April 2017  /  EIKON-Jubiläumsausgabe

Bilder (Forschung und Transfer)

So attraktiv und ungemein realnah die Fotografie ein Stück Wirklichkeit festhalten kann, so intensiv und ausschliessend scheint sie, in umgekehrter Richtung, unseren Blick zu fixieren und auszurichten. In den ersten hundert und mehr Jahren der Geschichte dieses Mediums wurde unser Sehfeld derart stark vom Motiv gebannt und gefangen genommen, dass wir, vor Hunger auf Augennahrung, auf mögliche visuelle Erkenntnis starrend, kaum je über den Tellerrand hinausgeschaut haben.1 Ein optisch gefesselter Tunnelblick installierte sich, der zwar seine Sichten und Einsichten von Dekade zu Dekade verbesserte, der die Regeln des Spiels innerhalb des Bildes, des rechteckigen Rahmens immer virtuoser beherrschte, der sich schrittweise bewusst wurde, wie  stark das fotografische Bild von der technischen Entwicklung der Kameras, der Optiken und der Trägermaterialien abhängig2 war, der aber vor lauter Neugierde, Freude und Liebe zum Motiv, gepaart mit Geschäftigkeit und Geschäftssinn, kaum je links und rechts, oben und unten über den Bildrand hinaus schaute, und sich auch nie umwandte und fragte, wer denn hier gerade eine Fotografie unter welchen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und medienspezifischen Umständen gemacht hatte. 

Die fotokopernikanische Wende liess lange auf sich warten. Es dauerte bis in die sechziger-siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis, in Analogie zum Wechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild, ein Paradigmawechsel im Betrachten und Verstehen von Fotografien stattfand, bis seither schrittweise die mono-okulare Fixierung durch eine systematische, systemische, kontextualisierende Sichtweise des Mediums Fotografie ersetzt, bis multiperspektiv der Sehende, die vorgefundene Wirklichkeit, das Bild, den Träger des Bildes, das Erkenntnisinteresse, die Auftragslage, Nutzungsweise, die zeitlichen Umstände, also möglichst der gesamte mediale Kontext und die damit einhergehenden Bedeutungswechsel einbezogen wurde.  Wir benennen diesen Wechsel oft mit dem Begriff des linguistic turns, meinen damit aber nicht das nach Wittgenstein philosophische Absolute einer nicht-hintergehbaren Sprache, sondern die neue semiotische, medien- und ideologiekritische Betrachtung der Fotografie als ein codiertes System und als ein zugleich Realität wiedergebendes und erzeugendes Bild. Mit Douglas Fogle können wir den Graben, der sich in den sechziger Jahren auftat, so benennen: Der «entscheidende Augenblick» war bis weit in die siebziger Jahre hinein eine Leitformel für viele. Und zwar für diejenige Fraktion, die eine modernistische Sicht der ästhetischen Autonomie des Mediums vertrat, der die Fotografie also ausschliesslich innerhalb ihres geschlossenen Rechtecks als Gestaltungs- und Wahrheitsreich betrachtete und diskutierte. Eine Sicht, die letztlich vom Tafelbild der Fotografie ausgeht: «Diese Kluft zwischen der modernistisch ästhetischen Übersetzung einer authentischen Unmittelbarkeit durch das Festhalten einer fotografischen Essenz, mit ihren eigenen Grenzen und Möglichkeiten, und der konzeptuellen Konstruktion eines inszenierten Ereignisses, die Fotografie als ein Mittel zum Zweck verfolgt, formuliert in aller Deutlichkeit die Distanz zwischen den beiden Welten, der Welt der Kunstfotografie, und der Welt der Kunst, die in den sechziger Jahren (…) sich zunehmend dem Medium Fotografie bedient.»3 Es schien der Bruch mit der Moderne der Kunst und mit der Moderne der Fotografie nötig zu sein, also der erste Schritte in die Postmoderne, den Übergang vom Einsatz von Produktionsmitteln zum Einsatz von Reproduktionsmitteln (zum Beispiel in den Siebdrucken von Warhol und Rauschenberg)4, um das Bewusstsein der Fotografie als eine komplexe Bildmaschine in den Vordergrund rücken. Seither wird das Verständnis der Entität Fotografie, die Einheit und Absolutheit des Bildes einfach oder mehrfach aufgebrochen, in den Sehenden und das Bild, zusätzlich in das Bild und die Wirklichkeit, das Bild als Träger einer Botschaft (englisch picture), als signifiant, und das Bild als Botschaft, als Gehalt (englisch image), als signifié. In diesem Modell verkörpert sich die Vorstellung des Bildes als Teil eines Netzwerks, als eines nun nie mehr ganz festgelegten Zeichens, das sich durch die Projektionen der Betrachter, durch die zahllosen Kontexte laufend verändert, das die Wirklichkeit ‚beschattet‘ und ‚überschattet‘, ‚einblendet‘ und überblendet‘.

Thomas Ruffs Bildmaschinen

Thomas Ruffs Weg und Haltung ist dafür ein guter Einstieg. Er begann sein weit über dreissigjähriges Werk mit Interieurbildern, die zeitgenössischen Dokumentarismus vermuten liessen. Präzise gesehen, aufmerksam gerahmt, ja fast streng kadriert, als möchte er die Vielfalt der Wirklichkeit auf eine morphologisch kleine les- und verstehbare  Einheit reduzieren. Aber doch dokumentarisch wirkend, genauso wie die grossen farbigen Porträts, die in ihrer Gleichförmigkeit, in ihrer fast operationellen Strenge an offizielle, administrative Fotografien erinnern, mit denen unser Eintritt in eine Firma für die Verwaltung festgehalten wird. Die Serien «Nächte» und «Anderes Porträt» hingegen irritierten die herkömmliche Vorstellung von dokumentarischer Fotografie auf Anhieb. In beiden Serien begann das Medium, die Kamera eine transferierende Rolle zu spielen. Die Restlichtkamera verwandelt dunkle, düstere, schwarze Nacht in ein Szenario, in  eine beängstigend leere Szenerie eines grünlich eingefärbten film noirs. Die Spezialvorrichtung «Minolta-Montage-Unit 401 P» wiederum verschmilzt drei Porträts in eines, giesst drei Bildinformationen in eine Form, drei ähnliche oder verschiedene Porträts zu einem neuen fiktiven Bildnis. Dieser Bildmischer wurde in den siebziger Jahren vom Landeskriminalamt Düsseldorf für die Herstellung von Phantombilder eingesetzt, als Teil eines «mobilen Einsatztrupps für visuelle Identifizierung».5 Was der Polizei bei der Identifizierung potenzieller Straftäter half, gerinnt bei Ruff zur Irritierung unserer Vorstellung von sattelfester, unverrückbarer Identität. 

Diese und nachfolgende Serien liessen schrittweise die Kontur des Künstlers als Forscher, als Bilddemiurgen aufblitzen, der die Kamera nicht nur als optisch-mechanisches Notiergerät begreift, sondern als eine mächtige Bilderzeugungsmaschine, als komplexe «Mühle», mit der er, wie einst Wilhelm Busch die beiden Max und Moritz, die Elemente der vorgefundenen Wirklichkeit je nach Bedarf, je nach Kriterium, je nach gewähltem Aufzeichnungssystem in eine neue Bildrealität verwandelte. Wie auf einer Klaviatur spielt Ruff sich fortan durch die Genres der Fotografie, erzeugt Porträts, nächtliche Stadtszenen, Sternenbilder, Landschaften, mit Presseclips Pressebilder, mit jpgs Ideal- und Katastrophenbilder, mit einer virtuellen Dunkelkammer Fotogramme, spielend zwischen Archivar und Fotograf, zwischen Sammler und Erzeuger von Rohdaten hin- und herwechselnd, um sie schliesslich oft in grossformatige Tafelbilder auszugiessen. Michael Stoeber braucht dafür die Begriffe Körpermaschinen, Maschinenkörper, Wunschmaschinen, Computer(-maschinen), Sexmaschinen, um das Verhältnis von Mensch und Maschine und Thomas Ruffs Kunst als Bild- und Denkmaschine fassen zu können.6 Eine Bildmaschinerie, die sich die vorgefundenen, gesammelten oder erzeugten Rohstoffe der ersten, zweiten und dritten Wirklichkeit einverleibt, verwandelt und dann als Hybrid zwischen «Traum und Albtraum, Realität und Illusion, Evidenz und Geheimnis» in grosse gerahmte Flächen eingiesst – oder sie gleich, wie in den Fotogrammen, gänzlich neu, gänzlich virtuell simuliert und generiert.7

Abtastmaschine, Sammelmaschine, Seh- und Wunschmaschine: Der Fotoapparat, das Fotografieren, das Fotografischwerden-Lassen wandelt sich die Wirklichkeit an, verschlingt sie und spuckt sie schliesslich als neue Substanz aus. Jean Baudrillard nennt den Preis dafür: «Die Intensität des Bildes entspricht exakt seiner Ablehnung des Realen, seiner Erfindung einer anderen Szene. Aus einem Objekt ein Bild zu machen, heisst, all seine Dimensionen nach und nach zu entfernen: das Gewicht, die Räumlichkeit den Duft, die Tiefe, die Zeit, die Kontinuität und natürlich den Sinn. Nur um den Preis dieser De-Inkarnation gewinnt das Bild diese Kraft der Faszination.»8

Horáková-Maurer: Schärfe und Schweigen

Seit drei Dekaden nun hinterfragen (Foto-)Künstler den traditionellen, siegessicher vorgetragenen Anspruch der Fotografie als realitäts-, als gegenstandsabbildendes Medium in tiefgreifender Weise und erschüttern fortwährend diesen hergebrachten Glauben mit ihrem Gebrauch, ihrem Verständnis der Fotografie. Diese konzeptuellen Arbeiten untersuchen mit medienkritischen, repräsentationskritischen und selbstreferenziellen Ansätzen die Fotografie als komplexes Medium, sie diskutieren fotooptische und fotochemische Prozesse und Techniken, fotografische Apparaturen, das Licht, die Trägermaterialien, sowie das Fotografische insgesamt als Haltung, als besonderes, zeitgebundenes Wahrnehmungskonstrukt. Während Thomas Ruff sein Bild-Werk schrittweise entlang unterschiedlicher Sehmaschinen entwickelt, lancierten Tamara Horáková und Ewald Maurer in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten ein konzentriertes Nachdenken, Reflektieren über die materiellen und prozesshaften Bedingtheiten der Fotografie. Im allmählichen Auslaufen der analogen Fotografie, im Überschwang des digitalen Knipsens feiern sie in «Naked Ilfochrome» (2003-2005) und «50 m Ilfoflex» (2007-2009) das von ihnen bevorzugte Trägermaterial Ilfochrome (vor dem Verkauf von Ciba an Ilford als Cibachrome bekannt), das sie seit den achtziger Jahren begleitet hat. Das Papier präsentiert sich bei ihnen gleichsam selbst, als Träger, Zeichen und Bedeutung in einem, und zelebriert ebenso schwungvoll wie streng, lustvoll wie ernst und ernsthaft zugleich das Ende der analogen Welt. Konkrete, konstruktive Fotografie, die Material und Prozess (des Fotografierens, Entwickelns, Lagerns) vorstellt und reflektiert, auch in den «Grids» (2008-2009), diesen grossen schwarzen Flächen, die mit geometrisch angeordneten, feinen grünen Punkten überrastert sind. Die grünen Punkte markieren als digitale Leerstelle, als digitale Maske mögliche Bilder, die eingelesen, eingepunktet werden könnten, eine Leerstelle, ein digitales Raster, das «Potenzial» hat und offen lässt, woher, aus welcher Quelle hier allenfalls Bilder eingelesen werden. «Champignon de Vietnam» (1992), eine Serie, die mit den Negativformen von schon abgezogenen Abziehbildchen operiert, aktualisiert das Thema Positiv- und Negativbild, Innen- und Aussenform, Form und Inhalt, Rahmen und Inhalt, Halt und Freiheit noch im analogen Feld. Die Kraft der Werke von Horáková Maurer entsteht durch eine sehr eigene Mischung von minimalisierter, selbstreferenzieller Bildinformation, die jedoch durch die Art der Aufnahme und die Schärfe und Präsenz des Ilfochromes oft einen brillant-kühlen und messerscharfen Auftritt haben. Ein anwaltschaftliches Einstehen für das Denk-Bild, ein gespanntes, fast heftiges Schweigen auf Hochglanz, als zeige sich der Prozess in seinem besten, schärfsten Licht. Manchmal steht er für sich selbst, manchmal für eine harte politische Realität. In «AREAS»  (2009-2010) zum Beispiel stehen die reinpigmentfarbig gemalten, leuchtend abstrakten Formen für die oft auch düstere Geschichte von Parzellen, von Umschichtungen und Enteignungen von Grundstücken in Vergangenheit und Gegenwart.

Günther Selichar: Screens, cold

Der Bildschirm ist Fenster zur Welt und Brett vor dem Kopf zugleich. Nicht opak, nicht aus Holz, sondern milchgläsern-durchscheinend, flach, aber Tiefe vorgaukelnd. Darin bauen sich Informationen zu erkenn- und lesbaren Zeichen auf, selbst eingegeben  oder aus dem globalen Datenmeer abgezapft. Nach einem streng vorgegebenen Raster, über Darstellungsfilter wird heute der Grossteil der Information gewonnen. Günther Selichar griff dieses Phänomen um die Jahrtausendwende auf. Wie in den früheren Arbeiten «Who is Afraid of Blue, Red and Green?» und «Sources» richtete er die Aufmerksamkeit in «Screens, cold» (1997/2003) auf die Verbindung der Darstellungsmittel von abbildender Fotografie mit Ideen abstrakter, radikaler Malerei, angereichert mit der Reflexionen über die Präsenz und die Verfahren elektronischer Medien. Hier gilt sein Augenmerk nicht der Farbenstruktur, dem Bildaufbau, dem Darstellungsmodus von Videomonitoren, nicht dem Grundton eines Träger- und Übertragungsmediums, sondern es gilt dem Bildschirm als Schnittstelle zwischen realer und virtueller, zwischen analoger und digitaler Welt. Medienbilder lassen das Medium vergessen, je besser sie selbst sind, das heisst, je brillanter, feinkörniger die Fotografie, je höher die Auflösung, die Definition des Videos ist, und sie erzählen umgekehrt weit mehr vom Medium selbst, wenn das Bild am Medium ‚kleben‘ bleibt, wenn die Struktur des Mediums, wie bei Faxübertragungen, im Bild omnipräsent bleibt. Fällt das Bild ganz aus, so stehen wir vor dem funktionslosen Medium, dem Kasten, dem Apparat.

Selichars Bilder verweisen auf diese Situation, sie konzentrieren sich auf den parkierten, ausgeschalteten Bildschirm, wenn sich seine Objekthaftigkeit in seiner «Leblosigkeit» bemerkbar macht. Kalt verkörpert der Bildschirm eine kühle, stille Monochromie, heiss, also eingeschaltet, ist er der Inbegriff von Geschwätzigkeit. Im kalten Zustand ist er Abstraktion der Form und Konkretisierung des Objekts, im heissen vergessen wir den Träger und folgen der Eiligkeit, der Nebensächlichkeit, der implodierenden Erhabenheit der dargebotenen Narration. 

Die Bildschirme werden, nachdem sie ausgeschaltet sind, von Selichar ins Licht gestellt, der Schirm, das (Fenster-)Glas selbst rückt ins Zentrum, gibt dadurch seine Eigenfarbigkeit preis – monochromes Grün, Blau, Grau, Graugrün, Graublau, Militär- oder Billiardtisch-Grün – und macht uns seiner Form bewusst, vom kurzen zum gestreckten Rechteck, vom Videomonitor über das Cineramaformat zum Verhältnis eins zu drei einer elektronischen Agenda. Die einheitlichen Höhen der Arbeiten lenken die Aufmerksamkeit auf die Ausdehnung der Formen und auf ihre Rundungen. «Interfaces zwischen Bild und Dargestelltem», wie Selichar im Gespräch sagt, aber auch interfaces zwischen konkretem Gegenstand und monochromer Fläche, zwischen Präsentation der Mittel und Repräsentation des Verborgenen, zwischen Abstraktion und realnaher, synthetisierter Darstellung.

Louise Lawler: Kontextualisierung

Die sechziger und siebziger waren ikonoklastische Dekaden, mit einer starken Verweigerung des Tafelbildes, des klassischen Verständnisses vom Bild, mit einer emanzipatorischen Verweigerung der Immobilie, des gerahmten Objektes zugunsten von Performance, Happenings, von Konzeptualisierungen von Kunst, Land-Art. In den achtziger Jahren kehrte das Bild überraschenderweise zurück, und zwar mit Vehemenz. Wir sprechen deshalb von der Rückkehr der Bilder, in der Theorie, mit etwas anderer Bedeutung, vom «Image Turn», «Pictorial Turn», «Iconic Turn»  und fragen uns mit einer Louise -Lawler-Arbeit lapidar «Warum jetzt Bilder?» (Why pictures now?) Weshalb kamen sie zurück, weshalb mit solcher Wucht, und was tun die Bilder der achtziger Jahre? 

Richard Prince veröffentlichte 1983 den Text «The Velvet Well: An excerpt from Why I Go to the Movies Alone», mit den zentralen Startzeilen: «The first time he saw her, he saw her in a photograph. He had seen her before, at her job. But there, she didn’t come across or measure up anywhere near as well as she did in her picture. Behind her desk she was too real to look at, and what she did in daily life could never guarantee the effect of what usually came to be received from an objective resemblance. He had to have her on paper, a material with a flat and seamless surface ….»9 Er liefert in diesem Prosagedicht Argumente für das Begehren des Bildes, für das Begehren im und durch das Bild, das Bevorzugen des Bildes vor der Realität, ein Begehren, das schliesslich seine Erfüllung auch in der Erfahrung eines Lebens nach dem Tod erfährt. Er liefert uns einen samtenen Grund, weshalb das Bild in den achtziger Jahren zurückkehrte:  ein allmähliches Verlagern der Faszination vom Realen zum Bild des Realen. 

In der ersten «Sociéte du spectacle»10 wächst eine Generation heran, die viel stärker vom gedruckten, gebrauchten, gefundenen Foto, also von den Medien her dachte, als ausschliesslich von der herkömmlichen Aussenwelt her, der bisher sogenannten Realität, der zuverlässigen, ersten Realität. Und darin beginnen Bilder eine immer grössere Rolle zu spielen, im redaktionellen und im Werbeteil. Theoretisches Fundament, theoretisches Echo dieser Haltung ist die Medientheorie Jean Baudrillards, der in seinem wichtigsten Theorem, dem der Simulation, die Gesellschaft vollständig von den Medien beeinflusst und abhängig sieht: «Everywhere socialization is measured by the exposure to media messages. Whoever is underexposed to media is desocialized or virtually asocial.»11 Die Konsequenz seiner Sichtweise auf dieses Verhältnis kulminiert schliesslich in der Feststellung, dass soziale Ereignisse nur noch durch Medien initiiert und von diesen gespiegelt werden. Das Ergebnis sei eine von Medien produzierte Hyperrealität, in der zwischen authentischen und simulierten Ereignissen nicht mehr unterschieden werden könne – ja, auf Grund der Referenzlosigkeit medialer Zeichen eine derartige Zuschreibung sogar völlig sinnlos sei. Die Ununterscheidbarkeit zwischen (historischem) Faktum und (medialer) Simulation mündet schliesslich in den vollständigen Verlust des Zugangs zu einer konkret erfahrbaren Wirklichkeit. Das Bildsein gewinnt gleichsam ontologischen Vorrang vor dem Sein.

Louise Lawler spielt in diesem Kontext eine sehr eigene, ebenso eindringliche wie feine, präzise, zurückhaltende Rolle. Sie betreibt mit ihren Arrangements, ihren Assemblagen, ihrem Sehen der Kunst, wie sie gebraucht, gehängt, inszeniert und von anderen gesehen wird, eine komplexe Mischung aus Autorenkritik, Institutionenkritik, Autoritätenkritik mit einer Stärkung der Rezeptionsästhetik, dem feinen Hinweis, dass die Betrachter im Kontext ihrer Betrachtung das Werk «vollenden», es zeitbedingt in einer bestimmten Weise erfahren. Sie führt mit ihren Arbeiten Regie, lenkt unseren Blick auf bestimmte Weise, Kunst zu hängen, zu stellen, in den Zusammenhang mit anderen Werken zu bringen. Ihre grosse Frage zu Beginn – «Why Pictures now» – führt zu einer Art Orientierungslauf durch die verschiedenen Präsenzen, Wiederaufführungen, die Bilder je nach Umgebung, je Kontext annehmen können, die den «Kontext der Bilder als Text in Szene setzen».12 Bis zur Feststellung von übereinander gelagerten Bilder «Pictures That May or May Not Go Together» (1997/1998), bis zur klaren Differenz «Not the way you remembered (Venice)» (2006). Und zur kleinen Unsicherheit (oder einem kleinen Versäumnis) «Not yet titled» (2003/2004). Sie wird zur Kuratorin, die, mit einer Kamera «bewaffnet», uns durch verschiedene Referenzebenen von Kunstwerken führt, in offener Form, aber durchaus mit der Möglichkeit, gleichsam Kommentare abzugeben, die Bedeutung eines Werks zu unterstreichen, es zu konterkarieren, ihm eine Konnotation, einen neuen Kontext, einen anderen Bedeutungsraum beizumessen.

Tayo Onorato / Nico Krebs: Hyperreal

Onorato/Krebs surfen schmunzelnd, lachend, kichernd auf der Kante von Realität und Fiktion, von Erfahrung und Vorstellung, von Bild und Welt. Sie surfen auf dem Grad zweier oder mehrerer Realitäten, tauchen von der Welt ins Bild, vom Bild in die Welt, vom Bild ins Bild, in Bildwelten, wie ihre Nebelschwaden, Bienen- oder Heuschreckenschwärme am Bildhimmel, wie ihre alles vernetzenden Stromkabel, Kabelweichen, und sie erzeugen so das Gefühl von Durchlässigkeit, von Durchdringung, Verschachtelungen von mehreren Welten, verschiedenen Kosmen, die, gleich next door, beginnen und nirgendwo aufhören, sich miteinander verbinden und ineinander auflösen. «The Great Unreal» von 2009 liest sich wie ein wunderbarer, manchmal leicht grusliger Himmel voller Zeichen, die durch viele Welten gleiten, sich manifestieren und wieder verschwinden. Während ihre Vater und Mütter, Grossväter und Grossmütter sich den neuen komplexen Status des Bildes zäh, etwas verspannt und mit Überzeugungskraft aneignen mussten, schwingen sich die beiden frech, unbekümmert und belesen zu gleich, aufs Rad und fahren los. Oder steigen in den Wagen, bepackt mit Plunder, und kreisen in ihren eigenen Fantasien, durch vorgefundene Bildwelten hindurch mitten in die grosse Realität/Unrealität der USA und wieder raus. 

Zum Beispiel zu diesem Giebelhaus. Wer durch Amerika reist, weiss, dass das halbe Land und mehr aus Holz gebaut ist. Holz, das aussen im Finish sorgfältig verspachtelt und verputzt wird, damit das Resultat wie ein Backsteinhaus erscheint; Holz, das innen so sorgfältig drapiert und mit hochflorigem Spannteppich belegt wird, bis ein kuschelig-einfaches oder luxuriöses Nest entsteht. Wer durch die Bilderwelt Amerikas surft, erkennt hier die Ur-Situation der Real-Estate-Landschaft: Construction Sites, die nie auf Anhieb klären, ob gerade auf- oder abgebaut wird.

Ein kellerloses Fundament ist die Basis des Giebelhauses von Onorato&Krebs, grossflächige Spanholzplatten, nach innen mit Kanthölzern verstärkt, sind zu einer Aussenhaut vernagelt, die, mit einem verwirrenden System von Holzlatten temporär verstrebt, auf Stabilität, auf Ausbau und Zweckerfüllung wartet. Unklar ist, ob das angestrebte Ziel je erreicht werden kann, oder ob dieser einfache Bauversuch wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt, ob er wie der Turmbau zu Babel unerfüllt den Kräften der Zeit überlassen wird. Welchen Zweck soll diese Hütte erfüllen? Wer hat sie in Auftrag gegeben? Das Baumaterial scheint ungebraucht zu sein, neu ab «Baumarkt» bezogen. Bei Nahsicht entdeckt man in der hinteren Ecke fünf gross gemalte Buchstaben, die sich, obwohl halb verdeckt und unvollständig, einigermassen leicht zu «Go to hell» vervollständigen lassen. Ein Bau, ein Bild, eine Welt in der Schwebe der Bedeutungen.

Onorato & Krebs sind fotografische Secondos oder Terzos. Sie sind nicht nur in der bevölkerten, «man-altered», von den Menschen gestalteten, umgestochenen, in Funktion genommenen Natur gross geworden, sondern in eine exponential wachsende, Köpfe durchdringende, Realität überziehende Bilderwelt hineingeboren worden. Da war immer schon jemand, der ein Haus ins Feld gestellt hat. Da war aber auch immer schon jemand, der das Haus fotografiert, ausgestellt, in Heft- oder Buchform publiziert oder heute auf dem Internet platziert hat. Die Welt ist von so vielen Bildwelten überzogen, durchwirkt, dass die Unterscheidung von So-Seiendem und So-Scheinendem schwierig, oft unmöglich geworden ist. 

Wir sind damit, vergnügt oder verärgert, in Baudrillards «Hyperrealität» angekommen, dem Himmel voller Zeichen, in dem wir kaum mehr zur sogenannten «Realität» als Referenzort zurückdringen können. 

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1 Siehe auch Ruth Maurer-Horak, Die Krise des Motivs in der Fotografie, in: Horáková+Maurer/Hofleitner/Maurer-Horak (Hsg.) Image: /Images. Positionen zur zeitgenössischen Fotografie. Passagen, Wien 2002

2 Helmut Gernsheim, Alison Gernsheim: The History of Photography. From the Earliest Use of the Camera Obscura in the Eleventh Century Up to 1914, London, New York, Toronto 1955

3 Douglas Fogle, The Last Picture Show, in: The Last Picture Show, Artists Using Photography 1960-1982, Minneapolis Walker Art Center, 2003. Deutsches Beiheft des Fotomuseum Winterthur, 2004, Seite 9

4 Siehe Douglas Crimp: Über die Ruinen des Museums. Dresden/Basel 1996, S. 130

5 Der Spiegel, Erfolg mit Fratzen, 24.7.78. Zit. nach: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40694081.html

6 Michael Stoeber: Körpermaschinen, Maschinenkörper, Wunschmaschinen. Anmerkungen zu den „Nudes“ und „Maschinen von Thomas Ruff, in: Thomas Ruff, Machines / Maschinen“, Hatje Cantz 2003, Seiten 87-100

7 Ebenda, Seite 100 

8 Jean Baudrillard, Photographies 1985-1998, 1999, zit.nach Stoeber, ebenda, Seite 99

9 Richard Prince, The Velvet Well: An Excerpt from Why I go to the Movies Alone, in: Effects Nr. 1, New York, Summer 1983, Seite 7

10 Guy Debord: La societé du spectacle, Paris 1967

11 Jean Baudrillard: Simulacra and Simulations. Ann Arbour: UMP 2002, Seite 80

12 Philipp Kaiser: Am Anfang war die Kuh. Wiederaufführungen im Werk von Louise Lawler, in: Louise Lawler: Adjusted, München, London, New York 2013, Seite 162