1995  /  Benetton par Toscani (Pully)

Benetton

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Vorweg 1: die weitaus grösseren Skandale sind der Krieg in Bosnien und das HIV-Virus selbst. Vorweg 2: In dieser Publikation geschieht das, was sich Benetton selbst gewünscht hat: In der Form eines Symposiums in Buchform wird ihre Plakatwerbung diskutiert. Mit einem Votum dieser Art hat Benetton die Gegenplakataktion eines Aidskranken in Frankreich missbilligt. Vorweg 3: Man möchte gerne und immer liberal, ja positiv sein, im Sinne der Antizipation der Gegenwart ohne Vorurteile und ohne moralische Bedenken und deshalb frage ich mich besonders aufmerksam, wieso ich bei einem kleinen Teil der Benetton-Kampagnen grosse Bedenken habe. Vorweg 4: Wir reden hier nicht von künstlerischer Freiheit, auch nicht von wissenschaftlicher Freiheit, höchstens von Werbefreiheit, und dieser ist - gerade bei weltweiter Verbreitung - eine hohe Verantwortung beizumessen, wie allen komplexen, stark vernetzten Systemen unserer Zivilisation.

Mit diesen vier Vorwegs versuche ich offensichtlich, einen Kontext herzustellen, einen Rahmen zu bilden, innerhalb dessen meine Aussagen verständlicher werden. Ich tue das hier, aus argumentativen Gründen, expliziter als gewöhnlich, aus dem einzigen Grund, weil "Kontext" das Thema ist, mit dem ich den Benetton-Kampagnen begegnen möchte. Die ökonomische Sichtweise muss mich hier nicht interessieren, jedenfalls dann nicht mehr, wenn wir uns darüber einig sind, dass eine Werbekampagne letztlich immer dazu dient, den Verkauf zu fördern, die Marktanteile zu sichern und auszubauen, was und wie direkt oder mittelbar über Verkaufsanregung oder Imagepflege das auch geschieht. Die ästhetische Sichtweise muss mich hier ebenfalls nicht interessieren, zumindest bei einer Vorstellung von Aesthetik im klassisch-gebräuchlichen  Sinne, denn meines Wissens hat sich niemand über die Form des abgebildeten nackten Arsches aufgeregt. Gleich mit moralischen Kriterien anzufangen, wäre so gut, wie mit grau-braunem Novemberwetter den United Colors zu begegnen. Mein kontextuelles Kriterium ist, wie man sehen wird, vor moralischer Unterwanderung nicht gefeit, aber eher im angelsächsi­schen Sinne, im Sinne der Fairness und der Verantwortung.

Wir haben es in den achtziger Jahren begriffen, definitiv, dass eine Sache, eine Aussage, eine Information erst durch den Kontext Bedeutung erlangt, zumindest die gemeinte und verstandene Bedeutung erlangen kann. Was seit den fünfziger Jahren über den Strukturalismus und die daraus sich ergebenden Systemerforschungen zu lernen sich trocken aufdrängte, haben wir nun in den spielfreudigen, tabufreien Achtzigern in der Übertretung spielerisch gelernt: Im Wald der Zeichen zählt einzig der Kontext!

Benetton weiss davon und will nichts davon wissen. Ihr Kontext ist in jedem Falle die Waren- oder Imagewerbung, was immer sie auch tut. Das verdeutlicht zudem das Benetton-Logo "United Colors of Benetton". Und das markiert gerade auch die unwirsche Reaktion auf die Plakataktion des aidskranken Franzosen. Wir haben inzwischen zur Kenntnis genommen, dass immer wieder Meldungen in den Warenwerbe-Kontext geraten, die nicht direkt mit der Ware zu tun haben. Wir wissen, dass die Werbung unter anderem mit Bereichen der Gefühle, besonders romantischen, der Sexualität, des Besitzes, des Bedürfnisses nach Ordnung und Sicherheit arbeitet, und wir haben uns auch allmählich daran gewöhnt. Wir sind bei der Werbung als Wirtschafts-Realspiel bereit, zu verharmlosen, seltsame Verschiebungen zu akzeptieren, solange die Konnotierung positiv erfolgt.

Entsprechend stellte die allmähliche Verschiebung in der Benetton-Reklame lange Zeit überhaupt kein Problem dar. Sie passte, auch wenn sie sich anders gebärdete, bestens in den tolerierten Rahmen. Das Thema der United Colors wurde mit den verschiedenen Gruppenfotos spielerisch angegangen, war positiv, witzig, manchmal auch kitschig besetzt. Als nun Benetton zu einer Art agent provocateur wurde und grosse zeitgenössische Probleme wie Umweltverschmutzung, Aids oder den Krieg in Ex-Jugoslawien anzusprechen begann, verlor sich die Harmlosigkeit schnell. Auch diese bekannten Schreckensnachrichten geraten sofort in den Werbekontext - und der gewinnt immer, nach Punkten, über den ursprünglichen Kontext. Zumal wenn der Wechsel in auffälliger Weise gestalterisch unterstützt wird: die Werbung einer Kleiderfabrik mit dem verschmutzten Federkleid eines Vogel; die Werbung einer Kleiderfabrik mit dem nackten Hintern und einem Stempel "H.I.V. positive", der sowohl an die Prägung von Tieren wie an den Judenstern wie an das Etikett einer Jeans erinnert; die Werbung einer Kleiderfabrik mit der ausgelegten durchschossenen Kleidung (Marke? Wie nach einem Gebrauchstest.)

Dass diese Kontextverschiebung schlechter Geschmack ist, dass der Begriff "United Colors of Benetton" und das Wiesengrün des Soldatenfriedhofs und das monochrome Blauschwarz des ölverpesteten Wasservogels (mit dem roten Auge als springendem Punkt) sich in der jeweiligen Kombination zu einem heftigen Zynismus hochschaukeln, ist das uninteressant Gewöhnliche daran, aber diese Form von Kontextverschiebung ist vor allem eine Anmassung. Benetton besetzt mit seinem Zeichen Gebiete, die dieser Firma  nicht zustehen. Wir erwarten, dass sie etwas vom Kleidermachen, vom Schneidern, von Fotografie und von Werbung versteht, wir erwarten von ihr nicht, dass sie etwas von Politik versteht. Mehr noch, sie soll die Finger davon lassen, weil jedes Thema, das sie aufgreift, sofort kommerzialisiert wird. Bei Themen wie Aids und Krieg kann es nicht mehr um Freiheit, sondern nur noch um Verantwortung gehen. Benetton verkündet keine "bösen", "brutalen", "pornographischen" Nachrichten, ihr Vergehen liegt vielmehr im Erzeugen und Verbreitung einer unstatthaften Verbindung - und das wirkt bei diesen Realthemen ersten Grades schlicht obszön.

Zum Schluss die Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen a) einer Nachrichtensendung gesponsert von beispielsweise Benetton und b) von Nachrichten, die Benetton selbst verbreitet? Bei allen Vermischungen und Zynismen heutzutage denke ich dennoch: Ja klar. Bei b) ist vermutlich der gestalterische Zugriff interesssanter, während bei a) die journalistische Verantwortung gewährleistet sein sollte. Und gerade diese Verantwortung ist bei b) nicht gewährleistet, gibt es doch keine Redaktion, keinen Chefredaktor, keine Herausgeberschaft, die von journalistischer Ethik geleitet ist - und auch keine entsprechende Absicht. Bei b) ist der Werbekontext und die Werbeabsicht das sogenannte Medium, das selbst die Botschaft ist. Wer anderes behauptet, macht sich lächerlich oder benimmt sich selbstherrlich.