Oktober 2012  /  Du 830

«Arles!» – «Arles!» – «Arles!»

<p>Vincent Fournier: <em>The Man Machine, Reem B #7 [Pal]</em>, Barcelona, 2010</p>

Vincent Fournier: The Man Machine, Reem B #7 [Pal], Barcelona, 2010

Das Fotofestival in Arles, das jeweils von Anfang Juli bis Ende September für rund sechzig Fotografinnen und Fotografen eine Ausstellung einrichtet sowie zahlreiche Gespräche und Workshops organisiert, stellte den Sommer 2012 unter das Thema Une école française, eine französische Schule. Ein überraschendes Thema, das ohne nähere Erklärung nicht ganz verständlich ist. Die bekannteste «Schule» der Fotografie ist gewiss die Düsseldorfer Schule, mit Bernd und Hilla Becher als Lehrern und ihren berühmten Studenten Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth, Candida Höfer und vielen anderen. Zur gleichen Zeit sprach man auch von der Vancouver Schule mit den kanadischen Bildreflektierern Jeff Wall, Ken Lum, Ian Wallace und Roy Arden. Oder von der Londoner Schule, dem Polytechnic of Central London, mit Victor Burgin, Karen Knorr und Olivier Richon, die Bild und Text in Beziehung setzten und über Repräsentation nachdachten. Etwas später folgte Yale und als Dozenten Tod Papageorge, Gregory Crewdson, Philip-Lorca diCorcia sowie die vielen Studienabgängerinnen, zum Beispiel Anna Gaskell, Dana Hoey oder Justine Kurland, die als Yale Girls mit einer neuen Form von inszeniertem fantastischem Realismus bekannt geworden sind. Dann die Leipziger Schule mit ihrem soziologisch angelegten, schwer-dokumentarischen Stadtlandschaftsblick und zuletzt die Helsinki School und ihre oft elegisch-gesättigten Farbbilder von Fotografinnen und Fotografen wie Jorma Puranen, Elina Brotherus und Anni Leppälä. 

All diesen Schulen ist eigen, dass sich über die Vielfalt der einzelnen Positionen hinaus eine Zeit lang eine Art Kanon des fotografischen Denkens und Gestaltens bildet, der eine Schule auszeichnet und berühmt gemacht hat. Gerade diese Einheit, die Geschlossenheit, das prägnante Auftreten geht der französischen Fotografie der letzten dreissig Jahre jedoch grundsätzlich ab. Die französische Fotografie des zwanzigsten Jahrhunderts hat mit Fotografen wie Eugène Atget, Brassaï, André Kertész, Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Willy Ronis und vielen anderen eine sehr mächtige Spur in die Geschichte der Fotografie gelegt. Dieses Erbe der französischen, besonders der französisch-humanistischen Fotografie wiegt offenbar so schwer, dass sie ein Vakuum ausgelöst hat, dass die Szene der 1980er- und 1990er-Jahre ausgelaugt wirkte. Fotografen spurten oft als Epigonen auf den vorgezeigten Wegen weiter, während neue Formen, neue Haltungen und Bildsprachen sich jahrelang schwertaten. Die Fotografie aus der Fotowelt traf dabei kaum je auf die Fotografie aus der Kunst. 

Eine Schule in diesem stilbildenden Sinne kann also mit dem Titel des diesjährigen Festivals nicht gemeint sein, denn zu heterogen sind die aktuellen Positionen in Frankreich auch heute. Es wird dann schnell klar, dass der verallgemeinernde Begriff der Schule viel konkreter gedacht ist: 1982 wurde in Arles die ENSP gegründet, die Ecole Nationale Supérieure de la Photographie d’Arles. Seither sind drei Jahrzehnte vergangen. Diese Zeitspanne nun nahm Arles zum Anlass, die Lehrer und teils auch Gründer dieser Schule – Alain Desvergnes, Arnaud Claass, Christian Milovanoff – und einige Schulabgänger der letzten Jahre vorzustellen. Zusammen mit je drei «Entdeckungen» aus fünf anderen Schulen, aus dem Royal College of Art in London zum Beispiel oder aus dem Market Photo Workshop in Johannesburg. Vincent Fourniers augenzwinkernde Konfrontation von Wissenschaft und Realität, Valérie Jouves semikonzeptuelle Dokumentation von schreiender Stille im Gazastreifen, Mehdi Meddacis Mehrkanal-Video- und -Fotoinstallation von existenziellen Momenten der Migration, Oliver Metzgers brillante Parodie des Schönheitskults oder Bruno Serralongues absichts- und eigenschaftslose Reise in den Südsudan waren einige der Höhepunkte in den weitläufigen ehemaligen Werkstätten der SNCF. 

«Arles!» – «Arles!» – «Arles!», rief der Bahnhofsvorstand jeweils dreimal, fast gemächlich, mit langem A und stimmhafter Endsilbe, als in den 1970er- und 1980er-Jahren die Pariser und mit ihr die europäische Fotocommunity in ratternden Schnellzügen in die Provence reisten. Damals war es noch diese verschworene Einheit der reportierenden, dokumentierenden, Anteil nehmenden Schwarz-Weiss-Fotografen, die in der Nachfolge des französischen Humanismus jeden Sommer genau wussten, was fotografisch getan werden musste, was gut war und was auf keinen Fall ging. Doch gerade seit diesen 1970er-Jahren hat sich die Fotografie explosiv verändert, haben sich die Parameter verschoben, die Führungsposition des visuellen Berichtens ging ans Fernsehen verloren, und das medienreflektierende visuelle Denken setzte sich durch. Arles hat diesen Wechsel lange verschlafen, war deshalb Ende der 1980er-Jahre zu einem langweiligen, immer wieder die gleichen Positionen pflegenden Altenteil geworden. Erst die letzten zehn Jahre stehen im Zeichen der Erneuerung. Das Festival diskutiert nun unterschiedliche Verständnisse von Fotografie, konfrontiert deutlicher als zuvor Kunst und Fotografie. Dennoch wirken diese Versuche immer wieder mal auch etwas hilflos. Es ist wohl noch ein weiter Weg bis zum geplanten, strahlend neuen, von Frank O. Gehry entworfenen Zentrum der Fotografie und vielleicht noch etwas länger bis zu einer neuen, international umworbenen Ecole de France.