September 2021  /  On Photography - New Perspectives. VFO, 2021

Ansicht – Durchsicht – Übersicht

<p>Onorato/Krebs: Sendetafel 2021</p>

Onorato/Krebs: Sendetafel 2021

Der Screen hat die Diskussionen über den Druck beendet. So scheint es jedenfalls. Seit zehn Jahren schauen wir Fotografien – oder was davon übriggeblieben ist – auf Flüssigkristallbildschirmen an. Flüssig ist daran nichts, aber die Kristalle werden durch elektronische Spannungen gesteuert und wechseln so ihre Richtung. Wir betrachten Bilder –was in den Strassen der 1970er-Jahren begonnen und Künstler wie Jeff Wall in den 1980er-Jahren ins Museum übernommen haben – heute «retro illuminated» oder «backlit», also von hinten beschienen, an. Anfänglich durchleuchteten Leuchtstoffröhren das Bild, seit 2009 sind es meist LEDs, die uns den Eindruck von permanent aufgeweckten, aufgeregten Bildern vermitteln, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, nonstop durchlaufend, sofern man die Stromrechnung bezahlt. Nachts um vielleicht 23 Uhr merken wir kurz, dass der Bildschirm nicht neutral, nicht «weiss»-transparent ist, sondern immer wieder vom bläulichen Tages- in den rötlichen Nachtmodus zurückstellt. 

Parallel zum Wechsel der Erscheinung von Fotografie haben sich die Grössenverhältnisse verändert. Sie wurden, in grosser Regel, halbiert, geviertelt, geachtelt, gesechzehntelt, also so stark verkleinert, bis das Bild nur noch etwa 4x5cm oder 5x5cm oder 6x5cm, also gerade mal so gross ist, dass es superpraktisch wird, dass es in der Hand, in der Jackeninnentasche oder im Hosensack Platz findet. Im Tausch mit der Grösse, die abnahm, nahm die Zeitdauer zu, während der das Bild «bei uns», «mit uns», vor oder neben uns ist – immer griffbereit, klickbereit, doch allenfalls schon von vielen nachfolgenden Bildern überlagert und vertrieben. Etwas salopp formuliert: Das wirklich neue Haustier der Menschen ist heute das Bild, trotz der Welpenflut während der Pandemie. 

Und dieses Kleinbild strahlt oder schreit uns an wie gebleachte Zähne in einem grinsenden Werbegesicht. Immer guter Laune, immer strahlend, gleichbleibend ausgeleuchtet, solange der Batteriestand nicht unter 20 Prozent fällt. Aber alles Strahlen vermag das kleine Format nicht wettmachen, ausser mit dem Formatwechsel ändert sich auch das Bild. Denn das übliche Bild ist nicht mehr nur klein, sondern es wirkt merkwürdig verloren, ungreifbar, im Endlos-Laufband von Trillionen weiterer Bilder, die alle gleichlaut um Aufmerksamkeit betteln. Die neue Welt in Miniatur muss sehr klar sein, damit sie erkennbar, damit sie sofort lesbar und allenfalls sogar verstehbar ist. Raum und Zeit für ein klassisches Erfahren, Be-Greifen, Verstehen von Bildern bleibt kaum, entsprechend beginnen sie sich zu verengen, zu vereinfachen, auf ein Signet hin, auf einen Aufruf, ein Verkehrsschild zu reduzieren: Stop-and-Go; links, rechts, oben, unten; ja, genauso, und nicht anders. Mit klarer Anweisung, lautem Ruf, mit bellendem visuellem Statement behauptet sich der kleine Strahlemann im elektronischen Laufband zeitgenössischer Bilder und kriegt als Sympathiekundgebung schliesslich ein Herzchen umgehängt.

Das ist der Stand heute, nach zwölf bis vierzehn Jahren Smartphones. Wie diese Fotografie und unser Verhalten mit ihr zukünftig den Weg zurück in Ausstellungsräume finden, ist die eine mögliche zentrale Frage, die andere ist, wie im Ausstellungsraum die Aufmerksamkeit einer Generation geweckt und gewonnen werden kann, die mit Touchscreens, blinkenden Lämpchen und endlosen unmittelbaren Bestätigungsritualen aufwächst. Hier werden sich, das ist evident, aktive und passive Aufmerksamkeit, Kontemplation und Aktion ineinander verbeissen und je um Achtsamkeit flehen. Vorausgesetzt, sie treffen überhaupt aufeinander.

Wir wissen, wie stark der sensuelle Unterschied, die Erfahrung von «Stoff» ist, ob wir im Internet zum Beispiel fotodigitalisierte Stoffmuster sehen oder ob wir die gleichen Stoffmuster vor unseren Augen haben, an ihnen riechen, sie greifen können, und spüren, wie sie durch unsere Finger laufen, wie sie sich anschmiegen, wie sie rascheln, rauschen, knittern oder allenfalls tonschluckend still sind. Nicht nur die Farben sehen anders aus, alles an der Erfahrung von realem zu digitalem Stoff ist anders, nicht erst wenn wir das Stoffmuster um den Hals, den Körper drapieren. Aus der Differenz ziehen Post, DHL, UPS, Fedex ihr zukunftsträchtiges Geschäftsmodell: die Zahlen bei der Paketzustellung und -abholung steigen monatlich markant.

Nun, klassische Fotografie ist in der Regel nicht aus Stoff, aber immerhin aus Papier und Emulsion, aus verschiedenen Papieren und Emulsionen. Dünne, plastifizierte Hochglanzpapiere, kartonstarke Halbmattmaterialien, Naturpapiere mit offener, haptischer Struktur im leichten Off-White, auf das nicht mehr Standardemulsionen aufgetragen werden, sondern in das vielmehr selbstgefertigte Tinten und Lösungsverbindungen regelrecht eingesunken sind: Die nun fast zweihundertjährige Geschichte der Fotografie reicht von nadelspitzscharfen, also punktgenauen strahlenden Wiedergaben bis zur kompletten Auflösung, Verwischung der fotografischen Aufnahme in Richtung eines Aquarells. Nicht nur das Auge, die Kamera und der Kontext, sondern auch die Drucktechnik und das Papier, das man verwendet, bestimmen und verändern das Bild und seinen erlebbaren Gehalt in erheblichem, wenn nicht «erschütterndem» Masse. 

Im 19. Jahrhundert hat man das noch fast jeder Fotografie angesehen. Der fototechnische Entwicklungsprozess manifestierte sich im Resultat, sei es in der Kalotypie, Ambrotypie, im Salzpapierabzug, Platin-Palladium-Print, in der Cyano- oder Ferrotypie oder in der Heliogravüre, der Vorläuferin des Tiefdrucks. Jedes dieser Verfahren ergab ein sehr unterschiedlich temperiertes Bild. Ein Bild, das schwarzweiss genannt wurde, aber eigentlich farbig war. Die Druckverfahren des Piktorialismus – der Gummi-Druck zum Beispiel – erlaubten unscharfe Konturen, unterschiedliche Sättigungen des Papiers und schufen so die Möglichkeit des Diffusen, Ahnungsvollen in einem Medium, das sonst fast immer auf seine scharfe Wiedergabe reduziert wurde. Die Fotografie der Moderne im 20. Jahrhundert, das, was wir als «Straight Photography» oder als «Neue Sachlichkeit» und seine Folgen kennen, hat anschliessend so massiv und überzeugend die scharfe, möglichst punktgenaue Wiedergabe favorisiert, dass es Jahrzehnte dauerte, bis das Weiche, das Ungefähre, das Bildhafte wieder eine Chance bekam.

Und heute? In den 1990er Jahren bestand die omnipräsente Diskussion unter Fotografen darin zu monieren, dass die digitalen Aufnahme- und Drucktechniken noch lange nicht den Standards der analogen Verfahren das Wasser reichen können. Zu wenig Tiefe, zu wenig Sättigung, weil zu wenige Pixel, wurden den neuen digital-gesteuerten Techniken ein Jahrzehnt lang angelastet. Dabei übersahen wir alle – blind, vor und während der Digitalisierung –, dass das Printen von Fotografie in einem bisher unvorstellbaren Masse in den Hintergrund rücken würde, dass der ganz grosse Teil von fotografischen Aufnahmen gar nie mehr gedruckt, sondern nur noch als Datei abgelegt und dann beispielsweise als «low-res» per E-Mail oder als «high-res» per Wetransfer durch die Welt kursieren würde. Und das paradoxerweise in einer Zeit, in der gleichzeitig mit dem digitalen Drucken, also mit Inkjet-, Pigment- Karbonprints, erstmals die reale Möglichkeit besteht, Fotografie leicht mit grosser Wirkkraft auf die unterschiedlichsten Materialien zu applizieren oder einwirken zu lassen, und damit den Begriff des fotografischen Bildes, des Bildobjekts eine deutliche Dehnung, Erweiterung, vielleicht auch eine Festigung erfahren zu lassen.

Zugespitzt könnten wir behaupten: Wir erleben gerade eine bunte Bildschizophrenie. Über den Trend zu überdeutlichen Bildern haben wir am Anfang gesprochen – als Ausgleich zur gleichförmigen Hinterglasbeleuchtung von Miniaturbildchen und in der Hoffnung, dass in der vorgeblichen Bestimmtheit ein Mass an Verständnismöglichkeit übrigbleibt. Nehmen wir den zweiten Trend dazu, dass Bilder kaum mehr gedruckt werden, dann verlieren wir das Bild-Werk, Bild-Objekt, also den Bild-Gegenstand, in dem Bildinformationen, -anordnungen und -materialisierungen Hand in Hand gehen, sich gegenseitig stärken, stützen oder sich auch manchmal widersprechen. Wir verlieren auch die Möglichkeit, in den Kombinationen Felder des Offenen, des Ungenauen, des Ambivalenten, des Ambiguen anzulegen und zu sehen. Alle Grau- und Nebelzonen fallen weg. Es bleibt die vergebliche Behauptung, dass wir mit Bildern genau, präzis kommunizieren können, verbunden mit einem atemlosen Ringen um Übersicht, und die ebenso illusorische Annahme, dass wir die Welt mit «1» und «0» und nichts dazwischen verstehen und erklären können.

Das ist doch etwas schade, nicht? Umso mehr freut es mich zu sehen, dass in dieser Ausstellung viele verschiedene Drucktechniken zur Anwendung gelangen. Wenn nicht spiegelndes Glas die Wirkung schmälert, wirken tolle Drucke manchmal wie schillernder Samt auf uns. Man möchte sie so gerne und sofort berühren.