So attraktiv und ungemein realnah die Fotografie ein Stück Wirklichkeit festhalten kann, so intensiv und ausschliessend scheint sie, in umgekehrter Richtung, unseren Blick zu fixieren und auszurichten. In den ersten hundert und mehr Jahren der Geschichte dieses Mediums wurde unser Sehfeld derart stark vom Motiv gebannt und gefangen genommen, dass wir, vor Hunger auf Augennahrung, auf mögliche visuelle Erkenntnis starrend, kaum je über den Tellerrand hinausgeschaut haben.1 Ein optisch gefesselter Tunnelblick installierte sich, der zwar seine Sichten und Einsichten von Dekade zu Dekade verbesserte, der die Regeln des Spiels innerhalb des Bildes, des rechteckigen Rahmens immer virtuoser beherrschte, der sich schrittweise bewusst wurde, wie stark das fotografische Bild von der technischen Entwicklung der Kameras, der Optiken und der Trägermaterialien abhängig2 war, der aber vor lauter Neugierde, Freude und Liebe zum Motiv, gepaart mit Geschäftigkeit und Geschäftssinn, kaum je links und rechts, oben und unten über den Bildrand hinaus schaute, und sich auch nie umwandte und fragte, wer denn hier gerade eine Fotografie unter welchen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und medienspezifischen Umständen gemacht hatte.
Die fotokopernikanische Wende liess lange auf sich warten. Es dauerte bis in die sechziger-siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis, in Analogie zum Wechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild, ein Paradigmawechsel im Betrachten und Verstehen von Fotografien stattfand, bis seither schrittweise die mono-okulare Fixierung durch eine systematische, systemische, kontextualisierende Sichtweise des Mediums Fotografie ersetzt, bis multiperspektiv der Sehende, die vorgefundene Wirklichkeit, das Bild, den Träger des Bildes, das Erkenntnisinteresse, die Auftragslage, Nutzungsweise, die zeitlichen Umstände, also möglichst der gesamte mediale Kontext und die damit einhergehenden Bedeutungswechsel einbezogen wurde. Wir benennen diesen Wechsel oft mit dem Begriff des linguistic turns, meinen damit aber nicht das nach Wittgenstein philosophische Absolute einer nicht-hintergehbaren Sprache, sondern die neue semiotische, medien- und ideologiekritische Betrachtung der Fotografie als ein codiertes System und als ein zugleich Realität wiedergebendes und erzeugendes Bild. Mit Douglas Fogle können wir den Graben, der sich in den sechziger Jahren auftat, so benennen: Der «entscheidende Augenblick» war bis weit in die siebziger Jahre hinein eine Leitformel für viele. Und zwar für diejenige Fraktion, die eine modernistische Sicht der ästhetischen Autonomie des Mediums vertrat, der die Fotografie also ausschliesslich innerhalb ihres geschlossenen Rechtecks als Gestaltungs- und Wahrheitsreich betrachtete und diskutierte. Eine Sicht, die letztlich vom Tafelbild der Fotografie ausgeht: «Diese Kluft zwischen der modernistisch ästhetischen Übersetzung einer authentischen Unmittelbarkeit durch das Festhalten einer fotografischen Essenz, mit ihren eigenen Grenzen und Möglichkeiten, und der konzeptuellen Konstruktion eines inszenierten Ereignisses, die Fotografie als ein Mittel zum Zweck verfolgt, formuliert in aller Deutlichkeit die Distanz zwischen den beiden Welten, der Welt der Kunstfotografie, und der Welt der Kunst, die in den sechziger Jahren (…) sich zunehmend dem Medium Fotografie bedient.»3 Es schien der Bruch mit der Moderne der Kunst und mit der Moderne der Fotografie nötig zu sein, also der erste Schritte in die Postmoderne, den Übergang vom Einsatz von Produktionsmitteln zum Einsatz von Reproduktionsmitteln (zum Beispiel in den Siebdrucken von Warhol und Rauschenberg)4, um das Bewusstsein der Fotografie als eine komplexe Bildmaschine in den Vordergrund rücken. Seither wird das Verständnis der Entität Fotografie, die Einheit und Absolutheit des Bildes einfach oder mehrfach aufgebrochen, in den Sehenden und das Bild, zusätzlich in das Bild und die Wirklichkeit, das Bild als Träger einer Botschaft (englisch picture), als signifiant, und das Bild als Botschaft, als Gehalt (englisch image), als signifié. In diesem Modell verkörpert sich die Vorstellung des Bildes als Teil eines Netzwerks, als eines nun nie mehr ganz festgelegten Zeichens, das sich durch die Projektionen der Betrachter, durch die zahllosen Kontexte laufend verändert, das die Wirklichkeit ‚beschattet‘ und ‚überschattet‘, ‚einblendet‘ und überblendet‘.