November 2009  /  Du 801

… als würden wir der Zeit zusehen

English Version: … as if We Were Watching Time →
<p>Kyungwoo Chun: <em>Six Days</em>, 2003, C-Print, 105 × 126 cm, Courtesy Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt, und DNA, Berlin</p>

Kyungwoo Chun: Six Days, 2003, C-Print, 105 × 126 cm, Courtesy Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt, und DNA, Berlin

Fotografie funktioniert als Stärkung des Augensinns, sie fördert den Siegeszug des Sichtbaren und begünstigt eine positivistische Haltung zur Welt. Die Wirklichkeit wird optisch abgetastet, fotografisch untersucht, in der Überzeugung, mittels der Zeichen an der Oberfläche etwas über das Dahinterliegende aussagen zu können. «Fotografische Indizienforschung» könnte man dieses Verfahren nennen, in Anleh­nung an die Indizienforschung, die im 19. Jahrhundert parallel zur Fotografie entwickelt wurde: das Sammeln, Addieren und Kombinieren von äusseren Merk­malen, um in der Summe der Einzelteile den Wahrheiten – des Gemäldes in der Kunstgeschichte, des Verbrechers in der Kriminologie, den Tiefen in der Psychologie – auf die Spur zu kommen. Régis Debray spitzt es in seinem Buch Jenseits der Bilder zu: «Wir sind die erste Zivilisation, die sich durch ihre Apparate dazu autorisiert glauben darf, ihren Augen zu vertrauen. Die erste, die die Gleichung zwischen Sichtbarkeit, Realität und Wahrheit aufgestellt hat. Alle anderen – und selbst unsere eigene noch bis vor kurzem – waren der Meinung, dass das Bild sie am Sehen hin­dere.»

Die Geschichte der fotografischen Sichtbarmachung ist eng mit ihrer technischen Entwicklung verknüpft. Die ersten Fotografien im 19. Jahrhundert zeigten die Welt weitgehend ruhig und aus gebührender Distanz. Filmmaterial und Optik liessen anderes gar nicht zu. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt diese Ruhe der Bilder zu stören, greift ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie entdeckt jetzt das Versunkene, Verborgene, setzt den Schnappschuss ein, der Unverhofftes, Unver­blümtes zeigt: den Bettler auf der Parkbank, das Liebespaar beim Kuss, den Schuss durch den Apfel. Neue Filmmaterialien, grosse Teleobjektive, elektronische Sonden stören später die Intimität von Filmstars, «erobern» die Unberührtheit des Weltalls, folgen dem Lebensfluss in Blutbahnen. Der Zeigegestus wird total: Kleinste Details können, aus grosser Entfernung fotografiert, hyperscharf dargestellt werden: Das Gesicht eines Menschen wird zur präzisen, manchmal ätzend detailliert wiedergege­ben Vermessungskarte. High-End-Kameras filmen austrainierte Superbodies der Leichtathletik so «schnell» und genau, dass sie in der Superzeitlupe vor sich hin blubbern wie untrainiertes Fett. Sie verformen sich, als stemmten sich halbgefüllte Ballone gegen den steifen Wind. In dieser Sucht nach Schärfe und Nähe offenbart sich das fotografische Sehen als tief voyeuristisch.

Der koreanische Künstler Kyungwoo Chun arbeitet ebenfalls mit zeitgenös­sischen visuellen Geräten, mit Fotografie und Video. Doch er rollt die Fotogeschichte umgekehrt auf, er aktualisiert die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts, als die Lichtempfindlichkeit der Fotomaterialien noch höchst beschränkt war. Er schliesst den Kreis zum Anfang der Fotografie, als die zu Porträtierenden sich gebührend kleideten, als im Studio Hintergründe und Mobiliar ausgewählt, Position und Haltung geprobt und zuletzt Hilfsgegenstände, Stützen für den Fuss, für den Nacken, für die Hand, bereitgestellt wurden. Während ein paar Sekunden sollte sich die Figur nicht bewegen, um ein scharfes, die Identität möglichst genau einfrierendes Porträt zu schaffen.

Kyungwoo Chun lässt die Porträtierten ebenfalls in einer Studiosituation sitzen, mal wenige Sekunden, dann 30 oder 100 Sekunden oder gar 49 Minuten lang, ruhig oder bewegt. Die Frau auf dem Bild erzählte ihm während sechs Tagen je 35 Minuten lang aus ihrem 35-jährigen Leben. Er öffnet also den Kameraverschluss und lässt den Porträtierten selbst Zeit, sich in das Bild einzuschreiben. Er kehrt damit gleichsam die Handlungsrichtung um, vor allem aber lässt er Zeit verstreichen, will er, dass sich eine Dauer, eine kleine und doch bestimmte Lebensdauer ins Bild eingräbt. Eine vorgesehene Zeit lang werden unablässig Bilder übereinander gelegt. Das Scharfe, Punktgenaue verschwindet zugunsten eines angereicherten Bildraumes, das Schnappschüssige wird von der Zeitdauer abgelöst. Die Porträtierten müssen sich nicht allzu sehr bemühen, ruhig zu bleiben, denn Chuns Ziel ist nicht die möglichst realgetreue Repräsentation der äusseren Identifikation des Menschen, vielmehr sollen sich die Zeit, der Ahnungsraum, aber auch, in Doppelporträtsituationen zum Beispiel, die nonverbalen Handlungen und Kommunikationen untereinander in die Belichtung einweben. Ein Erahnen – und nicht ein vermeintliches Wissen – soll erzeugt werden. 

Die Porträts von Chun wirken ein wenig wie Erscheinungen, die aus dem tiefen See des Bildgrunds auftauchen. Sie zeigen keine genauen Details, sind auf Wesentliches reduziert. Wir erkennen sie als Menschen, als Frau, als Mann, als Kind, aber die Repräsentationen von Individuellem und von Status und Macht werden zurück gedrängt. Die frühen Porträts in der abendländischen Geschichte waren Idealdarstellungen, Machtrepräsentationen; das Fotografiezeitalter schenkte uns das individuelle Porträt dazu. Kyungwoo Chun hingegen realisiert Zeit-Porträts. Porträts der Zeit anhand des langsamen, dauernden Ablichtens von Menschen. Porträts des Menschen in verstreichender Zeit. Das Porträt als eine «Vera Ikon», als ein Heil bringendes Kultbild nicht der Person, sondern des Dauerns, Aufscheinens, ein Bild nicht der Individualität, sondern des Menschseins, Daseins allgemein: Ein versinn­bildlichter Ahnungsraum anstelle sprachlich-formalisierter Identifikation. 

Es ist fast so, als würden wir in seinen Werken der Zeit beim Wachsen zusehen, sie wie Musik hören und Kontinuität, Langsamkeit und Permanenz gegen­über explosionsartigem Wechsel von Ruhe zu Schnelligkeit erfahren. Kyungwoo Chun betont in seinen Werken immer das Prozesshafte, das Fliessende und gewinnt so ein Stück der Aura zurück, die wir im «Zeitalter der technischen Reproduzier­barkeit» verloren glaubten. «Believing is seeing» betitelte Kyungwoo Chun eine frühere Serie seiner Porträts.