Ein stilles, aber umtriebiges und wissensreiches Monument der Fotografie ist gestorben: Im August schied Allan Sekula mit 62 Jahren an Krebs aus dem Leben. Die Fotografie verliert damit zwar keinen genialen Bildermacher, auch nicht das grosse kreative Auge oder die subjektive Spürnase, dafür verliert sie einen ihrer wichtigsten Konzepter, Denker, einen höchst engagierten Dokumentaristen und spannenden visuellen Essayisten. Ein stilles Monument, weil es unklar ist, in wieweit die Fotowelt diesen Verlust bisher überhaupt bemerkt hat. Figuren wie Allan Sekula bewegen sich zwischen den ausgesteckten Feldern, machen oft einen überraschenden Schritt und kehren schliesslich in unserem Rücken zurück. Sekula fotografierte und schrieb zugleich, wurde aber hauptsächlich in der Kunst wahrgenommen und bewegte sich in jüngerer Zeit weiter zum Film.
Doch in einem blieb er sich konstant treu: In seinem starken Interesse am Organismus Weltwirtschaft, in seiner Aufmerksamkeit für gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorgänge, für grosse Systeme und ihre sozialen Auswirkungen auf die darin Arbeitenden. Sicher auch als Menschen vermissen werden ihn alle, die über die letzten drei Jahrzehnte bei ihm am CalArts in Los Angeles studieren durften. Eine ehemalige Studentin antwortete online auf die Todesnachricht: Sekulas Arbeit «Fish Story pulled back the curtain on the dematerialized myths of late capitalism with humanity, lyricism and an encyclopedic understanding of the cultural imaginary. These were the great gifts of Allan’s teaching. We witnessed his wideranging curiosity, his command of the disparate métiers of economics, history, philosophy and visual culture, and his ability to synthesize them into a complex and rigorous vision.»
Im Zentrum seines Denkens und Arbeitens standen das Meer und die Häfen. Aufgewachsen in San Pedro, der Hafenstadt innerhalb von Los Angeles, hat ihn das Wasser von Kind auf fasziniert und seither nie mehr losgelas sen. Mit Fish Story begann dieses Interesse gegen Ende der Achtzigerjahre in seine Arbeit einzufliessen, seither hat er in fast jeder seiner experimentellen Arbeiten, von Titanic’s Wake über The Lottery of the Sea bis zum jüngsten Filmessay The Forgotten Space, an der Chronik der sozialen, ökonomischen und politischen Realität der Meere weiter geschrieben und eine Sicht präsentiert, die das Bild der Meere als offenen Raum, als Reich mit dem Rücken zur Welt oder als Vergnügungszone auf Kreuzfahrtschiffen kräftig unterläuft.
Allan Sekula begann, die maritime Welt, die grossen langsamen Warentransporte auf den Containerschiffen zu untersuchen und als Gegengewicht zum alles überdeckenden Mythos des elektronischen Hyperspeeds im Internet zu verstehen. Neunzig Prozent aller Waren werden auch heute noch verschifft, die Hälfte davon betreffen alleine unsere Energieversorgung, Öl, Gas, Kohle. Ohne diese Transporte würde die Weltwirtschaft stillstehen. Die meisten Schiffe stehen unter Low-Cost-Flaggen, sind also in Ländern registriert, die mit bescheidenen Kosten rechnen, gleichwohl werden sie von den neoliberalen Zentren der Weltwirtschaft aus gesteuert. Die Arbeitsbedingungen der Schiffsbesatzungen sind bekanntermassen seit jeher erbärmlich, weniger bewusst ist uns, dass es der Container, die Containisierung der Schifffahrt erst erlaubt hat, die Produktionsmittel, Maschinen, ja ganze Fabrikeinheiten an die Orte mit den billigsten Arbeitsplätzen zu verschiffen und so die globalisierte Wirtschaft zu ermöglichen. Bei all dieser scharfsinnigen, aber immer ruhig vorgetragenen (westcoast marxistisch geschulten) Kritik am Spätkapitalismus wirken seine Arbeiten immer auch poetisch-lyrisch, zeigen eine grosse Nähe zu den Arbeitenden selbst.
Lange Zeit war Allan Sekula aber vor allem als Autor, als kritischer Betrachter der Möglichkeiten von Fotografie bekannt. In seinem berühmten Buch Photography against the Grain: Essays and Photo Works 1973–1983 entwickelte er seine Vorstellung eines «kritischen Realismus»: «I wanted to construct works from within concrete life situations […]. Any interest that I had in artifice and constructed dialogue was part of a search for a certain ‹realism›, a realism not of appearances or social facts but of everyday experience in and against the grip of advanced capitalism.» Das Wegweisende an seiner Entwicklung ist, dass er seine bildnerische Arbeit konzeptualisiert hat, aber damit nicht den Weg in die dafür vorbereitete abstraktisolierte Kunstwelt ging, sondern darauf beharrte, mitten in der Welt, mitten im Tränengas zu stehen und die Realität zu dokumentieren: sie mit einer Kombination von Bildern und Sprache, mit Hinterfragungen, Gegenüberstellungen, mit Blicken von aussen und innen zusammen weit komplexer abzubilden, als es die Fotografie bisher willens gewesen ist. Sein Tod ist ein grosser Verlust für den kritisch reflektierenden Teil der Fotowelt. Es ist zu hoffen, dass sein scharfsinniger «kritischer Realismus» von vielen dokumentierenden Fotografen und Fotografinnen weiter getrieben und entwickelt wird.