September 2013  /  Du 839

AO1 [COD.19.I.I.43]-A27 [S | COD.23]

<p>Buchbestellungen nur direkt &uuml;ber die K&uuml;nstlerin: rosangelarenno@gmail.com</p>

Buchbestellungen nur direkt über die Künstlerin: rosangelarenno@gmail.com

Ein wunderbares, auch wundersames Buch gewann dieses Jahr den Historical Book Award am Fotofestival in Arles. Es trägt den zunächst rätselhaften Titel AO1 [COD.19.I.I.43]- A27 [S | COD.23], der mit kleiner, wenig auf­fallender Typografie in einen blossen, handels­üblichen grauen Karton eingeprägt ist. Wei­ter unten steht zusätzlich Rosângela Rennó. Beides in Grossbuchstaben geschrieben. We­der auf der Vorder- noch auf der Rückseite oder auf dem Buchrücken gibt es zusätzliche Informationen. Zwei dicke graue Pappkar­tons fassen das grosse, 34,5 Zentimeter hohe und 29 Zentimeter breite Buch ein, der Buch­rücken ist in einem dunklen, leicht ausge­waschenen blauen Leinen gehalten. Das Vor­satzpapier erinnert mich an Muster von gewachsten Papieren, mit denen meine Mut­ter in meiner Kindheit jeweils die Schub­laden in der Küche ausgelegt hatte. Die For­matangabe ist wichtig, weil das Buch eine so stattliche Grösse hat, dass es nicht mehr maschinell gebunden werden konnte. In die­sem Format mussten sicher fünfzig Prozent der Bindearbeit von Hand ausgeführt wer­den. Ein erstes Indiz, dass wir es hier mit einem Hybrid zu tun haben. Mit einem Pro­jekt, das einerseits wie eine graue Akten­schachtel daherkommt, andererseits aber von Hand gearbeitet ist. Ein noch deutlicheres Indiz dafür ist der goldene Buchschnitt. Alle Seiten wirken, als seien ihre Kanten wie bei Bibeln mit einem Hauch von Blattgold be­legt. Schliesslich lesen wir im Anhang, dass die Albumversion des Buches auf warmtoni­gem Hahnemühle­-Photo-­Rag-­Papier in der Stärke von 188 g/m2 gedruckt werden wird. Die Mischung aus Understatement und Kost­barkeit ist perfekt. Sie erinnert an das Vor­gehen in der Arte povera, die oft ärmer erschien, als sie in Wirklichkeit angedacht und ange­legt war. 

Das Buch durchzieht ein Gefühl von Back­stage. Wir scheinen mit Zeitverzögerung am Archivieren und Inventarisieren von 27 Al­ben der Pereira Passos / Augusto Malto Col­lection, die sich in den Archiven der Stadt Rio de Janeiro befinden, teilzunehmen. Album­umschläge, Fotorückseiten mit rudimentä­ren handschriftlichen Anzeichen einer In­ventarisierung, knappe Beschreibungen der abgebildeten Szenerien wechseln ab mit einer Reihe von Fotografien, die über das Buch verstreut im Wesentlichen vom Stadt­leben vermutlich in Rio erzählen. Beim Durch­blättern erahnen wir es vielleicht, doch erst mit dem Lesen der Einleitung wird deutlich: Hier wird von einem Diebstahl berichtet. Von der Ungeheuerlichkeit eines allmählichen oder schnellen Verschwindens vieler wert­voller Dokumente aus dem Archiv der Stadt, darunter auch 19 der 27 Alben aus der Pereira­-Passos­-Sammlung, die vor allem Fotografien des Präfekturfotografen Augusto Malto und seiner Söhne aus der ersten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts enthielt. Ein Raub, der erst im Juni 2006 entdeckt wurde. Die meisten Boxen standen zwar weiterhin auf den Gestellen, aber im Inneren kamen zahlreiche Spuren von Vandalismus zum Vorschein. Fotos wa­ren ausgeschnitten und gestohlen worden, Seiten zerrissen, in einzelnen Fällen fanden sich sogar Umschläge ohne jeglichen Inhalt. Manchmal fehlte alles. 

Der Titel dieses Buches, AO1 [COD.19.I.I.43]- A27 [S | COD.23], spiegelt das Ordnungssys­tem der ursprünglichen Inventarisierung der 27 Alben wider. Die Mischung aus einfachem grauem Karton und Goldschnitt wiederum spielt auf das Zwitterdasein von Dokumenten in Archiven an. Sie sind auf der einen Seite einfache Dokumente, aber gleichzeitig wert­volle Erinnerungsstücke, kleine visuelle Denk­male der Stadtgeschichte, Puzzlesteine des kollektiven Erinnerns. Verschwinden sie, ent­stehen Lücken, die nie mehr geschlossen werden können. Vergleichbar den Leerstel­len des Denkens und Erinnerns bei einer Demenzerkrankung. Rosângela Rennó hat vor vier Jahren schon einmal über einen ähnlichen Fall berichtet und ihn in gleicher Weise publiziert: 2005-510117385-5 berichtet in visueller Form über die Folgen eines Dieb­stahls von 751 Fotografien aus der Samm­lung D. Thereza Christina Maria aus einer 23'000 Fotografien umfassenden Privatsamm­lung, die Kaiser Dom Pedro II. 1889 nach der Proklamation der Republik Brasilien der Na­tionalbibliothek geschenkt hatte. Rosângela Rennó fotografierte darin die Rückseiten der 101 wiedergefundenen Fotografien. Dort sind die Schäden und Eingriffe an den Fotografien dokumentiert, etwa der Versuch, den Stempel der Bibliothek wegzuätzen, um die Bilder bes­ser verkaufen zu können. 

Rosângela Rennó thematisiert in diesen zwei Archivbüchern – ein drittes ist geplant – auf stille, aber präzis­-stoffliche Weise das Thema der kulturellen Amnesie, des sorg­losen Umgangs mit dem kulturellen Erbe in Brasilien. Das junge Land strebe, so äusserte sich Rennó im Gespräch, mit verschlingender Kraft nach vorn und verdränge systematisch die Ordnung des Geschehenen, die Erinne­rung an die Vergangenheit. Der zentrale Hand­lungsmotor ihres Schaffens ist entsprechend eine dauerhafte Aneignung gegen das Ver­gessen, ein Sammeln und Aufarbeiten von Materialien und ihren Geschichten – zur Ausformung einer visuellen Geschichte Bra­siliens.