Liebe Hester
Ich erlaube mir, unser Thema «Where» in einem ersten Schritt geographisch, örtlich zu verstehen und aus meiner Praxis als Ausstellungsmacher heraus zu argumentieren. Meine Formatierungsjahre fallen in die siebziger und achtziger Jahre, und ich erinnere mich gut daran, wie oft und heftig ich mich damals über Fotografieausstellungen enerviert habe. Von Ausnahmen abgesehen waren sie meist langweilig, uninspiriert und bisweilen auch schrecklich gehängt. Erinnerst Du Dich auch an die endlosen Anreihungen von Fotografien in schwarzen Rahmen, passepartouriert, mit Schrägschnitt und mit einem Abstand von 4-5cm zum nächsten Bild wie ein Tatzelwurm durch die Räume gehängt? Und wie bildsüchtig sich enge Zuschauerschlangen diesem Tatzelwurm entlang drängelten, überholen verboten?
Die achtziger Jahre waren für klassische Fotografie ein schlimmes Jahrzehnt. Ausser passepartourieren, rahmen und in Einerreihen hängen fiel weder den Ausstellungsmachern noch den Fotografen kaum was ein. Weshalb war das so? Was waren die Gründe dafür? Zentrale Ausstellungen in den zwanziger und dreissiger Jahren (Lissitzky), ja selbst noch die sonst oft gescholtene Family-of-Man-Ausstellung der fünfziger Jahre (Steichen), lieferten ja Anschauungsmaterial genug, wie man eine Ausstellung attraktiver, spannender, auch inhaltlich kohärenter und diskursiver gestalten kann.
Ich denke, dass der Fotografie ihr eigener Wunsch, der eigene Anspruch zum Verhängnis geworden ist. In den siebziger und achtziger Jahren änderte die Fotografie ihren Status, bezog gleichsam einen neuen Pass. Sie wurde nun zunehmend als Kunst, als Fotokunst zumindest wahrgenommen, auch dann, wenn einstige Reportagefotografie durch den Eintritt ins Museum nachträglich geadelt wurde. Genau dieser Wechsel verpasste ihr das zahme Korsett von Passepartout und Rahmen, oft alles noch irgendwie schräg angeschnitten. Die endlich erreichte kulturelle Wertsteigerung und ihre Unkenntnis im Ausstellen legte ihr für lange Zeit formal strenge, konservative Zügel an. (Ich rede hier nicht von Künstlern, die mit Fotografie gearbeitet haben) Für den Eintritt ins Museum, für den Wechsel von funktionaler zu freier, zweckfreier Fotografie bezahlte sie eine Weile lang, selbstverschuldet, einen hohen Preis.
Danach, das heisst in den neunziger Jahren, entdeckten die aktiveren Fotografen das Aufziehen auf Aluminium. Was in den Ausstellungen von Paul Graham 1993 oder von Astrid Klein 1995 gekonnt daherkommt, wurde schnell erobert und anschliessend endlos wiederholt. So lange und so intensiv, bis man aufgezogene Fotografien in Grössen von 80x120cm oder 100x150cm je nach Kameraformat ebenfalls nicht mehr sehen konnte. Die Ausstellungswände wurden mit hart verleimten, in Schockstarrre versetzten Fotografien wie Fliesen gekachelt.
Ich kuratierte meine ersten Ausstellungen, als Henri Cartier-Bresson, und mit ihm ganz «Magnum» anfing, seine Fotografien auf das Drei- und Vierfache zu vergrössern, und den Kontext, in dem sie entstanden sind, manchmal auch die Legenden, wegzulassen. Die einst im Auftrag, auf einer bestimmten Reise, für einen bestimmten Zweck entstandenen Fotografien sollten sich so in autonome Werke verwandeln. Damals als Jungkurator stellte sich mir die Frage: Wie kann man mit Fotografien Ausstellungen machen, die wirklich Sinn machen, Ausstellungen, die spannender sind als Fotografie im Buch? Fotografie und Museum, Fotografie und Ausstellungsraum, das bedeutet ein Medium in ein anderes Medium setzen, eine oder mehrere Rahmungen in ein anderes Framing versetzen. Manchmal ist die Fotografie (und die Institution) dafür vorbereitet, dafür konzipiert (im Falle von Kunst mit Fotografie), manchmal ist sie fast dagegen angelegt, war das Ausstellen bei der Entstehung der Fotografien nicht mitgedacht worden. Man stelle sich zum Beispiel Industriefotografie plötzlich im "White Cube", an der reinen, weissen Museumswand vor. Eine Auftragsfotografie, die früher oft namenslos, autorenlos realisiert, dann von einem Retoucheteam bearbeitet und abgelegt worden ist. Das Ziel dieser Fotografie war eine Broschüre für die Firma X, die diese neue Maschine vorstellen, anpreisen soll. Es war also ein Propagandafoto, wie Werbung Anfang des 20. Jahrhunderts genannt worden ist. Mit vielen grossen Magnesiumstrahlern wurde die Fabrikhalle hell erleuchtet, aus ihrer Düsterheit gerissen, um gekonnt sowohl den eigentlichen Ursprung des Objekts als auch das Ziel der Aufnahme zu verdecken. Und diese - trotzdem Sachfotografie, sachliche Fotografie - genannte Aufnahme stand nun plötzlich im Kontext eines White Cubes, in dem sonst Gursky und Goldin, Stieglitz und Strand, Weston und Wegmann ausgestellt wurden. Wie soll diese Fotografie gelesen und verstanden werden können?
Das Einbringen von Fotografie in den musealen Kontext birgt eine Reihe von Problemen. Dieser Übergang ist üblicherweise Teil einer künstlerischen Arbeit, eines künstlerischen Aktes, weil darauf hingearbeitet wird, weil der glühende Weissraum, die Wirkung von fern, von nahe, die Rahmung und die Rhythmisierung von Anfang an mitgedacht und mit dem Konzept der Arbeit abgestimmt werden. Dann lesen sich die Werke und die Hängung und die Erscheinung im Raum wie eine gemeinsame, beabsichtigte Partitur, wie das sichtbare Resultat einer stattgefundenen Bild-Performance. Mit Mitteln wie der Reihung, der Addition, der wolkenartigen Gruppierung, dem clusterartigen Block, dem Kontrapunkt, dem Rhythmuswechsel und der Pause lassen sich Bilder an die Wand, in den Raum setzen, in die Architektur fügen, lassen sich Bilder darin versenken, so dass sie in ihr «schwimmen» oder sich davon abheben.
Ganz anders, wie gesagt, all die Fotografien, welche nicht für den Museumszweck geschaffen wurden. Im dichten Zeitungs- und Magazinlayout sind Reportagefotos eingebunden und funktionieren, werden sie jedoch an die offene, weisse Museumswand gehängt, dann «flattern» sie, wirkten sie oft hilflos, ungeführt. Reportagebilder, in einem bestimmten Auftrag für eine bestimmte Zeitschrift in einer bestimmten Zeit gemacht und zusammen mit einem bestimmten Sprachgerüst publiziert - Titel, Text, Legenden -, 'stolperten' oft ohne Vorwarnung ins Museum. Sie gerieten damit in einen völlig anderen Kontext, der weniger das Erzählerische, Illustrierende betont als das Werk, seine Präsenz, seine Offenheit. Im klassischen Format von 40x50cm oder 50x60cm wurden sie in strenger Einerreihe angeordnet, womöglich ohne irgendeinen Text, ohne Kontextualisierung - und waren nur noch auf sich selbst gestellt, das heisst nun pötzlich ausschliesslich auf eine mögliche, leerlaufende ästhetische Kraft angewiesen. Sicht, Absicht und Haltung des Reportagefotografen verrutschten dadurch, lösten sich auf. Kontext und Information verschwanden. Mehrfache Missverständnisse waren vorprogrammiert.
Am Fotomuseum Winterthur brachen wir in ersten Ausstellungen mit klassischer Fotografie, mit angewandter Fotografie zaghaft, dann stärker die Linien auf, führten Vitrinen ein, Blockhängungen, begegneten der immensen Industriefotografie mit Teils grossflächigen Wolken, Clusters von Fotografien. Bei heiklen Themen wie Hoffmann und Hitler fuhren wir absichtlich die ästhetische Präsentation runter. Rahmen ja, aber kein Passepartout, nur Fotoecken, und eigentlich zuviele kleine Bilder im gleichen Rahmen. Für Gilles Peress Farewell to Bosnia inszenierten wir einen sarkophargartigen Kleinraum, in dem die Bilder, die auf einer Art Plache aufgezogen waren, klaustrophisch dicht gehängt waren: auch ausweglos für den Betrachter.
Das Prinzip des Clusters, der Wolke, der luftigen Salonhängung brach mit der Erscheinungsweise von Fotoausstellungen Anfang der neunziger Jahre. Es war der erste Schritt, die Wand zu erobern, den Raum miteinzubeziehen, streng bei Blossfeldt, assoziativ bei Anders Petersen, die Arbeit «Candlestick Point» von Lewis Baltz enthielt in sich selbst, ein neues Denken, einen neuen Umgang mit der Wand. Die einzelnen Bilder wirkten wie Informationframes, einer nach dem anderen, mit Pausen oder mit Fehlleistungen, Leerstellen in der Kommunikation des Systems.
Erst jetzt, da die Einerreihe durchbrochen war, konnte die Einerreihe auch wieder distinktiv für eine bestimmte Arbeit, Haltung, für ein Thema eingesetzt worden. Sie gewann ihre Sprache zurück, streng ausgeführt etwa bei Roni Horns «You are the weather». Das Bewusstsein für die Rahmung als Bedeutungsträger war in der Fotografie lange Zeit schwach ausgebildet. Gursky machte klare, präsente, ikonische Setzungen im Raum. Die Bilder sind geschützt, werden durch den weissen Rand und die schwere Holzrahmung hervorgehoben, aufs Tablett gehoben. Dagegen bewegt sich Zoe Leonard wie ein Wiesel im Ausstellungraum, schleicht den Wänden entlang, will darin verschwinden. Arbeiten und Wand/Raum werden ein einziges Stück, nicht die Wand als Hintergrund und Bühne und das Werk als Frontsänger, als Prediger, sondern ein neues Ganzes, zu einem Wand-Bild/Bild-Raum verschmolzen.
Die Ausstellung «Trade – Waren, Wege und Werte in der Weltwirtschaft heute» wurde möbiliert, mit kühlem Büromobiliar ausgestattet. Kunst- und Gebrauchsfotografie begannen sich nebeneinander oder aufeinander zu zu zeigen. Erosion, Bergerosion bringt viel Schutt und Dreck und Steine und Felsen und Matsch ins Tal. Für Hans Danuser war es deshalb klar und zentral, dass seine Werke von in Tal-Feldern eingelaufenen Murgängen auf dem Boden liegend präsentiert werden müssen. Der White Cube fand seine Herausforderung erstmals mit Nan Goldins farbigem Aids-Raum dann mit Shirana Shahbazis Bild-Raum-Farbkonzepten. Die Ausstellung von Ai Weiwei schliesslich eroberte den Raum gänzlich, das Thema der Stadtumwälzung in Peking wurde mittels direkt auf die Wände aufgezogenen Fotografie-Rastern simuliert. Stefan Burger wiederum entwickelt ein Verwirrspiel mit dem Thema des «Ausstellens».
Kaum weiss nun die Fotografie endlich, wie sie sich in Ausstellungen, in Räumen, in 3-D zeigen soll – die Ausstellungen sind inzwischen weltweit spannender, dichter, aufregender, konsequenter, reflektierter, kontextualisierter geworden -, ereignet sich der digitale Dammbruch. Kaum wurden die Ausstellungen inhaltlich und formal komplexer angelegt, eroberten die Räume, bietet und verlangt das Internet wiederum die totale Vereinfachung im Umgang mit Fotografien. Die streichende Handbewegung auf dem Tablet illustriert die in Einerreihe abfolgenden Bildwelten auf dem Internet am Besten, diese radikale Rückstufung der Komplexität einer möglichen visuellen Erzählung auf die Abfolge von Einzelbildern. Die Konkretion «Fotografie-hier-und-jetzt-in-diesem-inhatlichen-räumlichen-Bedeutungsfeld», dieses bedeutsame «Where» dünnt sich gerade wieder aus, heftig und mehrfach: sie verliert nicht nur ihren angestammten Träger, sondern auch gleich alle Extremitäten, alle Tentakel, die ihr endlich die Möglichkeit gaben, sich als schwach codiertes fotografisches Zeichen mit anderen Zeichen zu einem lesbaren und verstehbaren Geflecht von Bildinformationen zu verknüpfen. Sie wird nun ein flüchtiges Baudrillardsches Zeichen, das, wenn überhaupt, jederzeit jede mögliche Bedeutung annehmen kann. Eine attraktive Bild-Hülle, die unkontrolliert, oft unbedarft vom Kontext Familiengeschichte, Familienerinnerung in die Werbung, Geschichte, Naturdokumentation auch in die Kunst rutschen kann. Quo vadis liebes Bild?