September 2012

Amar Kanwar

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1.

Zwei einschneidende Ereignisse haben Amar Kanwar 1984 als jungen Studenten entscheidend geprägt: Einerseits die organisierten Massaker, die Vergeltungsschläge an Sikhs nach der Ermordung von Indira Gandhi am 31. Oktober 1984. Und andererseits die Chemiekatastrophe in Bhopal, als am 3. Dezember des gleichen Jahres aus einer Pestizidfabrik der amerikanischen Chemiefirma Union Carbide giftige Dämpfe entwichen, die mehrere tausend Menschen töteten und hunderttausende verletzten. Amar Kanwar, hineingeboren in eine Familie, die von der epochalen Aufspaltung Indiens 1947 persönlich gezeichnet war, belegte damals Kurse in Geschichte an der Universität Delhi, die sein Bewusstsein für politische, soziale und mediale Themen weckten. In einem Gespräch mit Sean O’Toole für Frieze (2009) äussert sich Kanwar, wie sehr ihn diese Zeit prägte, wie sehr die zwei Monate zwischen den beiden Grossereignissen, das Miterleben der aufflammenden Gewalt und der Kampf für Gerechtigkeit eine klare Wende in seinem Leben bedeuteten. Nach Abschluss seines Studiums reiste er ins Innere Indiens, um in einer Kohlenbergbau-Region zum Thema Alkoholismus und andere Berufsrisiken zu recherchieren. Amar Kanwar wurde so zum politisch engagierten Zeitgenossen, zu einem Menschenrechtsaktivisten, der allerdings nie einer Partei angehört hat. Kurz darauf schrieb er sich an der Filmschule am Mass Communications Research Center der Jamia Millia Islamia University in Delhi ein. Dem Abschluss an dieser Schule folgten, wie er sagt, ein paar ermüdende, ja «demoralisierende» Jahre, in denen Amar Kanwar am Filmen zweifelte, aber dennoch eine Reihe von Dokumentarfilmen schuf.

Der Durchbruch gelang ihm mit Earth as Witness (Erde als Zeugin), einem Film, den er 1994 für die tibetische Exilregierung realisierte. Erstmals hatte er dabei mehr Kontrolle über einen Film und konnte neue Erzähltechniken ausprobieren. Danach folgten diejenigen Filme, mit denen Anwar Kanwar bekannt geworden ist: A Season Outside (Eine Jahreszeit ausserhalb; 1997), A Night of Prophecy (Eine Nacht der Prophezeiung; 2002), To Remember (Erinnern; 2003), die zusammen die Trilogy (Trilogie) bilden, King of Dreams (König der Träume; 2001), Hennigsvaer (2006), die neunzehnteilige Videoinstallation The Torn First Pages (Die zerrissenen ersten Seiten; 2004–2008), die achtteilige Installation The Lightning Testimonies (Die Blitzzeugnisse; 2007), A Love Story (Eine Liebesgeschichte; 2010) und der neue Film, den Amar Kanwar diesen Sommer auf der Documenta 13 zeigt: The Sovereign Forest (Der fürstliche Wald; 2012)

2.

Während der Stoff und die Zugänglichkeit von Amar Kanwars Filmen Augen und Geist erlauben auszuschweifen, konzentriert sich A Season Outside strikt auf einen einzigen Ort, den Grenzübergang Wagah. Der Film thematisiert die spannungsgeladene Lage an der Grenze zwischen Indien und Pakistan. Wir verfolgen das tägliche bunte, bombastisch-zeremonielle Öffnen und Schliessen der Grenze auf der Verbindungstrasse zwischen den beiden Staaten, konterkariert von Bildern des scharfen Wachens entlang der Grenzlinie, wir wohnen auch dem alltäglichen anstrengenden Schultern und Weiterreichen von schweren Getreide- oder Gewürzsäcken an der weissen, knapp 31 cm breiten Grenzlinie bei, begleitet von einem langen inneren Monolog des Autors. 

Der Film To Remember setzt einen Besuch des Birla Houses – heute das Gandhi Smriti, das Haus, in dem Mahatma Gandhi die letzten Tage seines Lebens verbracht hatte, bevor er dort am 30. Januar 1948 ermordet wurde – als stummes Mittel ein, um den Unterschied zwischen Realität und kollektivem Gedächtnis zu erforschen. «Gandhi wurde in Gujarat geboren», sagt Amar Kanwar. «Nach den Gujarat-Massakern an Muslims 2002 wollte ich Gandhis Todestag auf andere Art und Weise begehen. Ich war eingeladen worden, am 30. Januar 2003 einen meiner Filme vorzuführen und ich wollte mit dieser kleinen Geste darauf reagieren, dass die Massaker damals offiziell gerechtfertigt wurden. To Remember wurde so zu einer Art stillem Fluch und erinnerte auch an die Rechtfertigungen für die Ermordung Gandhis 1948. Es gibt in meinen Filmen immer wieder Hinweise auf Attentate, auf organisierte Tötungen, auf religiös motivierte Gewalt, auf den wachsenden Faschismus.»

A Night of Prophecy wiederum scheint voller Gesang und Poesie. Kanwar reiste dafür quer durch Indien und liess vor der Kamera Gedichte und Geschichten rezitieren und vorsingen. Ausgehend von einem Gedicht, das Prakash Jadehav, ein unterkastiger Gepäckträger am Flughafen von Mumbai, 1970 geschrieben hatte und das Amar Kanwar 2001 beim Lesen aufs Tiefste erschüttert hat, lässt er in A Night of Prophecy viele verschiedene Stimmen aus dem Volk von der indischen Realität erzählen. Der Film folgt den Bruchstellen und Narben der indischen Nation und ihrer Geschichte – das Kastensystem als Unterdrückung, die Unberührbarkeit, die working poors. «Du musst die Nation in die Luft werfen, um sie neu erfinden zu können», meint Amar Kanwar dazu.

The Torn First Pages ist eine Ode an die burmesische Widerstandsbewegung, die sich über Jahre und Jahrzehnte für eine demokratische Gesellschaft eingesetzt hat. Die komplexe raumfüllende Videoinstalla­tion hat eine dreiteilige Grundstruktur, wobei der erste Teil aus sechs Einzelfilmen besteht – aus The Face (Das Gesicht), Thet Win Aung (a), Thet Wing Aung (b), Ma Win Maw Oo, The Bodhi Tree (Der Bodhi-Baum) und Somewhere in May (Irgendwo im Mai). Die Filme thematisieren den absurd wirkenden Besuch von General Than Shwe, dem höchsten Vertreter der burmesischen Diktatur, am Grab des gewaltfrei kämpfenden Gandhi; die Erinnerung an Thet Win Aung, den zu 59 Jahren Gefängnis verurteilten Führer der Studenten; das qualvolle Bild einer dreizehnjährigen Studentin, die von burmesischen Soldaten niedergeschossen wurde, eine Fotografie, die einen Tag lang um die Welt ging und dann schnell vergessen wurde; das Leben eines bekannten burmesischen Malers und Dissidenten, der seit der Niederschlagung der Demonstrationen für Demokratie 1988 in Neu-Delhi im Exil lebt und eine Form von politsch-agitatorischer Porträtmalerei betreibt; und schliesslich der Film Somewhere in May, der das Leben in Oslo am 17. Mai 2004, am norwegischen Nationalfeiertag, der Scheinkonferenz für Demokratie der burmesischen Militärdiktatur , die am gleichen Tag begann, gegenüberstellt. Es entsteht eine quälende Diskrepanz zwischen «Freiheit und Klaustrophobie, zwischen Demokratie und ihrer Simulation», wie Amar Kanwar schreibt. Auf der einen Seite die grosse Hoffnung auf Demokratie in Burma, der harte Kampf für sie, und auf der anderen Seite ihre in Festen und Feiern beinahe nachlässig gelebte Selbstverständlichkeit. Der zweite Teil von The Torn First Pages streift in sieben Projektionen durch die Welt burmesischer Aktivisten im amerikanischen Exil, auf den Spuren nach dem verstorbenen Tin Moe, einem berühmten exilierten burmesischen Dichter. Teil drei zeigt Archivmaterial: Er handelt vom Beschaffen und Zusammenfügen von gedrucktem und gefilmtem Material als Erkenntnisprozess und Voraussetzung für Veränderung und verwendet dafür den Begriff «Evidence» (Beweise), der diesem Buch und der Ausstellung den Titel gegeben hat.

Henningsvaer entstand in Norwegen, am Polarkreis, bei den fischreichen Gewässern rund um die Insel Henningsvaer, in denen Kabeljau gefischt wird. Amar Kanwar folgte der Einladung zu einem Kunstfestival auf den Lofoten, auf der Suche nach den Spuren eines Skandinaviers, der in einem burmesischen Gefängnis ermordet worden war, weil er Aung San Suu Kyi geholfen hatte. Das ganze Video ist durch die vielen Fenster eines einzigen Hauses gefilmt worden und thematisiert, wie Amar Kanwar schreibt, die «dünne Linie zwischen Paradies und Gefängnis». Der wunderbare Blick in die weite, einsame Schönheit des Nordens kann, wie das Wetter, schnell umschlagen. Im letzten Drittel des Films schwenkt der Blick nach Hause, nach innen, in die Erinnerung. Ein Boot gleitet langsam auf einer glatten Wasseroberfläche nach links, die Kamera zieht mit und unterstützt ruhig diese Fliessbewegung, bekräftigt aber auch ein Gefühl von Exil, die Erinnerung an Zuhause, das grundlegende Bedürfnis nach seelischer Freiheit 

The Lightning Testimonies beschäftigt sich mit Vergewaltigungen, mit sexueller Gewalt auf dem indischen Subkontinent, eindrücklich ruhig und zurückhaltend auf acht Kanälen visualisiert, die sich gegen Ende hin auf eine Einkanalprojektion konzentrieren. Thematisiert wird wiederum der Prozess, wie man durch komplexes schrittweises Denken und Handeln eine Veränderung der Erinnerung, vielleicht gar der Zukunft erwirken kann, wie sich die Opfer allmählich aus ihrer Traumatisierung befreien können, um neue Lebenskraft zu gewinnen. A Love Story schliesslich, eine Miniatur von Film, lässt in wenigen Minuten den Schmerz individueller und gesellschaftlicher Trennung verschmelzen. Und ist zugleich ein Film über das Filmen selbst.

3.

Amar Kanwar behandelt soziale, politische, gesellschaftliche Fragestellungen, doch es sind weniger die harten Fakten, die ihn interessieren, nicht die einfachen, schnell benennbaren Inhalte. Kanwar sucht weitergehende, tiefer reichende Zusammenhänge, den Nerv des Lebens, der Gesellschaft, der Erfahrung treffende Gewissheiten, erdauerte, erlebte, gefühlte «Beweise». Dabei erkundet er Handlungs-, Verhaltens- und Reaktionsweisen wie Musiker Halbtöne, Vierteltöne, Septimen erforschen, wandert in ernsthaftem, melancholischem Moll durch das komplexe Dickicht der vielfältiger Ursachen und Wirkungen. Wie wird mit einer Situation umgegangen, wie mit einer Erfahrung, einem tiefen Erlebnis, einem prägenden Schmerz? Wie verhalten sich Staatsvertreter, wie überleben die Menschen, wie verarbeiten sie ihr Trauma, wie erinnern wir uns an sie, an ihre besondere Leistung, ihren unbändigen Willen? Vielschichtige Atmosphären sind ihm dabei ebenso wichtig wie das Tempo der Erzählung, das Atmen, das Innehalten, die Pause, das Weitergehen, der Rhythmus, der Gesang. In einem Gespräch mit Shanay Jhaveri gibt es diese wunderbare Stelle, an der Amar Kanwar über die Stille sagt: «Wie verändern sich die unterschiedlichen Stillen, wenn sie sich gegenseitig annähern? Wie können wir hören, wie sehen?»

Amar Kanwar glaubt so wenig an Lineares wie an Eindimensionales. Seine Vorstellung von Leben ist von der Idee der Vielschichtigkeit geprägt: von vielen Ebenen, verwunschenen Wegen, unterschiedlichen Zeitsträngen, die parallel laufen oder sich kreuzen. Er gebraucht dafür selbst den Begriff der «multiplicity», die Erfahrung von vielfacher, multipler Zeit, innerhalb und ausserhalb, die sich öffnet und alle Formen der Kommunikation verbindet.

Statt zu vereinfachen, will Amar Kanwar den Dingen Zeit geben, sich zu entwickeln, will ihnen ihre eigene Geschwindigkeit lassen. So wie die Frau in The Lightning Testimonies ihre Geschichte sorgfältig und gedankenvoll in den Stoff des Kleides hineinarbeitet, ihre Erfahrung mit Gewalt, den schweren Verlust der Freundin langsam verwebt. Das Konzept von «Evidenz», Gewissheit und Beweis mag wie ein Baumstamm aus dem Boden ragen, doch er ist umrankt von Efeu, von allerlei Kraut, seine Zweige kargen weit aus. Er dehnt sich, er ächzt, er streckt sich, verbindet sich mit anderen Baumstämmen, anderen Gewissheiten zu einem grossen Wald.

Dieses Buch ist das Ergebnis eines kurzen Einhaltens, in einem Leben, einem Werk, das ständig fliesst, sich verzweigt, wieder zusammenfindet, das eine Richtung hat, sich aber mit Absicht ablenken lässt, das Zeit hat, Zeit findet – zum Atmen, Gehen, Innehalten, Vorwärtsstreben, Kreisen. Poesie, so lesen sich Amar Kanwars Worte, so zeigen sich seine Filme, ist eine Methode und eine Metapher, die Verdichtungen und Verzettelungen des Lebens begreifbar zu machen und tiefere Erkenntnis zu ermöglichen. Raum wird durch Zeit erfahrbar, und Zeit durch Poesie. Im Zentrum stehen immer das Leben jedes Einzelnen, die Regeln der Gesellschaft, Macht, Missbrauch, Gewalt, und die Kraft zur Aufklärung, der Mut zur Veränderung.

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