2000  /  Erik Steinbrecher: Couch (Christoph Merian Verlag)

Bleiche Schmusepelzchen

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Die Fotografie ist ein Zeigeinstrument, ein Vorzeigeinstrument. Kaum war ihr Prinzip entdeckt, ihr Verfahren erfunden, wurde hier etwas fotografiert, um es dort zu zeigen: Draussen in der Welt, in der ‚Fremde‘ wird fotografiert, um es zu Hause vorzuführen, in einer anderen sozialen Klasse, um es der eigenen zu präsentieren. Maxime du Camp fotografierte schon früh Ägypten und brachte das sagenumwobene Land, die Pyramiden, aber auch die Inschriften als Fotoalbum auf den französischen Bürgertisch. Diese ersten Fotografien zeigen die Welt weitgehend ruhig und ganz, aus gebührender Distanz. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten störte diese Ruhe auf, griff ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie ‚entdeckt‘ jetzt das Versunkene, Verborgene, entdeckt den Schnappschuss, der Unverhofftes zeigt: den Bettler am Strassenrand, das Liebespaar beim Kuss, den Milchtropfen beim Aufprall, eine Frau treppensteigend, ein Körper, der sich zerdehnend offenbart. Neue Filmmaterialien, grosse Teleobjektive, elektronische Nachtsichtgeräte stören sowohl die Intimität von Filmstars als auch die Unberührtheit des Weltalls (Hubble). Mit den elektronischen Möglichkeiten wird der Zeigegestus total, und zugleich offenbart sich erstmals scharf, dass das Forschen und Entdecken – von Dingen, von Verhältnissen –, das dem fotografischen Tun edel um den Hals gelegt wird, nur die geringere, die matte Seite der Medaille ist, die glänzende hingegen ist das Zeigen und Vorzeigen, das Präsentieren: hier, hier, schaut her, was ich Euch zeige, was wir Euch zu bieten haben. Die gebührende, ‚anständige‘ Distanz zur Welt, zum Gegenüber haben wir schrittweise verschoben zu einer unanständigen, schamlosen, ja ätzenden Nähe.

Die Geschichte der Fototechnik und Videotechnik ist nur ein Strang dieses gierigen Strudelns von Distanz zu Nähe, das Hervorzerren des Privaten an die Öffentlichkeit, das Privatisieren der Öffentlichkeit; sie ist der offensichtliche Strang, an dem sich ablesen lässt, wie sich eine ganze Gesellschaft pornographisiert. Laurel und Hardy haben sich Torten gegenseitig ins Gesicht gestossen, heute sind es Vaginasse und Penisse, sie klatschen fast an den Bildschirm, so nah werden sie gezeigt. Das hexenhafte „Willst Du in mein Häuschen kommen, he?“ heisst heute „Willst du auf meine private Website kommen, da habe ich eine Webcam installiert.“ Nichts mehr von der Ruhe, Intaktheit und Distanz des 19. Jahrhunderts, der pornographische Blick überschreitet alle Grenzen, stückelt auf, preist an, hektisch, schnell. Körperteile sind dabei nur das eine Ziel, intimste Gedanken, höchst private Streitigkeiten, Behinderungen werden rund um die Uhr vorgeführt. Wir stellen gerne das Mittelalter als Gekrieche, Gekrächze und Gelunger dar, das in Schaubuden verdoppelnd vorgeführt wurde. Heia, iup, wir sind selbst wieder da angekommen. Die Welt verdoppelnd? Nein, vervielfachend, unendliche Male, 24 Stunden am Tag, auf einer Million professioneller Sender, auf 500 Millionen privaten Onlinern. Thema ist immer: Zeigen, Anbieten, Vorzeigen, mit fotografischen und elektronischen Bildern und mit Worten, von Innerstem, Verstecktestem, wobei sich die Muster standardisieren.

„Couch“ handelt im Feld dieser Bilderwelt, lässt uns diesen totalen, umfassenden Bildergestus spüren. Was auf der „Couch“ sich alles abspielt. Die „Couch“ des Öffentlichkeits-Psychiaters. Es setzt mit einer Plakatwand ein, auf der ein Girlie-Star in sexueller Offenbarung posiert, filmisch repetiert, und es schliesst mit einem pornographischen Doppelfoto, das, bleibt man in geschlechterspezifischen Rollenvorstellungen, die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisierung des Öffentlichen symbolisiert. Dazwischen verschwimmt die Bilderwelt. Der totale Zeigegestus bedeutet immer eine unendliche Fülle an Zeichen und Bedeutungen, wie ein gigantisches Buffet, das immer da steht, morgens, abends, nachts, und wieder morgens und immer gleich opulent ausgestattet ist. Die Bilderwelt in „Couch“ lehnt sich dagegen zurück, aus dem Scheinwerferkegel hinaus, zurück ins Diffuse, Unbestimmte. Die Bilder ziehen ihre Zeige-Bedeutungs-Krallen ein und sind wie kleine Schmusepelzchen plaziert. Warme Schmusepelzchen, die man gerne berühren möchte, die einen wie Draperien umhüllen; Schmusepelzchen, die zwar noch bleich geprägt von ihrer einstigen Beredsamkeit zeugen, ‚wissen‘, aber jetzt nur noch angenehme, leere Hülle, leerer Signifikant sind. Verwaschene Gobelins, verschwunden sind die Schlachtdarstellungen darauf, es bleibt das Tonige des Materials – mit ein paar verblichenen Eindrücken, Inkarnaten –, das selbst ausstrahlt, mehr atmosphärisch denn indikatorisch. Steinbrechers Bilder wissen vom totalen Zeigegestus, vom Zeigewahn und ziehen sich zurück, verweigern sich murmelnd. Klein- und grossformatige Verweigerer, die sich wie Vierphasentaps zur Beruhigung, zur Filtrierung des Referenzwirrwarrs in unseren Köpfen einsetzen lassen.