2004

Arnold Odermatt - Karambolagen
Ausstellungseinführung [Fotomuseum Winterthur]

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Ein klarer Sonntagmorgen war es. Über Nacht ist es kalt geworden. Zu sechst fuhren wir in die Berge. Vier Erwachsene und zwei kleine Kinder, alle in einem Fiat 1400. Ich war damals fünf Jahre alt. Ein leichtes Schlingern, Gegensteuer, das Aufprallen an einer Gartenmauer, dann hörte ich, wie jemand sagte: Alle mit Eisen an den Schuhen sollen dem Auto fernbleiben, Benzin laufe aus. Meine Schwester und ich lagen ganz unten, das Auto war umgekippt, stand mit der Seite nach oben. Später sassen wir zitternd in einer Bauernstube, pflegten die kleinen Verletzungen. Beulen, aufgebissene Lippen, später dann doch ein Jochbeinbruch, beim Vater, und ein Trauma bei der Mutter. Fussgänger wurden keine verletzt, der Gottesdienst hatte schon begonnen, der Gehsteig war leer. Gott sei Dank, wie es sinnigerweise hiess.

Es ist anzunehmen, dass dieser Selbstunfall – wegen Glatteis auf der Brücke – fotografiert worden ist. Und zeitlich hätte es gut hinkommen können, dass der Polizist Arnold Odermatt mit seiner Rolleiflex sehr sorgfältig den Blick auf den seitlich gekippten Wagen und dann auf die mit Kreide nachgezogenen Bremsspuren – bis zur Gartenmauer und wieder zurück – gerichtet hätte. Geographisch hingegen kommt es nicht ganz hin. Unser Weg führte ins Skigebiet der Flumserberge, der Unfall geschah vor dem Kerenzerberg (vor der Walenseeautobahn) und nicht in der Innerschweiz, im Revier seines Kantons Nidwalden.

Doch der Unfall war typisch, auch wenn er recht glimpflich abgelaufen war. Das Auto war mit sechs Personen deutlich überladen. Damals wurden die Gesetze noch large gehandhabt und wahrgenommen. Arnold Odermatt sagt selbst: Innerorts wurde viel zu schnell gefahren, viele Leute waren betrunken. Doch wir hatten kaum Möglichkeiten, sie zur Rechenschaft zu ziehen: wir hatten lange Zeit nur Fahrräder und eine Taschenlampe. Die Statistik im Kanton Nidwalden spricht Bände: in den Jahren 1946, 47, 48 gab es im Kanton Nidwalden 600 Motorfahrzeuge, Autos und Motorräder zusammengezählt. Und in diesen Jahren zählte man jedes Jahr 9 Tote. Heute zählt man 30'000 Fahrzeuge in Nidwalden, nicht gerechnet die Autobahn und der mächtige Tourismusverkehr Richtung Berner Oberland, und zählt 1 Toten pro Jahr.

 Die geschichteten Leiber im Wagen, das mühselige, aber eilige Herauskraxeln, das zittrige Trinken aus einer Tasse, die Schweissausbrüche, all diese Momente des beschriebenen Unfalls vor 45 Jahren, der Augenblicke danach, wären nicht auf dem Foto von Arnold Odermatt zu sehen gewesen. Diese Geschichten sind nicht seine Aufgabe, für diese Geschichten hatte er gar keine Zeit. Tauchte er an einem Unfallort auf, dann waren zuerst die Verletzten zu versorgen (Ambulanz gab es lange Zeit nicht, vorbeifahrende Autos wurden angehalten), schliesslich der genaue Polizeirapport zu verfassen. Und hier ist Arnold Odermatt Pionier, dass auf seinen Vorstoss hin die Fotografie als Dokument überhaupt erst eingeführt worden ist. Und erst wenn das alles vorüber war, begann die Zeit des sorgfältigen Fotografierens. Odermatts Bilder sind auffallend sauber, aufgeräumt, bis auf das Tatfahrzeug. Er fotografiert nach der Tat, manchmal eine Weile danach, wenn sich die Erzählung, auch der Schrecken verflüchtigt hat. Wenn die Situation es erlaubt, sich der entstandenen Konstellation wertfrei, bildhaft zu nähern.

Zwei Typen von Fotografien prägen die “Karambolagen”: Landschaftsfotografien und fotografierte Skulpturen. Da ist einmal die schweizerische Landschaft mit ihren Wiesen, Bäumen und Seen, die immer ein wenig sonntäglich wirkt. Sie wird in Odermatts Bildern unfreiwillig zu einer Bühne für Kuriosa. Eine ruhige, meist sanfte, leicht schläfrige Landschaft wird an einer Stelle punktiert – peng, zwei Fahrzeuge ineinander verkeilt – oder überzogen von einem merkwürdigen Kratzer mit Endpunkt, einer Bremsspur und an ihrem Ende ein Auto, aufgeprallt an einem Baum, einer Wand, die Abschrankung durchtrennt, um einen Pfahl geschleudert und aufgetrennt, halb im See gelandet. Unversehrte Idylle wird aufgescheucht, als würde jemand mit Niedertracht Farbe in ein fertiges Gemälde schmieren oder mit Lachen eine Comixfigur platzieren. Eine Unfallstelle mitten in der Ordnung. Ein Unfall der Ordnung, gesäubert und bereits wieder “soweit” geordnet.

Der zweite Typus zieht den Blickradius weit enger, fokussiert auf das Auto, ist skulptural: Nahaufnahmen von ineinander verkeilten Wagen, von aufgeschlitzten Kotflügeln, aufgerissenen Kühlerhauben, zerdepperten Scheiben. Das Volumen türmt sich vor uns auf, die äussere Haut aufgefaltet, und formuliert ungewollt das Aufeinanderprallen von intakter und gequetschter, von geschlossener und offener Form. Eine Art von “unvoluntary sculptures” entstehen durch die nüchtern, sachlich und präzis aufgenommenen Fotografien.

“Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung des Realitätsmonopols, wie es in der bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird. In der ästhetischen Formgebung, die in diesem Bruch entspringt, erscheint die fiktive Welt der Kunst als die wahre Wirklichkeit”, schreibt Herbert Marcuse im Zeitraum, in dem viele der Odermatt-Fotos entstanden sind. Mit ein wenig Augenzwinkern kann man dieses Zitat den form- und bildbewussten Odermatt-Fotos unterlegen. Der Unfall entfunktionalisiert das Fahrzeug, verwandelt es schlagartig in eine Fiktion, in einen Dinosaurier der Jetztzeit. Unfallsurrealismus im Alltag. Und bei aller Heftigkeit des Aufprallens, der Zerstörung dominiert nach der Tat die Komik über der Tragik.

Meine Damen und Herren,

diese beiden Ausstellungen von John Waters und Arnold Odermatt, mit ihren sehr unterschiedlichen , und doch verwandten Eigenschaften, Crashes, konnten wir zusammen- und zueinanderstellen, weil Sie das Fotomuseum Winterthur unterstützen. In diesem Fall gilt unser besonderer Dank Herrn Felix Dasser von der Ars Rhenia Stiftung, welche es ermöglichte, die John Waters Ausstellung nach Europa zu holen. Oder der Kommission für Kultur und Denkmalpflege Nidwalden und der Kantonspolizei Zürich für ihre Hilfe bei der Arnold Odermatt Ausstellung. Ihnen allen hier gilt aber unser gemeinsamer grosser Dank, ob sie uns als Patron oder als Sponsor unterstützen, ob sie uns finanziell oder mental unterstützen. Ein Projekt wie das Fotomuseum Winterthur, das sich für ein zentrales Bildmedium unserer Gesellschaft interessiert, für die Frage, wie dieses Medium eingesetzt, genutzt, verstanden, missbraucht wird, und dadurch immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, braucht diese breite Abstützung. Wir bleiben dran, mit Vergnügen und Energie. Sie bleiben dran, mit Interesse und Treue. Dafür danke ich Ihnen im Namen des gesamten Museums, des Stiftungsrates und des Vereinsvorstandes für Ihre Unterstützung und wünsche Ihnen nun: guten Appetit, beim Hauptgang. Es ist Buffetservice, Sie dürfen sich bedienen.