Ein wunderbares, auch wundersames Buch gewann dieses Jahr den Historical Book Award am Fotofestival in Arles. Es trägt den zunächst rätselhaften Titel AO1 [COD.19.I.I.43]- A27 [S | COD.23], der mit kleiner, wenig auffallender Typografie in einen blossen, handelsüblichen grauen Karton eingeprägt ist. Weiter unten steht zusätzlich Rosângela Rennó. Beides in Grossbuchstaben geschrieben. Weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite oder auf dem Buchrücken gibt es zusätzliche Informationen. Zwei dicke graue Pappkartons fassen das grosse, 34,5 Zentimeter hohe und 29 Zentimeter breite Buch ein, der Buchrücken ist in einem dunklen, leicht ausgewaschenen blauen Leinen gehalten. Das Vorsatzpapier erinnert mich an Muster von gewachsten Papieren, mit denen meine Mutter in meiner Kindheit jeweils die Schubladen in der Küche ausgelegt hatte. Die Formatangabe ist wichtig, weil das Buch eine so stattliche Grösse hat, dass es nicht mehr maschinell gebunden werden konnte. In diesem Format mussten sicher fünfzig Prozent der Bindearbeit von Hand ausgeführt werden. Ein erstes Indiz, dass wir es hier mit einem Hybrid zu tun haben. Mit einem Projekt, das einerseits wie eine graue Aktenschachtel daherkommt, andererseits aber von Hand gearbeitet ist. Ein noch deutlicheres Indiz dafür ist der goldene Buchschnitt. Alle Seiten wirken, als seien ihre Kanten wie bei Bibeln mit einem Hauch von Blattgold belegt. Schliesslich lesen wir im Anhang, dass die Albumversion des Buches auf warmtonigem Hahnemühle-Photo-Rag-Papier in der Stärke von 188 g/m2 gedruckt werden wird. Die Mischung aus Understatement und Kostbarkeit ist perfekt. Sie erinnert an das Vorgehen in der Arte povera, die oft ärmer erschien, als sie in Wirklichkeit angedacht und angelegt war.
Das Buch durchzieht ein Gefühl von Backstage. Wir scheinen mit Zeitverzögerung am Archivieren und Inventarisieren von 27 Alben der Pereira Passos / Augusto Malto Collection, die sich in den Archiven der Stadt Rio de Janeiro befinden, teilzunehmen. Albumumschläge, Fotorückseiten mit rudimentären handschriftlichen Anzeichen einer Inventarisierung, knappe Beschreibungen der abgebildeten Szenerien wechseln ab mit einer Reihe von Fotografien, die über das Buch verstreut im Wesentlichen vom Stadtleben vermutlich in Rio erzählen. Beim Durchblättern erahnen wir es vielleicht, doch erst mit dem Lesen der Einleitung wird deutlich: Hier wird von einem Diebstahl berichtet. Von der Ungeheuerlichkeit eines allmählichen oder schnellen Verschwindens vieler wertvoller Dokumente aus dem Archiv der Stadt, darunter auch 19 der 27 Alben aus der Pereira-Passos-Sammlung, die vor allem Fotografien des Präfekturfotografen Augusto Malto und seiner Söhne aus der ersten Hälfte des 20. Jahr hunderts enthielt. Ein Raub, der erst im Juni 2006 entdeckt wurde. Die meisten Boxen standen zwar weiterhin auf den Gestellen, aber im Inneren kamen zahlreiche Spuren von Vandalismus zum Vorschein. Fotos waren ausgeschnitten und gestohlen worden, Seiten zerrissen, in einzelnen Fällen fanden sich sogar Umschläge ohne jeglichen Inhalt. Manchmal fehlte alles.
Der Titel dieses Buches, AO1 [COD.19.I.I.43]- A27 [S | COD.23], spiegelt das Ordnungssystem der ursprünglichen Inventarisierung der 27 Alben wider. Die Mischung aus einfachem grauem Karton und Goldschnitt wiederum spielt auf das Zwitterdasein von Dokumenten in Archiven an. Sie sind auf der einen Seite einfache Dokumente, aber gleichzeitig wertvolle Erinnerungsstücke, kleine visuelle Denkmale der Stadtgeschichte, Puzzlesteine des kollektiven Erinnerns. Verschwinden sie, entstehen Lücken, die nie mehr geschlossen werden können. Vergleichbar den Leerstellen des Denkens und Erinnerns bei einer Demenzerkrankung. Rosângela Rennó hat vor vier Jahren schon einmal über einen ähnlichen Fall berichtet und ihn in gleicher Weise publiziert: 2005-510117385-5 berichtet in visueller Form über die Folgen eines Diebstahls von 751 Fotografien aus der Sammlung D. Thereza Christina Maria aus einer 23'000 Fotografien umfassenden Privatsammlung, die Kaiser Dom Pedro II. 1889 nach der Proklamation der Republik Brasilien der Nationalbibliothek geschenkt hatte. Rosângela Rennó fotografierte darin die Rückseiten der 101 wiedergefundenen Fotografien. Dort sind die Schäden und Eingriffe an den Fotografien dokumentiert, etwa der Versuch, den Stempel der Bibliothek wegzuätzen, um die Bilder besser verkaufen zu können.
Rosângela Rennó thematisiert in diesen zwei Archivbüchern – ein drittes ist geplant – auf stille, aber präzis-stoffliche Weise das Thema der kulturellen Amnesie, des sorglosen Umgangs mit dem kulturellen Erbe in Brasilien. Das junge Land strebe, so äusserte sich Rennó im Gespräch, mit verschlingender Kraft nach vorn und verdränge systematisch die Ordnung des Geschehenen, die Erinnerung an die Vergangenheit. Der zentrale Handlungsmotor ihres Schaffens ist entsprechend eine dauerhafte Aneignung gegen das Vergessen, ein Sammeln und Aufarbeiten von Materialien und ihren Geschichten – zur Ausformung einer visuellen Geschichte Brasiliens.