Substanz drängt an die Oberfläche, manifestiert, pulverisiert und verliert sich da – nistet sich heute überall ein. Die Wortkette von verpflichtender Berufung zum verantwortungsvollen Beruf zum gut bezahlten Job macht das ebenso anschaulich wie die Börsenkurse: Sie sind die totale Abstraktion der eigentlichen Substanz und werden für die Sache selbst genommen. Die Kurve war ja auch eine Weile lang sehr sexy. Und um sexy zu bleiben, ging man ans Eingemachte, an die Substanz. Selbst Freundschaften, Ehebündnisse scheinen zunehmend eben diesem Prinzip zu gehorchen (sie vertrauen auf Elemente wie "hochgewachsen", "Sixpack", "Grösse 34"). Ein Prinzip, das bei der Küche, die heute asian-cuban, caribian-italian, alles-mit-allem sein kann, seinen sichtbaren, schmackhaften Anfang in der 'postmodernen' oder 'multikulturellen' kalifornischen Küche der Endachtzigerjahre nahm (zwei Begriffe, die nun wirklich démodé sind).

Fashion is more – als nur Kleidung. Fashion is all – ergreift alles, reisst alles mit, wird Lebenshaltung, Lebensstruktur: Absolut Fashion. Diese Totalisierung ist auch in der umgekehrten Richtung bestimmend. Die Mode und ihr Transportmittel, die Modefotografie, finden ihre Stimuli überall. Die gesamte Welt – die ganze Vielfalt ihrer natürlichen und kulturellen Erzeugnisse, ihre Traditionen, Hochkünste, Meisterwerke, ihr Zunft- und Handwerksbereich, ihre Strassenerzeugnisse, Strassenarbeiter, Clochards, genauso ihre Gefangenenkleidung wie das Tuch ihrer Flaggen, genauso die Verspieltheit der Spitzen wie das Hard Edge der Zeichen von Verkehrsschildern –, jedes Weltereignis und jede Kunstform versteht die Mode als Materialfundus, als Formenkatalog und als Farbpalette, und sie bedient sich darin wiederkehrend wie an einem Buffet, pickt heute dieses raus, pickt morgen ein anderes raus, nicht einen einfachen Schachzug, sondern mindestens einen Rösselsprung weit vom Vortag entfernt, und erklärt das Gepickte zum Absoluten, zum Muss, zum Massstab – eine Viertelsaison lang. Göttlich im Viertelstundentakt. Absolut Fashion und Fashion total. Diesem Prinzip wird auch die Hülle selbst unterworfen: Nicht mehr das Kleid an sich zählt, sondern sein Markenzeichen. Das Label als zeitgenössisches, luftiges Brandzeichen. Und auch die Labels erscheinen und tauchen ab, kommen und vergehen wie die Jahreszeiten.

Das Prinzip hat von der Vorlage, den Kleidern, auch auf den Körper durchgeschlagen, ist über das Schnittmuster Schicht um Schicht tiefer gerutscht: Selbst der Körper unterliegt heute den Rhythmen modischer Strömungen, wird an der Oberfläche und in der Tiefe als zeitgebundene Fantasiefolie begriffen – und entsprechend aufwendig und kostbar behandelt, bearbeitet.

Diese Hybridisierung von Substanz und Flüchtigem, von Kern und Oberfläche schlägt sich auf die Bildsprache nieder. Die sonst deutlich unterscheidbaren Bildwelten der Mode und des Alltags, der realen Wirklichkeit – unterscheidbar waren sie, unabhängig vom Stil der Mode und der Sprache der Modefotografie, jederzeit durch die Eleganz, die Stilisierung – verschmelzen seit den neunziger Jahren rasch. In dem Masse wohl auch, wie sich das einstige Diktat von oben nach unten, von Haut Couture zu Streetwear, allmählich umkehrt, wie die Strasse die Trends zu bestimmen beginnt, nähert sich die Modefotografie der dokumentarischen Fotografie an, wird sie reportagehaft, gibt sich den Anschein von Authentizität: Wolfgang Tillmans, Juergen Teller und Terry Richardson sind Beispiele dafür. Die Mode inszeniert Authentizität, kreiert 'Einblicke' in szenische Authentizität, in authentische Szenen. Diese Entwicklung ist sichtbar angereizt worden durch Arbeiten von Nan Goldin, Mike Morissroe oder von Jack Pierson, von der Bostoner Schule insgesamt. Sie standen Paten für die radikale 'Naturalisierung' der Modefotografie der neunziger Jahre. Gelangweilt vom ewigen Glamour wandte sich die Modefotografie realistischen Fiktionen zu. "Unplugged" hatten die Bilder zu sein. Die theatralische Modewelt vereinnahmt da die Bildsprache des Alltags bestimmter Menschen, Szenen und theatralisiert ihn dadurch, unterwirft auch ihn dem Prinzip des Modischen. Der letzte Hort des Wahren und Echten – die Authentizität im Alltag, in der Kunst, in der Sprache – verwandelt sich zur modischen Ware. "Grunge" und "Heroin Chic" heissen die zentralen Bildsprache-Episoden der neunziger Jahre.

Ausdruck der Verschmelzung vieler, ja aller Bereiche ist der Art Buyer, der neue Berufszweig der neunziger Jahre, der als Frischzellenkur geschaffen wurde, um die Bildwelten von Werbung und Mode aufzumischen und die Fusion der Kunst mit der Mode zu beschleunigen. Ausgeübt wird er meist von modelähnlichen Frauen, die beauftragt sind, nicht die Ware, das Objekt 'Kunst', sondern ihre immateriellen, vervielfältigbaren Bildwelten einzukaufen: Einkaufen von Kunst meint einkaufen von neuartigem, echtem Geruch, von Radikalität für die Zwecke der Mode, der Werbung. Die Mode beauftragt schliesslich Künstler, für sie zu arbeiten: Philip-Lorca diCorcia, Duane Michals, Nan Goldin, Martin Parr, Robert Frank, Hannah Starkey oder Wolfgang Tillmanns sind einige Beispiele Ende der neunziger Jahre, die Aufträge ausgeführt haben. Zur Eröffnung der Tate Modern wurden sechs "fashionable artists" von der britischen Vogue beauftragt, mit Kate Moss' Kopf und Körper ein Kunstwerk herzustellen. Fusion total, Highgloss-Amalgamisierung. In der Regel aber kopieren die Modefotografen oft die Bildwelten der Kunst, adaptieren sie für ihr Reich, so wie H&M die Schnitte der führenden Modemacher kopiert und in sechs Wochen, so heisst es, Kopien davon in den Laden wirft.

Doch ganz so einseitig ist der Fluss nicht mehr. In umgekehrter Richtung befruchtet die Mode immer wieder die Kunstwelt. Sylvie Fleurys Arbeiten zeugen von dieser Befruchtung. Die Identitäts- und Genderdiskussionen der neunziger Jahre (in den siebziger Jahren haben sie begonnen) führen zu Arbeiten, die sich mit der Aufsplitterung des Ichs in viele Identitäten befassen, die das Ephemere als Bild dafür brauchen, als Antibild zum Substanzbegriff. Die Auflösung der Authentizität und damit auch der Identität, der Vorstellung einer geschlossenen, gefestigten Einheit mit geformtem Kern als Persönlichkeitsbild, prägen die Themen der neunziger Jahre. Das Modische ist dabei strukturelles Vorbild. Die "Filmstills" von Cindy Sherman oder die Arbeiten von Ugo Rondinone, die den Titel " I don't live here anymore" tragen, veranschaulichen die Auflösung jeglicher Identitäten in eine Vielzahl von Identitäten. Das Sein pulverisiert sich in temporären Erscheinungsweisen, gibt sich als medial, als modisch bestimmt zu erkennen.

"Grunge" und "Heroin Chic" sind als Bildatmosphäre wieder out, vorbei. Die Jetztzeit der Modefotografie lebt unter anderem von der Liaison mit der Pornographie, mit der Cyberästhetik, mit dem Konzeptuellen der siebziger Jahre und mit Tableaus von kontrolliert Unheimlichem. Dieser letzte Zweig ist besonders auffällig, und er geschieht in Totalfusion mit der Kunst. Vergegenwärtigen wir uns die Bildwelten der Gregory Crewdson-Schule in Yale, die mit ihren einstigen Studentinnen Anna Gaskell, Dana Hoey, Malerie Marder, Katy Grannan und anderen mehr die amerikanische Kunstszene seit vier, fünf Jahren erobert, so finden wir dieses feine Spiel mit dem Unheimlichen parallel in den Kampagnen der Modelabels, zum Beispiel bei Jil Sander. Das Stichwort, das alle diese Arbeiten berührt, ist Ambiguität, ein Übergangszustand, der keine Sicherheit vermittelt, sondern uns floaten und treiben lässt. Mal geniessen wir diesen Zustand, mal ist er uns unheimlich. Ausweichen können wir diesem auch gesellschaftlichen Zustand nicht, auch dann nicht, wenn wir uns in einer Festung verschanzen. Das Unheimliche manifestiert sich heute nicht mehr, wie im Märchen, im tiefen, dunklen Wald, es ist an jeder Ecke des Alltags anzutreffen, es ist vor uns, in uns selbst, in der Unsicherheit über den eigenen Körper, es ist das eigene Denken, in der unsicheren Begegnung mit der sich rasend verändernden Welt, den schlagartig sich ändernden Rahmen-Bedingungen. Diese Kritizität des innern und äusseren Zustands wirkt unheimlich – und genau dieses Spannungspotential greift auch die Modefotografie in der heutigen Zeit auf, in einer meist wieder sehr feinen, delikaten, distinguierten Sprache, in einer Art von reduziertem, elegantem Alltags-Surrealismus.

Modefotografie lässt sich in diesem Sinne als viele verschiedene kleintheatralische Bühnen verstehen, auf denen sich unterschiedlichste Szenen abspielen, die mit einzelnen Nerven seismographisch mit dem Grundton des Wirklichen verbunden sind. Und jede dieser Bühnen schreit laut und ganz sicher auf. Scheinwerfer auf sie, Trommelwirbel: jetzt, absolut. Dann Stille, nichts mehr. Nur leises Geschrei von einer entfernteren Bühne ... Untiefe Zeit von höchster Bedeutung.