1998

Begrenzungen der Existenz
Elf von siebenundzwanzig Begehungen

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Ich komme an einem Stapel vorbei Holz- oder Blechplanken, vielleicht gefalteter Karton - wer weiss? - liegen feinsäuberlich verschnürt am Strassenrand. Abholbereit. Geschichtete Räume, Geschichtete Spuren, geschichtete Geschichte. Ihre letzte Funktion ist, als Haufen davon zu erzählen, angehäufte Erzählung zu sein. Skulptur und Worte. Skulptur und Erinnerung. Gestapelt stumm. Würde man jedoch die Schnur kappen und die Planken auseinanderziehen, so überzöge beredtes Gemurmel die Strasse, die Bildfläche, würde über den Rand hinaustreten und sich vermengen mit dem Jetzt.

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Unvermittelt steht vor mir ein verwaschen leuchtender Kubus. Wie eine Heiligenstätte der Mayas taucht er aus dem Dunkel des Dschungels auf und stellt die Frage nach der Existenz. Ist er wirklich da, leuchtet er aus dem Dunkeln, oder ist er Negativform, Spur eines Dagewesenen, Verschwundenen? Das Fotoweiss verweigert die Entscheidung. In jedem Fall begegne ich einer Aura und verstehe wie selten, dass sie mit Distanz verbunden ist. Mit Absenz gar, wenn sie nur noch Schein des Körpers ist; mit Zurückweichen, wenn sie glühend präsent ist. Röhren brechen die Hermetik auf. Kein funktionsloses Artefakt, kein Sol LeWitt-Würfel, sondern ein Gefäss, mit Zu- und Abflüssen, welcher Art auch immer.

 

Ich treffe auf zwei grosse Kisten. Obwohl fest verschnürt, ist die eine ganz und die andere ansatzweise aufgebrochen. Kaum anzunehmen, dass ihr Inhalt noch vollständig oder vollzählig ist. Etwas wurde weggenommen oder ist entwichen. Die Bänder sind noch da, zwar leicht verschoben, aber wir ahnen, dass wir vor leeren Hüllen stehen, so leer wie Antworten, deren Fragen verloren gegangen sind. Die Kisten sind noch da, doch sind sie angebrochen wie das Bild: von dem wir nicht wissen, ob die Kisten hineingeschoben oder herausgezogen worden sind.

 

Ich darf nicht eintreten. Der Raum vor mir ist verbarrikadiert. Planken im Raum oder Klebstreifen auf der (Bild-)Fläche trennen vorne und hinten, lassen eine gesperrte Zone vermuten. Achtung: Tarkowski. Beunruhigend, wie alle Tabu-Zonen - des Wissens, der Wirtschaft, des Militärs, der Medizin, des Verbrechens -, nur übertroffen von der Leere, die mir eine runde Tafel zurückspiegelt. Wo bin ich? Die Ohnmacht vor dem leeren, dem verlorenen Raum, der räumlichen Auflösung in die Leere, das Nichts, ängstigt als einzige mehr als die Angst vor der Macht, dem Auftrennen, Einteilen, Zuordnen. In welchem Namen auch immer.

 

Ich werde geführt. Bahnen geben Richtungen vor, vor der Kasse, dem Schalter, dem Zoll. Der Raum scheint "koordiniert", dunkle quadratische Flächen, schwarze Streifen, helle Kreisflächen strukturieren das Bild. Ort der Klaustrophobie. Doch das Bild hält die Waage von Offen und Zu, offeriert Wege aus der Enge - nicht im Überspringen der Abschrankung, sondern ausgerechnet als Verschwinden des Bodens. Dieser löst sich auf, so wie Wolken verziehen und Sicht und Atem freigeben, für das Aufgehen im All. Gerüst im Nichts, Koordinaten ohne Fleisch am Knochen - und doch bedrohlich für Kopf und Körper.

 

Ich schaue auf eine Ebene. Wage ich sie zu betreten? Wird sie halten oder einbrechen? Die Informationen sind rar. Stabilität und Ausrichtung sind unklar. Die Fläche ist gewellt, wirkt wie eine aufgefaltete Plane. "Allover", ohne Ende. Bildfläche und Objektebene fallen nur knapp nicht zusammen. Und gerade diese Differenz zieht den Betrachter in den Raum hinein, verführt ihn auf das offene Feld, das Glatteis, bewegt ihn, das "Informelle" zu wagen. Vielleicht findet man sich auf dem ledernen Rücken von Ionescos Rhinozeros wieder. In einem anderen Bild ortet eine begrenzende dunkle Fläche die Weite.

 

Ein Lichterkamm oder Lichterschema leitet mich einen Gang entlang nach hinten. Starkes Licht zieht (Fliegen) an und drängt (Menschen) weg. Die symmetrische Lichtorgel im Bild beleuchtet den Raum und bedroht ihn auch, drängt den Blick zugleich dem rechten Bildrand zu. Die grell-klare Ordnung wirkt unheimlich. Unruhe macht sich breit, Ungleichgewicht, Spannung stellt sich ein. Kafkaeske Konstruktion. Der Ausgang ist unbestimmt. Existiert denn einer?

 

Ich sehe zwei Bilder mit je einem schwarzen Flecken, einem flachen Körper im Zentrum. Beide Male schwarz saugend. Nur, der eine hat mit der Kraft des Schattens aller Schatten den Schatten verdrängt, er scheint sich mitten ins Licht gesetzt zu haben, der andere hingegen klebt an seinem Schatten, auch wenn er sich löst, wenn er abzuheben scheint. Paradoxerweise wirkt der erste Schattenkörper schwer, "Macht"-schwer, während den zweiten ein Hauch von Leichtigkeit zu heben scheint.

 

Vor mir zwei Räume voller Unruhe. Statik ist aufgehoben. Den ersten durchwirbeln zwei verkeilte Tornados. Überall blitzt es auf von Dunkel zu Hell und zurück. Das Erkennen einer Autowaschanlage lässt das Wasser spritzen. Den zweiten Raum holen Irrlichter heim. Mächtige, unklare, unlesbare Schatten sprengen den Raum, streifen ihm Unheimlichkeit über. Welche Zeichen sind es wohl, die mich an einen geheiligten Raum denken lassen. Zeichen der Bedrohnis?

 

Gaudenz Signorells Bilder setzen uns körperlich aus. So flach, unhaptisch und manchmal diffus-verschwommen die Fotografien auch sind, sie formen einen Bildraum, dem gegenüber der Körper des Betrachters reagiert, ja erschauert. Das Schaudern angesichts der Existenz. Man steht vor den Bildern, zögert, tritt ein, wird zurückgestossen. Der Blick antwortet auf die Zeichen, auf die Hell-Dunkel-Kontraste, die Abgründe, auf die Räumlichkeit, das Führen ins Leere, das Abprallen an der (Bild-)Fläche. Der Blick wird nicht genau geführt, wohl wird er an die Hand genommen, doch, kaum ist das Licht aus, auch wieder losgelassen. Er verliert sich dann, muss seinen Standort und seine Richtung laufend neu bestimmen. Und mit ihm der Körper. Die Fotografien durchlaufen unterschiedliche Abstraktionen, sind erkennbare Wiedergabe eines Realraumes, sind abstrakte, informelle Lichtschattenwelt, sind Modell- oder Realwelt, aber immer schaffen sie einen Bezug zum Körper, fordern sie - bei aller Abstraktion - Unmittelbarkeit ein. Das ist ihre Wirkung als "Sculpture".

Zeit scheint wie ausgeschlossen, trotz einiger Zeichen von Gegenwart. "Heute" leuchtet wohl über der ganzen Arbeit, meint aber das Existentielle, das unter die Haut, an die Nerven, an die Nieren geht. So wie die Übermalungen von Gesichtern früher vom Suchen und Formen, vom Bejahen und Verzweifeln redeten, so wie die Häutungen und die Abtastungen von Verdichtungen und Aufblätterungen, von Strukturerforschung handeln, so rührt auch diese Bildsammlung an existentiellen Erfahrungen, handelt mit bildnerischen Mitteln von Licht und Blendung, von Hülle und Gehalt, Dichte und Schwere, Abstraktion und Transparenz, Lenkung und Leere, von Macht und Ohnmacht - und vom Ewigen im Jetzt, vom Gegenwärtigen im Wiederkehrenden, in wechselnder Form.