Juli 2011  /  Du 818

Auf Reisen nach der Natur

<p>Rémy Markowitsch: <em>045</em> (2004), aus der Serie On <em>Travel</em></p>

Rémy Markowitsch: 045 (2004), aus der Serie On Travel

Rémy Markowitsch reproduziert. Und reproduziert. Und zwar Reproduktionen von Bildern aus Büchern. Wiedergaben von fotografierten Landschaften, Pflanzen, Tieren und Menschen. Wiedergaben vom Verlauf der Zeit. Markowitsch wählt bei seinen Bildfindungen Konstellationen aus: Buchseiten, die vorne und hinten mit einem Bildmotiv bedruckt sind. Hält man diese Buchseiten ins Licht, so schimmert das rückseitige Motiv durch das Papier hindurch, und es entsteht ein Effekt, der einer fotografischen Doppelbelichtung verwandt ist. Rémy Markowitsch bedient sich der Bücher als visueller Archive des Wissens. Er beschreibt sie nicht, sondern beleuchtet sie, er hebt die Opazität des Papiers auf, um der doppelseitigen Ablagerung ein Bild abzugewinnen. Ein bisschen verhält er sich wie ein Chirurg, der Bücher aufschneidet und durchleuchtet. Das, was wir da sehen, ist echt, war wirklich da, hat sich im Durchlicht so gezeigt. 

Die Bildwelten, die seziert und durchs Kombinieren neu verfugt werden, handeln manchmal selbst von Verletzungen. Zum Beispiel jene, die die krankenpflegerische Hilfe imitieren (Lehrbuch für häusliche Krankenpflegerkurse des Schweizerischen Roten Kreuzes, 1944), oder Bilder aus Haltungserziehung (erschienen 1967 im volkseigenen Verlag Volk und Wissen), in denen den Anfängen gewehrt wird, den «durch die technische Revolution hervorgerufenen Veränderungen der körperlichen und geistigen Beanspruchung der Werktätigen», und zwar mit der Simulation von präventiven Haltungsturnübungen. 

Rémy Markowitsch sammelt Bücher mit abgelegtem Wissen, mit gepressten Sichten der Welt, aus verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Techniken gedruckt. Er sammelt Kulturgut in Abbildungen der Welt, er sammelt Vorgefertigtes, doch er behandelt es wie ein Rohprodukt, stellt es in neues Licht, um herauszufinden, was uns die Bilder sonst noch zu sagen haben. Er verwandelt opakes Trägermaterial in einen leuchtenden Schirm. Die Aufklärung (engl. enlightenment) warf ein starkes Licht auf die Dinge; die Moderne vollendete es mit immer aufwendigeren Apparaten, um von Ansichten zu Einsichten zu gelangen, um dahinterzusehen, Strukturen hinter der Oberfläche auszumachen, die Grenze des Sichtbaren weiter nach hinten, nach innen zu schieben. Bei all dem Durchleuchten – mussten wir als Schüler nicht zu häufig in die Schirmbildzentrale? – war grössere, tiefere, echtere Wahrheit das Ziel, das Erkennen von Strukturen, Normen und ihren Abweichungen, den Krankheiten. 

Doch Markowitschs Schirmbilder, seine visuellen Palimpseste klären vorerst nicht, sie verunklären vielmehr. Durchs Sichtbarmachen, Durchleuchten verwischt sich die Schärfe der Darstellung, werden Träger und Information gleichwertig. Das Rauschen der Papierstruktur als eines materiellen Trägers, das Sausen der Rasterpunkte als eigentlicher Träger der Information stört die ursprüngliche Repräsentation. Markowitsch führt so die Mimesis ad absurdum. Seine mechanistische Kopie einer mechanistisch gedruckten Kopie einer mechanistisch fotografierten Kopie nimmt selbst eine monströse Bildrealität an, sieht schliesslich fast aus wie ein digital erzeugtes Pflanzenarrangement, wie ein etwas befremdliches Original, eine natura naturans, eine etwas verquer sich selbst hervorbringende Natur. 

Wir leben in «der Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit», wie Gernot Böhme den berühmten Titel Walter Benjamins abwandelte, wir leben mit ihr, und wir sind sie selbst. Bisher war die Natur das, was immer schon da gewesen ist, und die Technik das, was wir machen. Wir würden nur sauren Wein trinken und saure Äpfel essen, wäre das immer so strikt getrennt gewesen, wie es sich in unseren Köpfen darstellt, aber heute ist eine Verschmelzung von Natur und Technik in einem Masse möglich, die der Bedeutung der Kernspaltung in nichts nachsteht. Wir haben zwar die Natur noch längst nicht «ausgeschöpft», könnten uns noch Jahrhunderte mit Erkunden und Nachahmen, mit der Mimesis bescheiden, aber wir haben ein paar geheime Schlüssel entdeckt, die unsere Eingriffe grundsätzlich verändern. Wir wandeln uns von Nachahmern zu Schöpfern. 

Markowitschs Kreuzungen von Menschen, Tieren, Blumen, Pflanzen und Landschaften erinnern an die surrealistische Praxis des Beschneidens, Verdoppelns, Vervielfachens, des Cadavre Exquis. Die Surrealisten wollten das Phantasmagorische hervorzaubern, dem Informen, der verdrängten Gegenwelt zum Recht verhelfen. 

In Markowitschs On Travel (2004) thematisieren Mischlandschaften und Mischwesen unser Verhältnis mit dem Anderen, dem Fremden, mit den «traurigen Tropen» und Sümpfen in uns selbst. In The Onion Option und Bullish on Bulbs von 2007 verweisen Überlagerungen von Tulpenbildern auf die Tulpenmanie im holländischen 17. Jahrhundert, auf den ausser Rand und Band geratenen Tulpenzwiebelhandel als Beispiel früher Spekulation. Schadenfreude, seine neueste fotografische Arbeit von 2009, verdankt sich dem Wirken von aufsteigender Feuchtigkeit. Ein Katalog des Auktionshauses Fischer in Luzern hat, von vorne gesehen intakt, von hinten her so viel Wasser aufgesogen, dass er erst zum Schwamm und dann, wieder getrocknet, zum verbackenen Papierziegel, zur verbackenen Geschichte wird, in der sich christliche und jüdische Ikonografie konterkarieren, sich gegenseitig kommentieren. 

Rémy Markowitschs eigene Weise, in Büchern zu blättern, das gedruckte Wissen neu aufzufächern, führt über die einfachen Handlungen hinweg zu komplexen Bildwelten, zu einem intensiven Nachdenken über das Verdecken im Zeigen und das Zeigen im Verdecken. Sein Durchleuchten wandelt sich immer stärker zur kritischen visuellen Kulturund Erinnerungsarbeit.