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Blog-Posts für Foto Colectania
Korrespondenz mit Hester Keijser

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2. Juni 2016

Liebe Hester

Ich erlaube mir, unser Thema «Where» in einem ersten Schritt geographisch, örtlich zu verstehen und aus meiner Praxis als Ausstellungsmacher heraus zu argumentieren. Meine Formatierungsjahre fallen in die siebziger und achtziger Jahre, und ich erinnere mich gut daran, wie oft und heftig ich mich damals über Fotografieausstellungen enerviert habe. Von Ausnahmen abgesehen waren sie meist langweilig, uninspiriert und bisweilen auch schrecklich gehängt. Erinnerst Du Dich auch an die endlosen Anreihungen von Fotografien in schwarzen Rahmen, passepartouriert, mit Schrägschnitt und mit einem Abstand von 4-5cm zum nächsten Bild wie ein Tatzelwurm durch die Räume gehängt? Und wie bildsüchtig sich enge Zuschauerschlangen diesem Tatzelwurm entlang drängelten, überholen verboten? 

Die achtziger Jahre waren für klassische Fotografie ein schlimmes Jahrzehnt. Ausser passepartourieren, rahmen und in Einerreihen hängen fiel weder den Ausstellungsmachern noch den Fotografen kaum was ein. Weshalb war das so? Was waren die Gründe dafür? Zentrale Ausstellungen in den zwanziger und dreissiger Jahren (Lissitzky), ja selbst noch die sonst oft gescholtene Family-of-Man-Ausstellung der fünfziger Jahre (Steichen), lieferten ja Anschauungsmaterial genug, wie man eine Ausstellung attraktiver, spannender, auch inhaltlich kohärenter und diskursiver gestalten kann. 

Ich denke, dass der Fotografie ihr eigener Wunsch, der eigene Anspruch zum Verhängnis geworden ist. In den siebziger und achtziger Jahren änderte die Fotografie ihren Status, bezog gleichsam einen neuen Pass. Sie wurde nun zunehmend als Kunst, als Fotokunst zumindest wahrgenommen, auch dann, wenn einstige Reportagefotografie durch den Eintritt ins Museum nachträglich geadelt wurde. Genau dieser Wechsel verpasste ihr das zahme Korsett von Passepartout und Rahmen, oft alles noch irgendwie schräg angeschnitten. Die endlich erreichte kulturelle Wertsteigerung und ihre Unkenntnis im Ausstellen legte ihr für lange Zeit formal strenge, konservative Zügel an. (Ich rede hier nicht von Künstlern, die mit Fotografie gearbeitet haben) Für den Eintritt ins Museum, für den Wechsel von funktionaler zu freier, zweckfreier Fotografie bezahlte sie eine Weile lang, selbstverschuldet, einen hohen Preis.

Danach, das heisst in den neunziger Jahren, entdeckten die aktiveren Fotografen das Aufziehen auf Aluminium. Was in den Ausstellungen von Paul Graham 1993 oder von Astrid Klein 1995 gekonnt daherkommt, wurde schnell erobert und anschliessend endlos wiederholt. So lange und so intensiv, bis man aufgezogene Fotografien in Grössen von 80x120cm oder 100x150cm je nach Kameraformat ebenfalls nicht mehr sehen konnte. Die Ausstellungswände wurden mit hart verleimten, in Schockstarrre versetzten Fotografien wie Fliesen gekachelt. 

Ich kuratierte meine ersten Ausstellungen, als Henri Cartier-Bresson, und mit ihm ganz «Magnum» anfing, seine Fotografien auf das Drei- und Vierfache zu vergrössern, und den Kontext, in dem sie entstanden sind, manchmal auch die Legenden, wegzulassen. Die einst im Auftrag, auf einer bestimmten Reise, für einen bestimmten Zweck entstandenen Fotografien sollten sich so in autonome Werke verwandeln. Damals als Jungkurator stellte sich mir die Frage: Wie kann man mit Fotografien Ausstellungen machen, die wirklich Sinn machen, Ausstellungen, die spannender sind als Fotografie im Buch? Fotografie und Museum, Fotografie und Ausstellungsraum, das bedeutet ein Medium in ein anderes Medium setzen, eine oder mehrere Rahmungen in ein anderes Framing  versetzen. Manchmal ist die Fotografie (und die Institution) dafür vorbereitet, dafür konzipiert (im Falle von Kunst mit Fotografie), manchmal ist sie fast dagegen angelegt, war das Ausstellen bei der Entstehung der Fotografien nicht mitgedacht worden. Man stelle sich zum Beispiel Industriefotografie plötzlich im "White Cube", an der reinen, weissen Museumswand vor. Eine Auftragsfotografie, die früher oft namenslos, autorenlos realisiert, dann von einem Retoucheteam bearbeitet und abgelegt worden ist. Das Ziel dieser Fotografie war eine Broschüre für die Firma X, die diese neue Maschine vorstellen, anpreisen soll. Es war also ein Propagandafoto, wie Werbung Anfang des 20. Jahrhunderts genannt worden ist. Mit vielen grossen Magnesiumstrahlern wurde die Fabrikhalle hell erleuchtet, aus ihrer Düsterheit gerissen, um gekonnt sowohl den eigentlichen Ursprung des Objekts als auch das Ziel der Aufnahme zu verdecken. Und diese - trotzdem Sachfotografie, sachliche Fotografie - genannte Aufnahme stand nun plötzlich im Kontext eines White Cubes, in dem sonst Gursky und Goldin, Stieglitz und Strand, Weston und Wegmann ausgestellt wurden. Wie soll diese Fotografie gelesen und verstanden werden können?

Das Einbringen von Fotografie in den musealen Kontext birgt eine Reihe von Problemen. Dieser Übergang ist üblicherweise Teil einer künstlerischen Arbeit, eines künstlerischen Aktes, weil darauf hingearbeitet wird, weil der glühende Weissraum, die Wirkung von fern, von nahe, die Rahmung und die Rhythmisierung von Anfang an mitgedacht und mit dem Konzept der Arbeit abgestimmt werden. Dann lesen sich die Werke und die Hängung und die Erscheinung im Raum wie eine gemeinsame, beabsichtigte Partitur, wie das sichtbare Resultat einer stattgefundenen Bild-Performance. Mit Mitteln wie der Reihung, der Addition, der wolkenartigen Gruppierung, dem clusterartigen Block, dem Kontrapunkt, dem Rhythmuswechsel und der Pause lassen sich Bilder an die Wand, in den Raum setzen, in die Architektur fügen, lassen sich Bilder darin versenken, so dass sie in ihr «schwimmen» oder sich davon abheben. 

Ganz anders, wie gesagt, all die Fotografien, welche nicht für den Museumszweck geschaffen wurden. Im dichten Zeitungs- und Magazinlayout sind Reportagefotos eingebunden und funktionieren, werden sie jedoch an die offene, weisse Museumswand gehängt, dann «flattern» sie, wirkten sie oft hilflos, ungeführt. Reportagebilder, in einem bestimmten Auftrag für eine bestimmte Zeitschrift in einer bestimmten Zeit gemacht und zusammen mit einem bestimmten Sprachgerüst publiziert - Titel, Text, Legenden -, 'stolperten' oft ohne Vorwarnung ins Museum. Sie gerieten damit in einen völlig anderen Kontext, der weniger das Erzählerische, Illustrierende betont als das Werk, seine Präsenz, seine Offenheit. Im klassischen Format von 40x50cm oder 50x60cm wurden sie in strenger Einerreihe angeordnet, womöglich ohne irgendeinen Text, ohne Kontextualisierung - und waren nur noch auf sich selbst gestellt, das heisst nun pötzlich ausschliesslich auf eine mögliche, leerlaufende ästhetische Kraft angewiesen. Sicht, Absicht und Haltung des Reportagefotografen verrutschten dadurch, lösten sich auf. Kontext und Information verschwanden. Mehrfache Missverständnisse waren vorprogrammiert. 

Am Fotomuseum Winterthur brachen wir in ersten Ausstellungen mit klassischer Fotografie, mit angewandter Fotografie zaghaft, dann stärker die Linien auf, führten Vitrinen ein, Blockhängungen, begegneten der immensen Industriefotografie mit Teils grossflächigen Wolken, Clusters von Fotografien. Bei heiklen Themen wie Hoffmann und Hitler fuhren wir absichtlich die ästhetische Präsentation runter. Rahmen ja, aber kein Passepartout, nur Fotoecken, und eigentlich zuviele kleine Bilder im gleichen Rahmen. Für Gilles Peress Farewell to Bosnia inszenierten wir einen sarkophargartigen Kleinraum, in dem die Bilder, die auf einer Art Plache aufgezogen waren, klaustrophisch dicht gehängt waren: auch ausweglos für den Betrachter. 

Das Prinzip des Clusters, der Wolke, der luftigen Salonhängung brach mit der Erscheinungsweise von Fotoausstellungen Anfang der neunziger Jahre. Es war der erste Schritt, die Wand zu erobern, den Raum miteinzubeziehen, streng bei Blossfeldt, assoziativ bei Anders Petersen, die Arbeit «Candlestick Point» von Lewis Baltz enthielt in sich selbst, ein neues Denken, einen neuen Umgang mit der Wand. Die einzelnen Bilder wirkten wie Informationframes, einer nach dem anderen, mit Pausen oder mit Fehlleistungen, Leerstellen in der Kommunikation des Systems. 

Erst jetzt, da die Einerreihe durchbrochen war, konnte die Einerreihe auch wieder distinktiv für eine bestimmte Arbeit, Haltung, für ein Thema eingesetzt worden. Sie gewann ihre Sprache zurück, streng ausgeführt etwa bei Roni Horns «You are the weather». Das Bewusstsein für die Rahmung als Bedeutungsträger war in der Fotografie lange Zeit schwach ausgebildet. Gursky machte klare, präsente, ikonische Setzungen im Raum. Die Bilder sind geschützt, werden durch den weissen  Rand und die schwere Holzrahmung hervorgehoben, aufs Tablett gehoben. Dagegen bewegt sich Zoe Leonard wie ein Wiesel im Ausstellungraum, schleicht den Wänden entlang, will darin verschwinden. Arbeiten und Wand/Raum werden ein einziges Stück, nicht die Wand als Hintergrund und Bühne und das Werk als Frontsänger, als Prediger, sondern ein neues Ganzes, zu einem Wand-Bild/Bild-Raum verschmolzen. 

Die Ausstellung «Trade – Waren, Wege und Werte in der Weltwirtschaft heute» wurde möbiliert, mit kühlem Büromobiliar ausgestattet. Kunst- und Gebrauchsfotografie begannen sich nebeneinander oder aufeinander zu zu zeigen. Erosion, Bergerosion bringt viel Schutt und Dreck und Steine und Felsen und Matsch ins Tal. Für Hans Danuser war es deshalb klar und zentral, dass seine Werke von in Tal-Feldern eingelaufenen Murgängen auf dem Boden liegend präsentiert werden müssen. Der White Cube fand seine Herausforderung erstmals mit Nan Goldins farbigem Aids-Raum dann mit Shirana Shahbazis Bild-Raum-Farbkonzepten. Die Ausstellung von Ai Weiwei schliesslich eroberte den Raum gänzlich, das Thema der Stadtumwälzung in Peking wurde mittels direkt auf die Wände aufgezogenen Fotografie-Rastern simuliert. Stefan Burger wiederum entwickelt ein Verwirrspiel mit dem Thema des «Ausstellens».

Kaum weiss nun die Fotografie endlich, wie sie sich in Ausstellungen, in Räumen, in 3-D zeigen soll – die Ausstellungen sind inzwischen weltweit spannender, dichter, aufregender, konsequenter, reflektierter, kontextualisierter geworden -, ereignet sich der digitale Dammbruch. Kaum wurden die Ausstellungen inhaltlich und formal komplexer angelegt, eroberten die Räume, bietet und verlangt das Internet wiederum die totale Vereinfachung im Umgang mit Fotografien. Die streichende Handbewegung auf dem Tablet illustriert die in Einerreihe abfolgenden Bildwelten auf dem Internet am Besten, diese radikale Rückstufung der Komplexität einer möglichen visuellen Erzählung auf die Abfolge von Einzelbildern. Die Konkretion «Fotografie-hier-und-jetzt-in-diesem-inhatlichen-räumlichen-Bedeutungsfeld», dieses bedeutsame «Where» dünnt sich gerade wieder aus, heftig und mehrfach: sie verliert nicht nur ihren angestammten Träger, sondern auch gleich alle Extremitäten, alle Tentakel, die ihr endlich die Möglichkeit gaben, sich als schwach codiertes fotografisches Zeichen mit anderen Zeichen zu einem lesbaren und verstehbaren Geflecht von Bildinformationen zu verknüpfen. Sie wird nun ein flüchtiges Baudrillardsches Zeichen, das, wenn überhaupt, jederzeit jede mögliche Bedeutung annehmen kann. Eine attraktive Bild-Hülle, die unkontrolliert, oft unbedarft vom Kontext Familiengeschichte, Familienerinnerung in die Werbung, Geschichte, Naturdokumentation auch in die Kunst rutschen kann. Quo vadis liebes Bild?

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16. Juni 2016

Liebe Hester

Danke für deine Antwort. Das wird ein spannender Gabelflug. Genügend Differenz in der Perspektive, genügend gemeinsame Interessen. Das passt. Der Begriff «Embodiment», den Du einbringst, klingt selbst schon wie ein Resonanzkörper, wie eine Trommel, wenn man ihn ausspricht. Das körperliche «Fühlen» ist ein zentrales Thema für mich. Ich kuratiere zurzeit regelmässig am MAST (Manufacture of Arts, Experience and Technology) und bin deshalb oft in Bologna. In kurzer Zeit bin ich fast süchtig geworden, durch die grosse mittelalterliche Altstadt von Bologna zu laufen. Sie ist sehr dicht gebaut, ihre Gehsteige sind fast immer von Arkaden überdacht, draussen werden Böden (Terrazzo) eingesetzt, wie wir sie von Innenräumen her kennen, so dass Innen und Aussen zu verschmelzen scheinen, so dass ich das Gefühl habe, mich durch einen Körper hindurch, durch die Adern dieses grossen, kompakten Architekturkörpers zu schlängeln. Ein unbeschreibliches Gefühl, weil es nicht dünn und klar ist, sondern sich breit und ausufernd in meinem Körper einnistet. 

Embodiment und Fotografie hingegen, das klingt aufs erste wie Feuer und Wasser, wie ein Paradox. Oliver Wendell Holmes’ euphorische Forderung zu Beginn der Fotogeschichte, die Welt zu fotografieren, damit wir sie materielos erfahren und danach abbrennen können1, formulierte ein erstes Mal, dass Fotografie ein Abstraktion von der (körperlichen) Welt ist, dass sie zu einem Teil des grossen Abstraktionsprozesses wurde, den wir Menschen die letzten 200 Jahre antrieben, einheizten und durchliefen. Lokomotive und Waggons in einem. Seither gehen wir immer schneller den Weg von der Substanz zur Oberfläche, von der Materie zum Zeichen, von der Welt zum Bild der Welt und erleben, dass Bilder heute oft zentraler, prägender sind als gelebte Erfahrung, als körperliche Realität. Der Augensinn hat im 20. Jahrhundert die anderen Sinne zunehmend dominiert, die Digitalisierung schliesslich (rest-)entsinnlicht selbst das fotografische Bild. Das Alchemistische der Fotografie ist verschwunden, das Bild ist gleichsam ans Licht gezerrt und entkörperlicht worden. Es bleibt die Datenmenge, brillant am Bildschirm anzuschauen, leicht zu lenken, zu designen, zu animieren und ultraschnell flächendeckend über die Welt zu verteilen. 

Es ist wirklich ein Paradox, diese Fotografie verkörperlichen zu wollen. Aber oft entsteht gerade aus grossen Gegensätzen viel Kraft und Spannung, eine Art superleitendes Vakuum, in dem sich Bildinformationen und Bildgefühle erfolgreich mitteilen. In Ausstellungen haben wir bisher die Möglichkeit, mit vielen unterschiedlich inszenierenden Mitteln Bildräume zu kreieren, in die die Besucher (Dein zweiter vermisster Begriff ☺) eintreten, die sie gedanklich und körperlich erkunden, erleben, ersinnen. Wir können die Räume für die Besucher so hart und weich, diskursiv und sinnlich, körperlich oder geistig wie nur möglich gestalten, wir alle arbeiten mit dem Konzept der Ausstellung als «offenes Kunstwerk» (Umberto Eco2), das der Zuschauer, die Zuschauerin durch sein aktives Mitsehen und Mitdenken vollendet, doch gegen das unhaptisch Flache der Fotografie ist kein Kraut gewachsen und für Interaktionen sind uns die Hände nach wie vor stark gebunden. Ausstellungen sind 3-D-Filme mit Rückspulmöglichkeit, aber keine Spielkonsolen. Ausstellungen lassen sich noch nicht so animieren, dass die Besucher die Bilder durch den Raum verschieben und neu gruppieren können. Vorerst. Mal schauen, was uns die sich entwickelnde virtuelle Realität, der Oculus Rift, den Du ansprichst, bringen wird. Taktiler im ursprünglichen Sinn wird es sicher nicht mehr werden – wird dafür ein komplexes Wahrnehmungssystem den Betrachter zwischen Kontemplation und Aktion pendeln lassen und mit Triggern eine Art Berührung, eine Taktilität zweiten Grades ermöglichen?

In Ausstellungen finden die Bilder, ihre Kuratoren und Betrachter eine Idealsituation, zumindest theoretisch eine fast bestmögliche Situation vor. Ein Besucher hat eine Entscheidung gefällt, sich auf den Weg gemacht, Eintritt bezahlt und bewegt sich konzentriert, ab und zu mit einem Begleiter, Partner dialogisierend, durch die Räume, entlang dem Geflecht von Bildern in unterschiedlichster Materialisierung. Auf der Gegenseite hat sich ein Museum, ein Kurator, ein Fotograf, ein Team von Fotokundigen auf den Weg gemacht, nach gründlicher Überlegung eine bestimmte Anzahl Bilder zu einem bestimmten Thema zusammenzustellen, alleine oder in Kombination mit Texten (und vielen anderen Utensilien). Schnittmenge dieser beiden Absichten, dieser beiden Wege ist der Augenblick des kontrollierten Aufeinandertreffens, das zu beabsichtigten, aber auch unkontrollierten Erfahrungen, Einsichten und Gefühlen führt. Die Anlage der «Kommunikation», die hier stattfinden kann, ist so gut, so perfekt installiert, dass der seltene Fall, dieser «Glücksfall» einer erfolgreichen Kommunikation, wie es Jürgen Habermas in seiner «Theorie des kommunikativen Handelns»3 formulierte, eigentlich regelmässig eintreffen sollte. Alles ist im gelungenen Fall so gut angelegt, als flüsterten die Bilder und die Intentionen des Kurators, des Fotografen dem Betrachter mit einem Hörhorn direkt ins Ohr, als kommuniziere der Betrachter direkt mit den Intentionsfeldern der Fotografien. 

Doch selbst in einer so perfekt angelegten Kommunikationssituation bleiben Betrachter im Durchschnitt nur 11 Sekunden vor einem Bild stehen, wie ein Forschungsprojekt 2009 am Kunstmuseum Sankt Gallen (Switzerland) herausgefunden hat.4 Spezialisten und Unkundige gleichermassen schaffen in ähnlicher kurzer Zeit ganze Räume, die dazu im zügigen Schritt diagonal durchschritten werden. Das ist ernüchternd und lässt nicht auf Anhieb das grosse Verstehen erahnen. Aber Fotografie gibt es nicht nur im Museum zu sehen. Wie funktioniert denn die Kommunikation, das gegenseitige Aufeinanderzukommen zwischen Bild und Betrachter in all den anderen Situationen, in denen Fotografie auftaucht? Fotografie wird, wie wir wissen, in jeder vorstellbaren Situation, an jedem vorstellbaren Ort auf dieser Welt, für jeden nur vorstellbaren Zweck eingesetzt. Seit der Explosion des digitalen Bildes kann man unser Handeln zuspitzend beschreiben mit: Statt Erinnern: Fotografieren. Statt Erleben: Fotografieren. Statt Denken: Fotografieren. Statt Wissen: Fotografieren. Statt Reden: Fotografieren. Statt Lieben: Fotografieren. Statt Lesen: Fotografien. Ausstellungsbesucher fotografieren jeden Saaltext, in der Meinung, ihn zuhause zu lesen. Und viel davon nimmt seinen öffentlichen Lauf durch irgendwelche privaten, öffentlichen, freien oder payable medialen Kanäle und poppt vor unseren Augen, vor dem Viewer auf, gefragt und ungefragt. 

Was geschieht mit all diesen Bildern, fragte ich zum Schluss meiner ersten Korrespondenz? Wohin gehen sie? Wo versteht sie welche Person aus was für einem Grund (nicht)? Du schreibst: «Where else, if not in the mind of the viewer, where it can become a memory, however inaccurate, fading over time or, when the imprint is strong, lodging itself there as an object of reminiscence and contemplation.» Mit einigen Museumsbildern ja, mit eindringlichen Pressebildern ebenfalls, auch dank Titel, Text, Legende, aber sonst? Wir leben bis heute den zauberhaften Mythos von der Universalität der Fotografie. Und wir verbinden damit die Vorstellung, dass wir weltweit alle Bilder gleich verstehen. Das klingt gut, ist aber ein nicht-ausrottbarer Irrtum, wie wir wissen. Jean Mohr und John Berger zum Beispiel haben schon Anfang der achtziger Jahre eine Reihe von Bildern zehn Betrachtern vorgelegt.5 Mit dem Resultat, dass keine einzige Beschreibung der Fotografien mit einer anderen übereinstimmte. Fotografien sind perfekte Lackmuspapiere, perfekte Folien für unsere Projektionen, sie sind realnah aussehende Rorschachtests, die je nach Kontext, je nach Betrachter eine andere Bedeutung annehmen. Und weil wir nie eine Erziehung zum und mit dem Bild genossen haben (das Bild wurde meist zu wenig ernst genommen), weil wir also Analphabeten des Bildes sind, stehen wir heute vor der unangenehmen Situation, in einer Welt heftig anschwellender Bildkommunikation zu stehen – ohne wirklich etwas davon zu verstehen, zumindest nicht das Gleiche wie die Nachbarn nebenan, wie die Nachbarn der Welt. Fotografien rieseln auf uns nieder wie Kirschblütenblätter nach einem Sturm: wunderschön, berührend, attraktiv anzusehen, versehen mit vielen Likes – aber zwingend auch begleitet vielen Missverständnissen, einprogrammiert in die Werkzeuge der Kommunikation. Das «Where» der Fotografie impliziert erstaunlich stark die Bedingungen einer Möglichkeit des «Lesens» und Verstehens einer Fotografie, nicht?

 

1 Oliver Wendell Holmes: Das Stereoskop und der Stereograph (1859), in: Bernd Stiegler (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010. S. 26ff

2 Umberto Eco, Das Offene Kunstwerk. Frankfurt a. Main, 1962

3 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. (Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt am Main 1981

4 EMotion – Mapping Museum Experience. Head of the project Prof.Dr. Martin Tröndle, WÜRTH Chair of Cultural Production, Zeppelin University of Friedrichshafen. Zit. nach http://www.mapping-museum-experience.com

5 John Berger, Jean Mohr, Eine andere Art zu erzählen. München/Wien 1984.

1. Juli 2016

Liebe Hester

Danke für Deinen spannenden, dichten «Umweg», wie Du es genannt hast. 

Ich bin einerseits versucht, weiterhin mit der Nadel in unserem bisherigen Haufen herumzustochern. Die Themen Geschwindigkeit und Masse blinken darin intensiv auf. Themen und Begriffe, mit denen ich in öffentlichen Diskussionen eine gewisse Akzeptanz, zumindest die Bereitschaft zum Zuhören erreichte, während eine Banalität wie die These, dass wir heute, real und virtuell-real, in einer besonderen Zeit mit aussergewöhnlichen Herausforderungen, mit vielen ungelösten Problemen, also in einer prekären Zeit leben, vor öffentlichem Publikum schnell auf erstaunlich heftigen Widerstand stosse. Auf die Frage nach der digitalen Revolution und ihren Auswirkungen zum Beispiel folgte vor Managern leicht aggressiv die Antwort: «Das war doch nicht weniger heftig bei Gutenbergs Revolution des Buchdrucks». Ein Gegenargument, das wie viele andere letztlich die Brisanz der Gegenwart zu beruhigen, ja zu vertuschen versucht. Beim Thema Geschwindigkeit und Masse hingegen eher beipflichtendes Nicken. Geschwindigkeit mit Masse und Gerechtigkeit multipliziert: Damit können wir kaum umgehen. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, selbst wenn wir Supercomputer Lösungsvorschläge erarbeiten lassen. Wir sind gedanklich und emotional nicht in der Lage, auf so schnelle, voluminöse und komplexe Themen zu reagieren, das heisst die Sachlage erstmal wahrzunehmen, sie zu analysieren,  zu verstehen und, vor allem, uns schliesslich auf ein gemeinsames Handeln zu einigen. Geschwindigkeit und Masse sind auch zentrale Parameter im Umgang mit Fotografie heute. Die Masse der Produktion und die Geschwindigkeit der Verbreitung, verbunden mit zahlreichen Ent- und Re-Kontextualisierungen entdinglichen, entwurzeln die Datenmenge «Fotografie». Die Abstraktion der Abstraktion der Abstraktion erzeugt eine Ortlosigkeit der Fotografie und der Bildkommunikation. 

Doch ich entscheide mich für einen Schwenker, hinaus in die Welt der Gebrauchsfotografie. Wir haben ja nur vier Doppelsessions, vier mal zwei Briefwechsel und sind bereits in der Mitte. Auf die Frage «Wo»? will ich heute mäandernd antworten und gegenfragen: 1. Im Archiv. Korrekt abgelegt oder verstaubt und feucht? 2. Nirgendwo. Weil verloren, weil gestohlen, weil digitalisiert? Ich schreibe anhand zweier Beispiele über Formen der Verortung und Entortung der Fotografie. 

Dazu zuerst ein Beispiel aus meiner Praxis am MAST in Bologna, aus der Arbeit an und mit Industriefotografie: Hundert Jahre lang wurde intensiv, aufwändig, in einem bestimmten Sinn perfekt fotografiert. Nur einen Teil davon haben wir bisher je zu Gesicht bekommen. Industriefotografie ist ein Phänomen der Massenproduktion, aber nicht der Massenwahrnehmung. Business to Business generiert weit weniger öffentliche Bilder als Business to Consumer. Doch oft wurden die Fotografien korrekt in Archiven abgelegt. Dann, im Zuge der Kapitalisierung der Industrie, im Zuge der Flurbereinigungen, der Fusionen und Verkäufe, die seit den siebziger Jahren zunehmend einsetzten, wurde die visuelle, oft auch die geschriebene, aufgezeichnete Geschichte der Industrie und der Industrialisierung weggeworfen. In den Container damit. Und zwar tonnenweise. Neue Besitzer interessierten sich wenig für die alten Geschichten. Parallel dazu wurde ausgesourct, das heisst, die vor allem in der Maschinenindustrie so starke Fotografie, die grossen Foto-Retusche-und Lithoabteilungen wurden geschlossen. Kleinbildfotografie hielt manchmal Einzug. Die Qualität der Fotografie, die Aufmerksamkeit für das Industriebild sank rapide. 

Erst in jüngerer Zeit arbeiten wir die Industriefotografie auf und bemerken, wie wir quasi die halbe Welt, die halbe Geschichte, die industriell produzierende Welt verdrängt haben, wie  sie wertvollen Aufschluss über unser Leben, unser Denken und Handeln bringen. Quasi in der Musealisierung von Industrie 1.0 wird allmählich auch die visuelle Geschichte der Industrialisierung angegangen und aufgearbeitet. Eine Schattenwelt wird durchleuchtet, insofern die Bilder dazu noch vorhanden sind.

Ein zweites Beispiel: Vor drei Jahren gewann ein wunderbares, wundersames Buch den History Book Award am Fotofestival in Arles. Es trägt den zunächst rätselhaften Titel AO1 [COD.19.I.I.43]  A27 [S | COD.23], der mit kleiner, wenig auffallender Typographie in einen blossen, handelsüblichen grauen Karton eingeprägt ist.1 Weiter unten steht dann zusätzlich «Rosângela Rennó». Beides versal geschrieben. Zusätzliche Informationen, sowohl auf der Vorder-, als auch auf der Rückseite und auf dem Buchrücken fehlen. Zwei dicke graue Pappkartons fassen das grosse, 34,5cm hohe und 29cm breite Buch ein, der Buchrücken ist in einem dunklen, leicht ausgewaschenen blauen Leinen gehalten. Das Vorsatzpapier erinnert mich an Muster von gewachsten Papieren, mit denen meine Mutter in meiner Kindheit jeweils die Schubladen in der Küche ausgelegt hat. 

Das Buch durchzieht ein Gefühl von Backstage. Wir scheinen mit Zeitverzögerung am Archivieren und Inventarisieren von 27 Alben der Pereira Passos/Malto Collection, die sich in den Archiven der Stadt Rio de Janeiro befinden, teilzunehmen. Albumumschläge, Fotorückseiten mit rudimentären, handschriftlichen Anzeichen einer Inventarisierung, knappe Beschreibungen der Szenerien wechseln ab mit einer Reihe von Fotografien, die über das Buch verstreut im Wesentlichen vom Stadtleben vermutlich in Rio erzählen. Beim Durchblättern erahnen wir es, beim Lesen der Einleitung wird es deutlich: Hier wird von einem Diebstahl berichtet. Von der Ungeheuerlichkeit eines allmählichen oder schnellen Verschwindens vieler wertvoller Dokumente aus dem Archiv der Stadt, darunter auch 19 der 27 Alben aus der Pereira-Passos-Sammlung, die vor allem Fotografien des Präfekturfotografen Augusto Malto und seiner Söhne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enthielt. Ein Raub, der schliesslich im Juni 2006 entdeckt wurde. Die meisten Boxen standen zwar weiterhin auf den Gestellen, aber im Inneren zeigten sie zahlreiche Anzeichen von Vandalismus. Fotos waren ausgeschnitten und gestohlen, Seiten zerrissen, in einzelnen Fällen fanden sich sogar Umschläge ohne jeglichen Inhalt. Manchmal fehlte alles. Es gab keine Anzeichen von gewaltsamen Eindringen in die Räume. Es bleibt bis heute unklar, ob alles aufs Mal oder schrittweise über eine längere Zeit hinweg gestohlen worden war. 

Der Titel dieses Buches, AO1 [COD.19.I.I.43]  A27 [S | COD.23], spiegelt das Ordnungssystem der ursprünglichen Inventarisierung der 27 Alben wider. Die Mischung aus einfachem grauem Karton und Goldschnitt wiederum spielt auf das Zwitterdasein von Dokumenten in Archiven an. Sie sind auf der einen Seite einfache Dokumente, aber gleichzeitig wertvolle Erinnerungsstücke, kleine visuelle Denkmale der Stadtgeschichte, Puzzlesteine des kollektiven Erinnerns. Verschwinden sie, entstehen Lücken, die nie mehr geschlossen werden können. Vergleichbar den Leerstellen des Denkens und Erinnerns bei persönlicher Demenz. Rosângela Rennó hat drei, vier Jahre zuvor schon einmal über einen ähnlichen Fall berichtet und in gleicher Weise publiziert: 2005-510117385-5 berichtet in visueller Form über die Folgen eines Diebstahls von 751 Fotografien aus der Sammlung D. Thereza Christina Maria, aus einer 23‘000 Fotografien umfassenden Privatsammlung, die Kaiser D. Pedro II 1889 nach der Proklamation der Republik Brasilien der Nationalbibliothek schenkte.2 Rennó fotografierte darin die Rückseiten der 101 wiedergefundenen Fotografien. Sie dokumentieren die Schäden und Eingriffe an den Fotografien, etwa den Versuch, den Stempel der Bibliothek wegzuätzen, um die Bilder besser verkaufen zu können. 

Rosângela Rennó thematisiert in diesen zwei Archiv-Büchern auf stille, aber präzis-stoffliche Weise das Thema der kulturellen Amnesie, des sorglosen Umgangs mit dem kulturellen Erbe in Brasilien. Das junge Land strebe, so äussert sich Rennó im Gespräch, mit verschlingender Kraft nach vorne und verdränge systematisch, also absichtlich die Ordnung des Geschehenen, die Erinnerung an die Vergangenheit. Der zentrale Handlungsmotor ihres Schaffens ist entsprechend eine dauernde Aneignung gegen das Vergessen, ein Sammeln und Aufarbeiten von Materialien und ihren Geschichten – zur Formung einer visuellen Geschichte Brasilien.

Wo wird was unter welchen Umständen wie fotografiert? Wo wird was mit welchen Absichten archiviert, sorgfältig oder schludrig? Wo wird weggeworfen, gestohlen, absichtlich oder unabsichtlich vandalisiert? Was geschieht, wenn ein grosses Pressehaus seine Fotografien scannen will? Dabei aus 7-10 Millionen Fotografien aber nur 5 % dafür auswählt. Das sind paar wenige von vielen Fragen im Umgang mit Fotografie in Archiven. Der Umgang mit Gebrauchsfotografie in Wirtschaft, Medien, Archiven spiegelt auch unser Verhältnis zu den Produktionsbedingungen des Lebens, Gesellschaft, der Wirtschaft, unserer Konsumgüterproduktion. Und da gilt oft: Wir verschalen, verkleiden, drapieren, lackieren, decken gerne ab und zu – die schiefe Wand, das alternde Gesicht, die ausbrechende Bohrstelle, die verbeulte Karosserie. Wir arrangieren unsere Welt gerne so, dass ihre Entstehung, ihr Mechanismus, ihr Operieren nicht mehr sichtbar sind, dass sie wie eine perfekte glänzende Box vor uns hingestellt, betrachtet und bewundert werden kann. Handlungen verschwinden im Resultat, Ausrisse, Mängel und Fehlhandlungen werden kaschiert, Leerstellen wegeditiert. Wir mögen das Resultat, den Auftritt, die Aktion, das Event und den Glanz – und retuschieren das Dazwischen, das Abwesende, Matte weg, wischen das Unerwünschte in den realen oder virtuellen Papierkorb. So besteht unser Bild der Welt oft aus lauter (persönlichen, beruflichen) Bühnenauftritten, aus erfolgreichen Handlungen, aus Präsenz und Glanz, während Leerstellen – das Warten, Nichtgeschehen, die Langeweile – und «Schmutzstellen» – harte Arbeit, schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung etc. - unter den Tisch fallen oder absichtlich verdeckt werden. 

Diese Haltung wird durch sich überlagernde, sich verschiebende Erinnerungsspuren weiters verstärkt. Harald Welzer formulierte in einem Vortrag zum Thema «Bilder im Kopf – Wahrheit und Erinnerung» (gehalten 2006 am Zentrum für Fotografie in Winterthur): «Die Konsolidierung einer Erinnerungsspur im Gedächtnis beinhaltet nicht nur das, was tatsächlich geschehen ist, sondern wie es interpretiert und vor allem auch: wie es kommuniziert worden ist. Erinnerung ist immer das Ereignis plus die Erinnerung an seine Erinnerung, und jedes erneute Vergegenwärtigen der Erinnerung überschreibt das vorhandene Engramm, also die spezifische neuronale Verknüpfung, das die Wahrnehmung, Einspeicherung, Konsolidierung und den Abruf des vergangenen Ereignisses im Gehirn repräsentiert. Die Gedächtnisforschung liefert mittlerweile vielfältige Belege dafür, dass das Gehirn keineswegs immer zwischen phantasierten und faktischen Geschehnissen unterscheidet und vor allem dafür, dass das wiederholte Kommunizieren eines Ereignisses die Erinnerungsspur immer weiter konsolidiert, d.h. sie auch mit einem höheren subjektiven Wirklichkeitsgehalt versieht. Falsche Erinnerungen sehen genauso aus und fühlen sich genauso an wie echte3

«Well, where is photography?» In diesem Fall kann man auf die Frage antworten: Hoffentlich in einem guten Archiv, in guter Ergänzung von analog und digital, mit aufmerksamer Beschriftung, bestmöglich konserviert. Und beschriftet, geordnet, datiert, inventarisiert, damit die Bilder nicht mehr entkommen, weder fortgeworfen noch gestohlen werden, auch nicht im Archiv unerkannt in der Masse verschwinden. Axel Schmidt formulierte beim gleichen Symposium: «Kataloge haben – so wie Archive im Allgemeinen – eine Funktion, die auch Gefriertruhen haben. Sie frieren Gegenstände ein, halten sie fest, damit man sie später wieder auftauen und weiterverwenden kann. Kataloge konservieren aber nicht nur Dinge, sondern auch kulturelle Beziehungen zwischen den Dingen, Ordnungen. Es gehört zu ihren Eigenschaften, bewahrend oder mit einem anderen Begriff ausgedrückt: konservativ zu wirken. Ohne Gefrieren kein Archiv – ohne Auftauen kein lebendiges visuelles Gedächtnis. Lebendig und abrufbar wird das Gedächtnis des Archivs erst dann, wenn es in Verbindung gebracht wird mit der Kultur ausserhalb des Archivs, mit der Gegenwart. Wenn Fragen an das Archiv gestellt werden, die die Erstarchivare vielleicht noch gar nicht gestellt haben oder nicht stellen konnten.»4

Gerade bei dem Speed, den wir derzeit erleben, der unseren Kopf kräftig durchbläst, durchschüttelt, können Fotografien und ihr zu gleichen Teilen intelligentes-konservierendes Aufbewahren für das Festhalten des Persönlichen, Gesellschaftlichen, Ereignishaften trotz aller Zweifel, aller Problematiken weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Oder? Doch sie folgen unserem Erkenntnisinteresse oder unserer Erkenntnisfaulheit. Wenn wir wissen wollen, dann achten wir sie, sonst vergessen, verwursteln, verlieren, verachten wir sie.

Was meinst du, Hester?

 

1 Rosângela Rennó: AO1 [COD.19.I.I.43]  A27 [S | COD.23]. Rio de Janeiro 2013

2 Rosângela Rennó: 2005-510117385-5. Rio de Janeiro 2009

3 Abstract of his lecture at the symposium «Visuelles Gedächtnis», Centre for Photography, Winterthur, June 26, 2006

4 Abstract of his lecture at the symposium «Visuelles Gedächtnis», Centre for Photography, Winterthur, June 26, 2006

16. Juli 2016

Liebe Hester

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Meine kurze Antwort auf Deine Schlussfrage lautet: Unterschiedliche Erfahrungsfelder! :-) Verschiedene Erfahrungsfelder, Arbeitsfelder, Denkfelder lassen weiterhin, trotz sich globalisierender Fragestellungen, trotz globalen Informationskanälen, den Lichtkegel des Interesses etwas anders in den Raum fallen, lassen uns weiterhin aus unterschiedlichen Perspektiven sehen und werten. Du hast Recht: Aus der Sicht der sich globalisierenden Wirtschaft gibt es kein «Ausserhalb» mehr, kein ausserhalb des Systems. Da ist die schmerzliche tiefe Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Auch das Feld der einst «hehren» Kunst ist heute nichts anderes als ein weiteres Wirtschaftsfeld, in dem man viel Geld gewinnen oder verlieren kann. Trotz dieser Einsicht, dass der Filter der globalisierten Wirtschaft, der Filter des Konsumismus, alles zur Ware werden lässt, verhalten wir uns aber nicht zwingend so, gibt es gleichwohl unterschiedliche Wo’s und Wie’s. Die Systembetrachtung darf den Künstler nicht darauf limitieren, seine eigene Kunst nur noch unter monetären Gesichtspunkten zu betrachten. Das gleiche gilt für einen ehrlichen, intensiven Betrachter, Erleber, «Benutzer» von Kunst. Die Dominanz und Omnipräsenz des Ökonomischen darf unser Dasein nicht restlos bestimmen.

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Meine längere Antwort, hoffentlich verbunden mit neuen Fragen und Einsichten, beginnt so: Als ich Anfang der 1990er Jahre den Aufbau und die Eröffnung des Fotomuseum Winterthur vorantrieb, wurde ich oft gefragt, weshalb wir ein Museum für Fotografie in einer Zeit eröffnen, in der zeitgenössischen Kunstmuseen anfangen, Fotografie zu zeigen. Eine meiner dezidierten Antworten darauf lautete jeweils: Weil sich die Kunstorte für 1 Promille der fotografischen Produktion interessieren und die restlichen 99.9% vernachlässigen oder manifest verstossen. Weil es nicht nur Kunst-, sondern auch Gebrauchsfotografie gibt. Weil die Fotografie ein Medium ist, mit dem man, nebst Kunstmachen, auch Hochzeiten und andere Erinnerungen, Farben und Formen, Geschichten und Geschichte und vieles anderes mehr festhalten kann. Und mit Blick auf andere Fotomuseen fügte ich oft bei: Und das Fotomuseum Winterthur interessiert sich nicht nur für Kunst, für Autorenfotografie, für die Highlights der Fotogeschichte und der zeitgenössischen Fotografie, sondern es interessiert sich auch für alle Gebrauchsformen der Fotografie, für Industriefotografie beispielsweise, Polizeifotografie, Medizinfotografie, Modefotografie, Dinge- und Sachfotografie usw. Und zwar nicht aus dem Blickwinkel eines fotoästhetischen Kanons, sondern aus soziologischem Interesse, aus Neugierde an der Funktion der Fotografie im gesellschaftlichen Kontext, der Verbindung von Visuellem und Soziologischem. 

Die ersten zehn Jahre fiel es uns schwer, unsere Ausstellungkonzepte anderen Museen oder Ausstellungsorten schmackhaft zu machen. So wie ich im letzten Beitrag schilderte, dass Fotografien der Industrien tonnenweise weggeworfen wurden und werden, so schienen sich weder die Kunstmuseen noch die Fotomuseen für diese teils anonyme Gebrauchsfotografie zu interessieren (zum Beispiel in «Industriebild» oder in «Ecstasy of Things»). Bis heute fahren viele Fotomuseen ein Programm der Autorenfotografie, sie folgen der Liste der wichtigen Namen pro Bereich und zeigen einen Fotografen nach dem anderen (und nach wie vor weit weniger Fotografinnen), aber sie lassen die Finger vom grossen, weiten, etwas unkontrollierten Feld der Gebrauchsfotografie. In den Nullerjahren sind dann einige Themen von Künstlern aufgegriffen und eine Zeitlang thematisiert worden. Thomas Ruff zum Beispiel nahm sich der Maschinen- und dann der Pressefotografie an. In Fotokreisen schaffte es Vernacular Photography zu einem kleinen Hype. Im Deutschen klingt der Begriff «Gebrauchsfotografie» weiterhin brauchbar, im Englischen mag er einen Beigeschmack haben, von dem ich bisher nichts wusste, wichtiger ist mir hier, dass es dieses gigantische Feld der Gebrauchsfotografie, der Nicht-Kunst-Fotografie gibt, dass es weit umfassender und oft passender als visuelles Erinnerungsarchiv fungieren kann, als es fotografische Werke im Feld der Kunst je sein wollen oder können. Und dass es dieses Feld auch dann noch gibt, wenn sich die Künstler und Theoretiker schon längst wieder anderen Themen, anderen Interessen zugewandt haben. 

Vielleicht war ich in meiner Darlegung nicht klar genug (doch hoffentlich nicht ganz so bunt und chaotisch wie eine Puppenstube☺), aber ich spreche nicht von geschützten Gärten, geschützten Feldern, von sanktionierten Archiven voller erlesener Fotografien, sondern ich spreche von den 99, den 99,99 Prozent. Ich sprach in meinem dritten Blogbeitrag von den Chancen und Gefahren von Aufbewahrungsorten für Fotografien als Teil unseres visuell-historischen Erinnerung, als Fund- und vielleicht Beleggrube für zukünftige Forschung an der Vergangenheit – im Hinblick auf Erkenntnisse für unser jetziges und zukünftiges Leben. Das Problem dieser Fotografie ist es gerade, dass sie in der Regel kaum einen kommerziellen Mehrwert erzielen kann, sondern dass ihre Aufbewahrung und Aufbereitung dauernd Geld kostet. Entsprechend wird weltweit fröhlich weggeworfen, entsorgt. Fotografie ist in der gesellschaftlichen Anerkennung immer ein armes Bild gewesen, und nur die Bilder, die im Kontext Kunst wahrgenommen werden, erhalten einen Status und entsprechend wird ihnen ein finanzieller Wert zugesprochen.

Ich wollte das private Archiv, das Firmenarchiv, das Gemeindearchive, Archive der öffentlicher und privater Institutionen als ein zentrales «Wo» der Fotografie mit eigenen Gesetzmässigkeiten benennen, seinen Wert hervorheben und gleichzeitig das Prekäre daran festhalten. Hier hast du mit zwei zentralen Punkten ergänzt: Ja, wir können nicht alles sammeln und aufbewahren, ja, wir müssen immer einen Teil wegwerfen. Und jede Entscheidung, aufzubewahren oder wegzuwerfen, schafft Ungleichheiten, das ist unvermeidbar, gehorcht darin meist nicht nur pragmatischen, sondern auch ideologischen Prinzipien. Aber diese Einsicht sollte uns nicht davon abhalten, dennoch aktiv zu werden, dennoch zu handeln, oder? Dein Vergleich mit dem Svalbard Global Seed Vault hinkt aus meiner Sicht etwas, weil das Fotoarchiv immer rückwärts, in die Vergangenheit gerichtet ist, und diese gigantischen Samenarchive als (kommerzielle oder gesellschaftliche) Daseinsversicherung zukunftsgerichtet sein wollen. In einer Hinsicht aber gleichen sie sich an: die Fotografien in Archiven dienen u.a. einer Verlebendigung der Erinnerung, einer Verlebendigung der Geschichte, die immer wieder neu geschrieben wird. Insofern ändert jeder Gang mit offenem Geist in irgendein Archiv das Bild der Vergangenheit, sowie jede Vermischung von Samenbank und Aussenwelt die Wirklichkeit kräftig durchschütteln wird. 

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Das Museum und das analoge oder digitale Archiv sind nur Bruchteile der Orte, an denen Fotografie stattfindet, eingesetzt, gebraucht und gesammelt wird. Das Spannende und Uferlose, Aufregende und «Gefährliche» an Fotografie ist, dass sie, wie gesagt, überall für jeden vorstellbaren Zweck eingesetzt wird. Für Überwachungs- und Kontrollzwecke (Polizeifotografie), für Darstellungs- und Bildungszwecke (Medizinfotografie, botanische Fotografie), für zeitgenössische Fiktionalisierungen und Kreationen von Erlebniswelten im Dienst der Wirtschaft (Werbefotografie), für Identitäts- und Erinnerungsgestaltungen, Erzeugen von Sentimentalitätsfeldern, für blosse Daseinsversicherungsgesten (hier bin ich) usf. Alle diese Wo’s folgen gemeinsamen und eigenen Gesetzmässigkeiten zugleich, allen diesen Wo’s folgen, im Deutschen geht das sprachlich passend, die Fragen nach: Wohin? Woher? Wozu? Wovon? Worauf? Womit? Fragen, die ein System von Regeln, Funktionen und Bedeutungsfeldern andeuten, das zum Schluss, wie Du zurecht schreibst, oft mit dem monetären «Wieviel?» abgeschlossen wird. Und der Kreislauf, das hast du deutlich gemacht, ist weit grösser und schneller geworden: «Moreover, the digital copy validates the original work every time it is shared, downloaded, forwarded, tagged, resized, instagrammed, or even stolen, cropped, and used for a meme. Within this economy, going viral is the highest good. To perform such labor - for it takes our time to engage in this manner with photography - the ordinary internet user is called upon. Every time we circulate an image, the original of which is held in public or private possession, we increase its value for the owner, who ‘gets money for nothing and chicks for free’.”

Ich erlaube mir, den monetären Aspekt hier wegzulassen, und dafür, zum Schluss, nochmals deutlich zu fragen: Und wissen wir, was wir da tun? Gibt es neben einem «Know that» auch ein «Know how» im Gebrauch der Fotografie? Anders gesagt: Es gibt einen zentralen Ort, an dem ich die Fotografie total vermisse: An den normalen Schulen weltweit, an den Primar-, Sekundarschulen, Gymnasien, wie immer sie je nach Land und System heute heissen mögen. Hier werde ich erstaunlicherweise weiterhin missionarisch, wie man meiner Einleitung zu einem Symposium schnell anmerkt: «Die Diskussionen und Debatten über die «Visual literacy» laufen seit Jahren auf Hochtouren. Umberto Eco hat früh darauf hingewiesen, dass wir in eine Zeit eintreten, in der die visuelle Kommunikation zumindest ebenso wichtig sein wird wie die Sprache, wenn nicht gar wichtiger. Sein Diktum ist über 20 Jahre alt. In der Zwischenzeit sind wir in ein neues visuelles, vernetztes Zeitalter eingetreten, und erleben im Alltag, im Beruf, in den Medien, in der Internetkultur, wie unglaublich stark das Wort durch das Bild ersetzt wird, wie massiv das Wort von Bildern auch verdrängt wird. Eine Erziehung zum Bild, zum Bildverständnis, zur Bildsprache, zur Kommunikation und Manipulation mit Bildern findet aber nicht statt. Wir stehen vor der Situation, dass wir alle Konsumenten, aber letztlich Analphabeten des Bildes sind. Die Auseinandersetzung mit den Strukturen und Funktionsweisen hat deshalb auch einen eminent aufklärerischen Aspekt: Wir müssen zum Bild erzogen werden, wir müssen im übertragenen Sinn des Wortes «Bild-ung» erfahren, um für die Kommunikationen der Gegenwart und Zukunft gewappnet zu sein. Entscheidend dabei ist jedoch nicht nur das Lesen und Verstehen von Fotografien, sondern die Erkenntnis, dass Fotografie Ereignisse nicht nur dokumentiert, sondern sie geradezu erzeugt. In einer mediatisierten Welt gilt nur als wichtig, was dokumentiert, was gezeigt, was gesehen, worüber «gesprochen» wird, anderes existiert nicht, ist nicht da, nicht vorhanden. Die Fotografie schafft durch ihr Bild die Welt, an die wir uns erinnern wollen und werden. Die Fotografie generiert die visuelle Vorstellung unserer Welt. Die Fotografie prägt unsere zukünftigen Weltbilder und Handlungsweisen mit.»1

Erstaunlicherweise scheint das bis heute kaum jemanden zu kümmern, oder nur sehr, sehr wenige Fachleute. Wenn ich google: Auseinandersetzung mit Bildern / Education in Bildern / Erziehung zum Bild  / Fotografie und Pädagogik, dann erhalte ich im besten Fall einen Freizeit-Workshop oder die Umkehrung: das Erziehen mit Bildern bei Kleinkindern. Aber nichts zur Frage: Was ist ein Bild? Wie funktionieren Bilder? Was zeigen sie, was verbergen sie? Was lösen sie aus? Wie sind sie strukturiert? Wieso verhalten sie sich wie Chamäleons, sind also je nach Kontext andere Wesen mit anderer Bedeutung? Wieso kann man sie so leicht entleeren und für alles andere auch benützen? Wie wird mit Bildern manipuliert? Und so weiter. Ich will hier kein Curriculum aufstellen, sondern nur betonen, dass ausser Spezialisten niemand wirklich eine tiefreichende Ahnung hat, wie Bilder funktionieren, während gleichzeitig bei Facebook jede Meldung ohne Bild abschmiert, also kaum zur Kenntnis genommen wird. Eine Situation, die doch, so meine ich, höchst prekär und seltsam ist. Sonst versuchen die Grundschulen immer, ihre Schüler und Schülerinnen, uns alle auf die wichtigen Bereiche des Lebens und der Welt vorzubereiten, in Sprache, Mathematik, Physik etc. Hier aber bisher gar nicht. Die Initiative von Eikones in Basel2, zusammen mit einer Gymnasialklasse in einer Testphase das «Bild» in den Lehrplan aufzunehmen, ist ein rares Gegenbeispiel. Hier tut sich ein Spalt auf, den wir schnellstens schliessen sollten. Meinst Du nicht auch?

Damit schliesse ich meine Beiträge hier. Ich hatte das erste, einleitende Wort. Du hast nun das letzte, abschliessende Wort. Ich bedanke mich herzlichst für den intensiven, erfrischenden Austausch mit Dir, liebe Hester.

Urs Stahel

 

1 Einführung zur ASIP-Konferenz "Bilderwissen / Décoder l'image", in Zusammenarbeit mit Camera Arts in Luzern. http://cameraarts.ch/updates/re-view-symposium-bilderwissen-decoder-limage/

2 Das Programm von Eikones lässt sich so kurz zusammenfassen: Iconic Criticism. The Power and Meaning
of Images. https://eikones.ch/eikones/introduction/?L=1

http://ba.e-pics.ethz.ch/#1468447907989_1

http://www.loc.gov/pictures/item/hec2009013109

http://digitalcollections.nypl.org/search/index?utf8=%E2%9C%93&keywords=childrens+work

http://www.iwm.org.uk/collections/search?query=first+world+war&items_per_page=10