2006  /  Hans Knuchel: Augentrost (Zürich)

Augenspiele

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Seit meiner Kindheit mache ich im Bett Augenspiele. Ich decke das eine Auge zu und schaue mit dem anderen. Anschliessend kehre ich die Reihenfolge um und beginne wieder von neuem. Das Augen-auf-und-Augen-zu-Spiel wird begleitet vom Wunsch zu vergleichen: Was sehe ich links, wenn ich nur links schaue, was rechts, wenn ich rechts schaue. Auf diese Weise habe ich herausgefunden, dass meine beiden Augen die Welt nicht in exakt gleichen Farben wiedergeben. Welches Auge hat wohl Recht? Das kühler oder das wärmer sehende oder beide erst in der Kombination? Gleichen sich die Abweichun­gen in der Addition aus oder verdoppeln sie sich? Diesen Gedanken nachzuhängen ist ebenso faszinierend wie fruchtlos, denn eine Klärung gibt es wohl kaum. Die Frage, wie bläulich oder halt doch leicht rötlich das Weiss der Wände, der Schränke im Schlafzimmer nun sei, lässt sich auch kommunikativ, im Gespräch nicht klären. Sprache ist nicht kalibriert, hängt schief zur Realität, wie das linke oder rechte Auge. Mein Rot ist nicht Dein Rot.

Das Augenspiel ist auch ein Spiel mit dem Schrecken. Oft sieht das linke Auge etwas ganz anderes als das rechte. Was links zu sehen ist, verschwindet wie durch Zauberhand, sobald rechts geschaut wird. Oh Schreck, was ist falsch mit dem rechten Auge! Es sieht gerade nur die Hälfte! Wird es bald gar nichts mehr sehen?! Duvet-Wülste türmen sich vor dem rechten Auge auf, decken Teile der Sicht ab, die sich das linke Auge erobert haben. Dafür sehe ich plötzlich rechts, was ich links noch nie gesehen habe. Das rechte Auge scheint gegenüber dem linken um die Ecke schauen zu können. Im Dunkeln verschlimmert sich die Situation: die Mondlandschaft auf dem Bett sieht mal wirklich düster, dann wieder silbrig glänzend aus. Der beschränkte Einfall des Lichts verschärft die Einaugen­perspektive: das eine Auge sieht gar nichts, weil es sich noch nicht an die Dunkelheit unter der Bettdecke gewöhnt hat, das andere folgt neugierig dem ins Zimmer einsinkenden Mondlicht, dem Hauch von Licht und Schatten, der sich auf dem Bett ausbreitet.

Und wie steht es um das Augenpaar links von mir? Was sieht Auge Nummer drei? Das gleiche wie mein Auge Nummer eins? Was wohl Auge Nummer vier? Oder sehen alle vier etwas anderes? Vier sehr verschiedene Landschaften, vier Eindrücke, die sich in zwei Hirnen zu je einem originalen, unvergleichlichen Wahrnehmungsbild generieren lassen? Das eine Auge jedenfalls wird gerade heftig geblendet. Das nächtliche Stadtgrundlicht fällt zwischen den Vorhängen durch direkt auf das Auge. Gut, dass Schlafsäle selten geworden sind, sonst müsste ich mir, zum Beispiel in einem Zwölfersaal, die 24 Partialsichten vorstellen, die behaupten, alle das Gleiche gesehen zu haben und doch sehr Unterschiedliches „erzählen“. Welche ein Geschiebe, Gewürge, welch ein Purzeln von Sichten, die sich überschlagen und nie deckungsgleich werden. Jedes einzelne Auge meint gar, es sehe dreidimensional, nur weil ihm das Hirn das so vorgibt.

Dann plötzlich: die beiden Augen treffen blendungsfrei auf das Objekt. Strahlen es von zwei leicht verschobenen Seiten her an, so dass sich die Schachtel, das Bett, der Schrank zu einem 3D-Objekt aufspielen und zurückstrahlen kann. Doch keiner schaut hin, niemand bemerkt die geglückte Sicht sonderlich, nicht einmal die beiden Augen selbst. Das ist courant normal, das Normalste der Welt. Wir sehen dreidimensional, zumindest in der näheren Umgebung. Das Meer im Hintergrund jedoch sieht bereits wieder so flach wie ein Faltprospekt aus: unten Wasser, oben Licht. Zwei Rechtecke, die aufeinander liegen. Mitteilbare 3D-Konstruktionen sind wie erfolgreiche Kommunikationen: selten und glückhaft. Fragen wir nur einmal die Freundin, den Freund, wie das Erlebnis in den vergangenen Ferien denn wirklich gewesen sei. Deckungsgleichheit des Gesehenen würde sofort einen Trancezustand auslösen, einen Nachferienglückszustand.

Die Welt splittert sich in Milliarden von Einzelwahrnehmungen auf. Die Milliarden von unterschied­lichen Einzelwahrnehmungen veranlassen wiederum zu Milliarden von Hand­lungen, die die Welt mitgenerieren. Bei der Vorstellung des ewigen Fliessens und den Milliarden von Wahrnehmungs­splittern, die Teile dieses Fliessens herausschneiden, wird mir kubistisch, oktagonalisch, pentalisch zu Mute – bis mich der Mut der Vorstellungskraft ver­lässt. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele Dimensionen so angeschoben werden, sind es wirklich nur drei?

Dagegen sind die Stereobilder von Hans Knuchel „Augentrost“: Mal für Mal setze ich mich hin und schaue durch die Optik und merke gleich oder nach einer Weile: Es trifft sich. Es trifft sich gut. Das rechte und das linke Auge erkennen das Gleiche oder fast Gleiche, das mein Hirn dann auftürmt, aus dem Planquadrat ins Würfelartige, Dreidimensionale ausklappt, als würden Bauklötze aufeinander gestellt. Erscheinung nach Erscheinung, als seien gute Geister ein fixer Teil unserer Wahrnehmung, bilden sich im Hirn, türmen sich auf, strecken sich entgegen oder ziehen sich kontrolliert zurück. Was scheinbar so flach ist – Fotografie ist eine Subtraktion aus dem Dreidimensionalen ins Zweidimensio­nale  -, als hätte es den Körper für immer verloren, gewinnt schlagartig an Raum, als habe man zwei flache Jass­karten aneinandergelehnt, um ein Zelt zu bauen. Das Matterhorn zum Beispiel spiesst sich uns entgegen oder entflieht in den tiefsten Untergrund. Mücken tanzen im Schein von Strassenlaternen um die Wette, Geschirr fliegt uns um die Ohren, Spinnen umgarnen sich und uns, fliegende Untertassen heben sanft und in Formation ab, Käfer treten „aus dem Bild“, Gottesanbete­rinnen setzen ihr Bein auf den „Fenstersims“ der Fotografie. Selbst Schatten erheben sich, kühl und doch majestätisch fast, ein Kabel dreht sich uns spiralförmig entgegen. Es klappt. Das Hirn leistet es, baut, konstruiert. Die Zeichen stehen auf Ordnung, fast kristallklarer Ordnung.

Wir bezahlen diesen Augentrost aber mit einem Hauch Unwirklichkeit. Was wir sehen, hat einen Teil seiner Realitätsstrahlkraft verloren. Wir schauen wie in eine gläserne Botanisier­büchse und sehen die Welt als Modell, herausgelöst aus jeglichem Kontinuum, jeglichem Kontext und eingegossen in zugespitzter, hyperrealer Unwirklichkeit. Die Welt scheint wie geronnene Milch, zu Kristallstrukturen geronnene Materie zu sein. Die scharfe Umrandung der beiden Fotografien wird beim genauen Sehen unscharf, und in diesem nun schwach definierten, sich überlappenden Feld drängen sich die Objekte vor oder halten sich zurück, treten fast keck heraus oder entfernen sich in die Tiefe, in jedem Fall aber behaupten sie sich in diesem künstlichen Raum. Wir erkaufen also die Vorstellung von Räumlichkeit mit gleichzeitigem Teilwirklichkeitsverlust. Doch der Trost ist so stark, so faszinierend, so beruhigend, dass wir das gerne übersehen. Eine fast heile, jedenfalls greifbare, geordnete, für uns gebaute Welt entsteht zwischen unseren Augen.

Wie nahe die beiden Fotoaugen beim Klicken nebeneinander gestanden haben, wie stark sich die Welt von Aufnahme eins zu Aufnahme zwei verändert hat: wen kümmert’s. Ich sinke im tröstenden Glauben der Dreidimensionalität wie einst in der behaglichen Bettdecke ein. Vielleicht hat sich der Fotograf zwischen den beiden Aufnahmen an einem Wurzelstock verheddert und ist hingefallen. Mit zerkratztem Gesicht und atemlos schoss er die zweite Aufnahme. (Eine weite, offene Landschaft verlangt, damit sie dreidimensional erscheinen kann, dass die beiden Aufnahmen weit auseinander gemacht werden.) Vielleicht hat er auch dazwischen seine Liebste geküsst, wir wissen nichts davon. Wenn hingegen ein Käfer die Nase hoch kriecht, schielen unsere Augen zur Mitte. Wir wollen sehen, was „dazwischen“ geschieht, gleichzeitig verlieren wir dabei den Blickkontakt nach aussen. In der Stereo-Fotografie stört nichts diese Räumlichkeit. Es ist eine künstliche Räumlichkeit, ein Zwischenraum, in dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint. Es ist im besten Sinne ein virtueller Raum von hoher formaler und farblicher Stringenz, der sich über die Mühen des Alltags hinwegsetzt und sich, so scheint es, nur mit dem wichtigen, den strukturellen Bausteinen auseinandersetzt. Eine Augenfreude, ein Augentrost – mitten in der zunehmend ungreifbaren Wirklichkeit.