Oktober 2018  /  republik.ch

Ambiguitätsintoleranz

Ambiguitätsintoleranz: ein grässliches Wort, ich weiss, aber es muss sein. Ich mag daran, dass es ganz leicht nach Krankheit riecht. Doch worum geht es bei dieser besonderen Form der Intoleranz?

Das Reclam-Büchlein «Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt» von Thomas Bauer wird mit diesen Worten beworben: «Was haben das Verschwinden von Apfelsorten, das Auftreten von Politikern in Talkshows, religiöser Fundamentalismus und der Kunst- und Musikmarkt miteinander gemeinsam? Überall wird Vielfalt reduziert, Unerwartetes und Unangepasstes zurückgedrängt. An die Stelle des eigentümlichen Inhalts rückt vermeintliche Authentizität.»

Konkret heisst das: Statt 20‘000 Apfelsorten werden noch 20 angebaut, statt 30'000 Maissorten noch ein paar Dutzend. Bei den Bananen dominiert eine Sorte den Weltmarkt. Die Insektenwelt beseitigen wir in den kommenden Jahren auch noch, doch das ist ein anderer Pfad der Tilgung. Ebenfalls von Reduktion spricht der Wiener Philosoph Robert Pfaller in seinem neuen Buch «Erwachsenensprache». Er fragt sich, wie es dazu  gekommen ist, dass wir nicht mehr als Erwachsene angesprochen, sondern von der Politik wie Kinder behandelt werden wollen. Steckt da ein Ablenkungsmanöver dahinter, eine politische Strategie? Sollen wir als Bürger entmündigt werden? Fallen das Ich und das Über-Ich nun untrennbar vereint in eine Authentizitätsfalle? Hat die Welt genauso einfach zu sein, wie ich es mir in meiner kindlichen Fantasie vorstelle?

Der Prozess von Vereinfachung, der hier angesprochen wird, lässt sich auch bei der Fotografie verfolgen. Eben erst ist sie noch den umgekehrten Weg gegangen, und man musste sagen: endlich! Seit den siebziger Jahren wandelte sich das Verhalten der Produzenten. Die FotografInnen wandten sich vom Einzelbild ab und begannen fotografische Erzählungen, Serien zu entwickeln, mit Bildern komplexe Sequenzen zu kreieren. Ziel war es, in der Abfolge, in der Anordnung eine Form der visuellen Sprache zu entwickeln, die es den Betrachtern erlaubt, weit tiefer in ein Thema und in den Bildgehalt einzudringen. Künstler und Künstlerinnen, die mit Fotografie zu arbeiten begannen – auch das eine jüngere Entwicklung -, setzten sich zudem stark mit den vorhandenen Medienbildern auseinander. Sie kopierten sie, vergrösserten, zerrissen, verklebten sie, montierten sie schliesslich in neuen Zusammenhängen, um etwa auf das Wesen des Fotografischen oder auf die Abhängigkeit von Bildern in Auftragsverhältnissen aufmerksam zu machen.

Die Vorstellungen über Fotografie und die Bewertung des Fotografischen als Denk- und Handlungsmuster hatten sich verändert. Der Blick verschob sich vom einfachen Nach-draussen-in-die-Welt-Sehen nach «innen», er wurde reflexiv, stellte medienkritischen Fragen: Mit welcher Absicht wurde das Foto gemacht? Wer war der Auftraggeber? Welche Ideologie verbirgt sich in dieser Darstellung? Wie leicht lässt sich die Bedeutung einer Fotografie je nach Gebrauch verschieben, steigern, verändern? So wie auch in anderen Zusammenhängen in den 1970er und 1980er Jahren Identität nicht mehr als etwas Gewachsenes, Natürliches empfunden wurde, so wurde das Autokratische des Bildes, die behauptende Setzung, die scheinbar fraglos auftretende Bildidentität, grundsätzlich in Frage gestellt und mit Scharfsinn und Humor analysiert.

Ausstellungen mit Fotografien entwickelten sich in dieser Zeit von endlos gehängten Zahnreihen gleich grosser Bilder auf Augenhöhe zu komplexen Rauminstallationen, in denen Fotografien gleichsam begangen werden konnten, unterschiedliche  Bildgrössen ebenso wie unterschiedliche Bildinhalte korrespondierten oder kontrastierten. Fotografie veränderte sich vor unseren Augen in ein visuell-diskursives Feld, das ausgerollt und wie Wäsche an einer Leine hochgezogen wurde oder mit dem auch Wände tapeziert und Böden belegt wurden. Die Fotografie wurde ebenso zum Erfahrungs- und Erlebnisraum wie zum bildnerischen Diskussionsfeld, zu einem medialen Debattieracker, auf dem wir das Funktionieren der visuellen Darstellungen der Welt nachvollziehen sollten.

Und heute? Seit der Umwandlung der Chemie in Daten, seit der allmählichen Screenisierung von Fotografie – die nun zum grössten Teil nicht mehr edel abgezogen wird, sondern mit Hintergrundbeleuchtung überdeutlich, oft schrill auf unseren Displays unterwegs ist –  scheint irgendwie die visuelle Denk-Lust abhandenzukommen. Die Fotografien erscheinen wieder als Einzelbilder, werden mit zwei, drei Fingern von einem zum nächsten gewischt, sind auf unseren Handys nicht mal 5x5cm gross, werden vom Instagram-Raster ins Quadrat gestaucht und, wenn man nicht aufpasst, auch rücksichtslos beschnitten. Die Formateinschränkung ist derart prohibitiv, dass sich die Fotografie durch sie verändert. Sie spitzt sich sichtlich zu, konzentriert sich aufs Zentrum, wird zu einer Zielscheibe, zum bunten Button, der farblich laut aufschreit: Schau hierher! Nur Schmink­schön­­heiten, schmelzende Romantik und ein paar grelle Figuren schaffen es im Aufmerksamkeitscontest auf Höchstzahlen.

Das Bild verliert im Zuge dieser neuen Handhabungen seine Ambiguität. Es wird oft so vereinfacht, dass es durch ein einziges Wort ersetzt werden könnte. Es wird zum Verkehrsschild. Und wir Betrachter und Betrachterinnen gleiten durch den endlosen Strom von Bildern, liken, streiken, verweigern das Herzchen oder kommentieren hochkomplex mit WOW oder mit RIP! Begeistert vom Automatismus des Bildschirms, Bilder laufend neu zu laden, neu einzuspeisen, als würden die realen und virtuellen Verkaufsgestelle von Geisterhand sofort wieder aufgefüllt. Endlos.

Diese Komplexitätsreduktionen finden sich auch anderswo. Sie gefährden die Fotografie, das Bild insgesamt in seiner ureigenen Verfassung, eine Anordnung von zahllosen Zeichen zu sein, die gemeinsam mit ihren verschiedenen Rezipienten ein grosses, nie abschliessbares Feld von möglichen Bedeutungen eröffnet. Wir verdanken diese Gefährdung der Vielfalt und des Ambivalenten mit Sicherheit ein Stück weit der Globalisierung und Ökonomisierung unserer Lebenswelt. Nur mit der Reduktion von Produkten auf Formeln wie «viele viele bunte Smarties», «vieles im Gleichen», lässt sich globaler Konsum steuern und beherrschen.  Dasselbe gilt auch von der globalen Kommunikation – der visuellen genauso wie der verbalen.

Doch die wachsende Sehnsucht nach Vereinfachung hat vermutlich noch andere Ursachen: Sie ist Zeichen der Verunsicherung in einer immer komplexer und immer schneller sich verändernden Welt. Wir leben in einer Art von vereinfachendem «Erklärungs- und Verstehenswahn» (Thomas Bauer), um unsere eigenen Ängste, unsere persönlichen Unsicherheiten zu besänftigen. Wir leben also die Vereinfachung, die Vereindeutigung der Welt auch als eine Form von Verdrängung.

«Vielen Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird», folgert Bauer, «glauben schliesslich selbst, alles zu verstehen. Deshalb hat man immer und zu allem eine Meinung. Eine Meinung zu haben, wird geradezu vorausgesetzt.» Die Auswirkungen davon sind heute überall nur allzu spürbar. Dabei wäre die Einübung ins Bilder-Sehen, in visuelle Geheimnisse, Fantasieräume, in attraktive Ambiguitätsfelder, die beste Schulung für den Respekt vor der Komplexität der Wirklichkeit.