Ai Weiwei ist bekannt geworden als Architekt, Bildhauer, Installateur und als eine Art Moderator, der 1001 Chinesen und Chinesinnen nach Kassel an die Documenta 12 brachte. In den letzten vier, fünf Jahren war zu verfolgen, wie er sich bloggend, twitternd, vernetzend, verflechtend allmählich zu einer künstlerisch-politischen Stimme gewandelt hat, die versucht, die Missstände im eigenen Land beim Namen zu nennen – direkt, ungeschönt –, und deshalb zunehmend von den chinesischen Behörden überwacht und jetzt Anfang April verhaftet worden ist. Wir wissen aber weniger, dass Ai Weiwei seit mehr als zwei Dekaden unablässig, manchmal fast spielerisch-manisch fotografiert hat. Dass das fotografische Dokumentieren alle seine Handlungen begleitet, so eng wie ein treuer Hund oder, passender, wie die um alles herumstreunenden Katzen in seinem Studio.
Seit seiner Rückkehr aus New York Anfang der 1990er-Jahre erlebt Ai Weiwei, wie Peking in unglaublicher Geschwindigkeit verändert, verwandelt, in seinen Grundzügen umstrukturiert wird. In wenigen Jahren entstand aus einer vornehmlich einstöckig gebauten, wenig motorisierten Stadt eine Art Los Angeles des Ostens, mit mehrspurigen Autobahnen statt Fahrrädern, mit high-rising buildings und Business-Komplexen. Die Geschwindigkeit der Gentrifizierung ist schwindelerregend. Seit 1949 gehört alles Land dem Staat. Das erlaubt es, ohne komplexe Verhandlungen auf grossen Landstrichen alle Gebäude, vor allem die traditionellen Hutongs – meist einstöckige Gebäude in engen Gassen – niederzureissen, dem Erdboden gleichzumachen, um die freien Flächen, Brachen möglichst schnell und flächendeckend neu zu überbauen.
Ai Weiwei dokumentierte diesen architektonischen Kahlschlag von 2002 bis 2008, er fotografierte die «provisorischen Landschaften», die dabei auf Zeit entstehen. Als Dokument eines zentralstaatlichen Wahnsinns, der kaum Rücksicht nimmt auf die Geschichte und Kultur des Landes. Kahlschlag und dann Neubau, darunter auch Bauten wie der T3, der Terminal drei des Pekinger Flughafens, oder wie das Bird’s Nest, das Olympiastadion von Herzog & de Meuron, an dessen Entwurf und Kontextualisierung Ai Weiwei beteiligt gewesen ist, die sich zu neuen Monumenten, zu Prestigeobjekten entwickeln. Seine Suche nach den Namen der beim Erdbeben von Sichuan getöteten Schulkinder, die wegen unsicher gebauter Schulhäuser verschüttet worden waren, zeigt seinen Wunsch nach dem Festhalten und Dokumentieren genauso wie später nach Aufklärung und Erinnerung; sie dient im Fall des Erdbebens auch der Wiederherstellung minimaler Würde jedes Einzelnen durch die Nennung des Namens. Seine fotografischen Dokumentationen funktionieren als Benennung, als Chronik, als archivierte Gegenwart. Sie sollen die Bruchstellen festhalten, die Sollstellen, den radikalen Wechsel aus der Tradition in die Zukunft.
«Passives» Dokumentieren steht auf der einen, aktives Stellungnehmen, Provozieren auf der anderen Seite. Ai Weiweis damalige Assistentin/Freundin und heutige Frau Lu Qing schürzt in der Fotografie June 1994 zum fünften Jahrestag des Massakers auf dem Tian’anmen-Platz kokett ihren Rock und demonstriert frivol uns und dem unbekannten Betrachter im Bild ihren Slip. Ai Weiwei wiederum streckt den Mittelfinger aus erhobener Faust (den sogenannten Stinkefinger) über den ganzen Tian’anmen-Platz in Richtung Tor des himmlischen Friedens. Gesten des Protestes, des Widerstandes, der Koketterie. Daraus wurde eine grosse Serie von Fotografien, in denen Ai Weiwei immer den gleichen dicken mittleren Finger erhebt: gegen den Eiffelturm, das Weisse Haus, die Wüste Gobi, das eigene Studio. Study of Perspective nennt sich die Serie trocken und erinnert damit auch an das Schätzen der Entfernung mit dem ausgestreckten Arm. (Man streckt einen Arm vor, macht eine Faust und stellt den Daumen auf. Dann peilt man mit dem einen Auge über den Daumen sein Ziel an, danach mit dem anderen Auge. Der Daumen «springt» dadurch horizontal. Diese Sprungdistanz schätzt man und erhält, multipliziert mit dem Faktor zehn, die ungefähre Distanz zum Ziel.) Die provokative Geste wandelt sich so zur Positions-, zur eigenen Standortbestimmung. Hier bin ich. Von da nach da will ich. Das ist meine Position. Die Bilder werden zur Metapher der Spannung zwischen gesellschaftlicher Macht und individuellem Freiraum, ein Vermessen der Möglichkeiten, ein Austesten des Spielraums, ein Eindringen einer neuen Perspektive nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus. Ein Thema, das Ai Weiwei bis heute wiederholt beschäftigt. Der Einzelne und die Masse, der einzeln bemalte Keramik-Sonnenblumenkern und das Feld. Ais Bett aus Millionen von Sonnenblumenkernen thematisiert in minimalistischer Anordnung und Erscheinung dieses besonders für China zentrale Thema.
Ai Weiwei verfolgt die konzeptualistisch-aufklärerische Linie, dass das Werk weniger wichtig ist als seine Idee und der Weg dahin, als die Möglichkeiten, die sich durch eine Anordnung ergeben können. Er lenkt sich und seine Kunst zudem in eine Situation hinein, in der das Kommunizieren selbst zum performativen künstlerischen Akt wird. Ai Weiwei argumentiert, dass wir in einer Welt leben, in der zwar unendlich viel Information akkumuliert, aber nicht zwingend verarbeitet und griffbereit im Gedächtnis abgelegt wird. Seine täglichen Interviews, sein Bloggen von 2005 bis 2009, sein Highspeed-Twittern bis zu seiner Verhaftung erzeugen einen Fluss an Kommunikation, an Sendungen und Gegensendungen, an Aussage und Widerspruch. Aus der Grundhaltung des Künstlers als Mentor, als Medium, als kommunikative Schaltstelle bietet sich die Fotografie als ein wichtiges Notiz-, Aufzeichnungs- und Kommunikationsinstrument an. Fotografieren sei wie Zeichnen, wie Sich-eine-Notiz-Machen, wie Atmen, es werde Teil von einem selbst, äusserte er sich dazu. So ungeteilt ist seine Begeisterung für das Medium aber nicht immer. In Blogs kommentierte er durchaus kritisch: «Fotografie ist ein trügerisches und gefährliches Medium. Und Medium ist Methode, ist Bedeutung, ein allgegenwärtiges Fest der Hoffnung, oft auch ein hoffnungslos unüberwindbarer Graben. Letztlich kann Fotografie die Realität weder aufzeichnen noch ausdrücken. Sie verwirft das Authentische der Realität, die sie repräsentiert, und rückt diese Realität nur noch weiter weg von uns.» Dennoch, sie wird immer stärker ein zentrales, unerlässliches Hilfsmittel, ein Werkzeug «mit einer bestimmten Beweglichkeit» für ihn, neben dem mündlichen Kommunizieren und dem Schreiben, das er, wie er sagt, am allerliebsten tut.
Die Klammer seiner bisherigen Fotografie bilden zwei grosse Werkblöcke: einerseits die journalartigen Fotografien aus New York, andererseits seine Blog- und Handyfotografie der letzten Jahre. Beide Werkblöcke wirken wie ein social networking mittels tagebuchartiger Fotografie. Im Unterschied zu den Blogfotografien wurden die New-York-Fotografien jedoch erst Jahre nach der Rückkehr Ai Weiweis nach Peking überhaupt erst entwickelt. Diese Fotografie kommunizierte also nicht unmittelbar, sie ist vielmehr direkt zum Archiv einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Lebens, einer Community geworden, in der sich Ai Weiwei als exilierter junger Künstler zwischen 1981 und 1993 bewegte. Sie ist schwarz-weiss wie anfänglich auch viele der Blogfotografien, aber noch analog und mit Bewusstsein für Ruhe und fotografische Gestaltung aufgenommen. Die Blogfotografien hingegen, meist digital erzeugt, wurden oft gleich «stapelweise» online gestellt und zugänglich gemacht. Ai Weiwei verwandelt mit ihnen und mit den farbigen Handy-Klicks seine Fotografie in einen neuartigen fotokinematografischen Fluss, der sich wie ein Tatzelwurm durchs World Wide Web zieht. Er schiesst oft nicht ein einzelnes Foto einer Szene, sondern zwanzig, vierzig, sechzig Fotografien derselben Szene hintereinander. Wir verfolgen also zum Beispiel minutiös, wie Ai Weiwei einem Freund, einem Gast oder einer Assistentin «kunstvoll» die Haare schneidet. Ein performatives Stück Alltagsleben in Caochangdi, dem neuen Künstlerviertel in Peking. Wir verfolgen in diesen Bildern die reale und die Kunstfigur Ai Weiwei in ihrem permanenten Wirken.
Kunst ist für Ai Weiwei ein geistiges Werkzeug, sich zu ändern, Situationen zu ändern, Verkrustungen abzubauen und Felder, Möglichkeiten zu eröffnen. Kunst ist aktiver Teil der aufklärerischen, Transparenz schaffenden Elemente in der Welt, zumindest in der östlichen Welt, die sich noch mit totalitären, geschlossenen Regierungsformen (und noch weit weniger mit der westlich-kapitalistischen Konsumleere) auseinandersetzen muss: «art as a form of change». Und für das Verflechten, Verbinden, das Rebellieren und Kommunizieren setzt er gerne die Fotografie ein. Allein in der Zeit des Bloggens von 2005 bis 2009 (als der Blog von der Regierung geschlossen wurde) hat er rund 200'000 Fotos gemacht und viele davon auch online gestellt. Danach begann er, Handyfotografien nebst seinem ausführlichen Schreiben auf Twitter zu setzen. Sein Bloggen, sein Twittern, sein Dasein in Peking wurden so insgesamt zum chinaweit, ja weltweit nachvollziehbaren performativen Akt, zum eigentlichen Kunstwerk: «I think my stance and my way of life is my most important art.» Sein Leben wird zum avantgardistischen Kunstwerk in einer kontrollierten, geschlossenen Gesellschaft. Die Fotografie funktioniert darin als visuelles Transportmittel. <
Ausstellung: Fotomuseum Winterthur: Ai Weiwei – Interlacing, 28.5.–21.8.2011.
Urs Stahel ist Kurator und Direktor des Fotomuseums Winterthur. Er ist Autor essayistischer Texte und publizierte zahlreiche Bücher über Fotografie.