März 2003

Boom oder Ende?
Die Fotografie im Rampenlicht

Im vergangenen Herbst geschah es: Nicht weniger als fünf Galerien allein in der Stadt Zürich stellten zur gleichen Zeit Fotografien oder Werke, deren Ausgangspunkt eine Fotografie ist, aus. Nun war es also geschafft. Der hundertfünfzigjährige Kampf der Fotografie um Anerkennung als Kunst - gleichberechtigt neben Malerei und Skulptur - und um Integrierung der Fotogeschichte in die Kunstgeschichte schien - sogar in Zürich, in der Schweiz - entschieden. Fotografie ist von nun an offenbar Kunst, denn bei den fünf Galerien handelte sich um «normale» Kunstgalerien und nicht um die Sonderspezies «Fotogalerie». Zählte man darüber hinaus die öffentlichen Kunstorte dazu, so durfte man von einer auffallenden Häufung von Fotografie sprechen.

Endlich ist's erreicht! Wenn ein Mensch derart stressig, bisweilen verkrampft und immer wieder frustriert sein Leben lang dieser einen Anerkennung hinterhergerannt wäre, er hätte sicher noch am Tage der Erfüllung einen Herzinfarkt erlitten. Dieser Entspannungsinfarkt ist der Fotografie erspart geblieben. Im In- und Ausland boomt sie, wie nie zuvor. Aber aufgepasst. Es lauern noch an einigen Stellen Gefahren, an denen es die Fotografie, wenn sie nicht vorsichtig genug ist, erwischen könnte:

In der noch jungen Euphorie könnte sie leicht übersehen, dass sie eben daran ist, herausgefordert zu werden, weil grundsätzlich neue Medien an Boden gut machen. Es sind selbstleuchtende, selbstgenügsame, eine Art Indoor-Medien, um ein Begriff aus dem Sport zu gebrauchen, die nicht aufs gute Wetter und das schöne Herbstlicht angewiesen sind und bald schon die schöneren Berge zu erzeugen und die härteren, echteren, hautnäheren Gefechte zu liefern fähig sind - weil sie gar nicht mehr da-gewesen sein, sondern nur mehr so-gedacht werden müssen.

Die Euphorie könnte verdecken, dass die Fotografie zwar auf ein edles, aber doch aufs falsche Pferd gesetzt hat, dass sie, immer wieder rückwärts gerichtet und Kunstformen der Vergangenheit imitierend, sich im Buhlen um Anerkennung schliesslich zwar Statusvorteile eingeheimst hat, es dabei aber verpasste, auch weiterhin technologisch auf der Höhe zu sein. Und die Enttäuschung dürfte noch weit grösser sein, wenn ihr plötzlich vorgehalten wird, dass diese neu errungene Stellung, Fotografie sei Kunst, genauso falsch oder unsinnig sei, wie es der gegenteilige Satz, diese zahllosen Beweisführungen in der Geschichte, dass Fotografie niemals Kunst sein könne, gewesen ist. Denn die Frage war schon immer falsch gestellt, immer schon zu sehr vom Statusdünkel durchtränkt gewesen. Die Fotografie,was ist sie denn? In erster Linie wohl ein Apparat, eine Bilderzeugungsmaschine. Und die Kunst? Inzwischen wohl am besten als eine sich ständig wandelnde Definition zu beschreiben, eine Definition dessen, was man unter Kunst, Kunstkontext, Kunstinteresse heute gerade versteht. Das klingt nach Zirkelschluss, ist es auch in gewisser Weise, wie unser Denken insgesamt, aber die Kunst ist hermetischer in der Attitüde als in der Auseinandersetzung selbst. Wie aber kann man eine greifbare Maschine mit einer abstrakten Maschinerie, einer abstrakten Definition vergleichen? Ohne Fehlschlüsse wohl nicht. Fotografie ist eine Bilderzeugungsmaschine, mit der man allerlei machen kann, Ferienfotos zum Beispiel, intime Fotos auch und im Auftrage einen Schuh attraktiv fotografieren oder eben sich im Feld der Kunst bewegen. Und nur diese letzte Form darf den Anspruch auf Kunst erheben. Zur Zeit der Herstellung jedenfalls, die Adelung durch die Geschichte sei hier nur angetönt.

Also gleich wieder zurückgestossen, um die Statusansprüche geprellt? Es kann auch umgekehrt geschehen, dass diese Ansprüche offene Türen einrennen und derart auf der anderen Seite der Plattform wieder raus- und runterrutschen. Zum Beispiel, weil die Kunst sagt, sie sei so fotografisch geworden, dass die Frage, ob Fotografie Kunst sei, niemanden mehr zu interessieren vermöge. Spätestens hier ginge es nicht nur der Fotografie, sondern ebenso ihrem Auslöser an den Kragen. Denn der Fotograf wird wie nie zuvor spüren, dass es jetzt wohl das Fotografische irgendwie geschafft hat, aber sicher nicht der Fotograf. Ganz andere Leute sprechen und agieren jetzt im Namen des Fotografischen und der Fotograf selbst wird belächelt wie ein Senn in der Stadt. Er kommt sich auf dem eigenen Feld wie ein Fremder vor, der sein eigenes Terrain nicht wieder erkennt.

Aber im grössten Boom aller Zeiten, und den erfährt die Fotografie gegenwärtig wirklich, nur auf den allerorten lauernden Absturz hinzuweisen, ist Spielverderberei. Deshalb nachfolgend einiges zu diesem Boom, ein paar Auskostungen, ein paar Erklärungen in der Art von Sportlern - wir wissen auch nicht, wieso es so gut läuft - und erst zum Schluss hin wieder ein paar Sätze zum Bedenken. 

Das Beispiel Zürich darf verallgemeinert werden. Jede gute und auch die anderen Galerien halten sich heute ihren Künstler, der mit Fotografie arbeitet, oder einen Fotografen, der sich wie ein Künstler betätigt. Darunter geht es in der Regel nicht. Alles andere wird kräftiger noch als vorher unter den Teppich gekehrt, damit ja kein falscher Geruch, kein falscher Verdacht aufkommt. Dieser Zwang zur Haltung eines oder mehrerer Fotografieschaffenden hat, und dafür sind die Argumente leicht zur Hand, auch ökonomische Gründe. Der Kunstmarkt ist in einem Masse zusammengebrochen, dass die Galeristen manchmal nicht mehr ein noch aus wissen. Es ist doch nicht möglich, die Arbeiten vom selben Künstler nun plötzlich um die Hälfte billiger zu anzubieten. Das würde das Vertrauen der sammelnden Kundschaft noch mehr schmälern. Also billig anbieten geht nicht, aber vielleicht billig verkaufen, unter der Hand, am Rande des Einstandpreises. Offiziell den offiziellen Preis und unter der Hand so etwas wie einen Treuepreis. Eine andere und elegantere Möglichkeit ist jene, dann und wann einen Fotografen auszustellen, dessen Preise nur einen Viertel oder noch weniger ausmachen. Etwas fürs kleinere Geld und für eine allfällige neue und jüngere Käuferschicht. Die Fernsehgeneration, die vielleicht gar nichts mehr mit anachronistischen Farbe-Anstreichen und Holz-Zersägen anfangen kann, wohl aber mit der etwas zeitgenössischeren Foto-Chemie. 

Oekonomische Gründe sind, wie gesagt, schnell zur Hand und ausgeführt, aber sie greifen weder weit noch tief, wenn nicht noch entscheidend anderes die Situation nährt. Es ging nicht mehr soviel Ende der achtziger Jahre, weder in der Malerei - der siebenunddreissigste Farbstreifenmaler mit der sechtzehnten grundsätzlich anderen Haltung stimmte zwar manchmal fröhlich, aber auf die Länge konnte das nicht mehr zufriedenstellen - noch in der Skulptur, wo die Identität mit der Warenwelt stark zugenommen hatte, so dass das Warenhaus als Original der Kopie Kunstort  den Rang abzulaufen begann. Es ging nicht mehr viel, ausser es hatte mit Fotografie zu tun.

Mehrmals schon in diesem Jahrhundert konnte «in die hermetische Abschottung des alten ästhetischen Diskurses eine äusserst kritische Prüfung eindringen», wie Rosalind Krauss es formuliert hat, wenn die Fotografie oder das Fotografische ins Spiel kam. Ja, man muss wiedereinmal auf Marcel Duchamp hinweisen. Bereits seine Kunstauffassung, die hauptsächlich auf der Situationsbedingheit, auf der Gebundenheit im System beruhte, wäre ohne die Entdeckung und den Umgang mit der Fotografie nicht denkbar gewesen. Erstaunlicher ist, dass die suprematistische Bewegung um Malewitsch und Lissitzky Wesentliches, nämlich ihre Konzeption und Repräsentation eines neuen Raumes, aus der Luftbildfotografie hergeleitet hatte. Den üblichen Hinweis auf Dada und Surrealismus überspringen wir, um mitten in der «Neuzeit» des 20. Jahrhunderts die Pop Art einzubeziehen: Als Robert Rauschenberg Ende der fünfziger Jahre anfing, in seine Combine paintings (kombinierte, montierte Bilder) Fotografien einzufügen, einzumontieren, sie dann übermalte, überklebte oder auch stehen liess, so integrierte er mit ganz bestimmter Absicht ein Realzeichen in eine Malerei, die damals am Nullpunkt stand und nach Auswegen, nach einem neuen Dialog suchte. Realzeichen, Spur, Abguss der Wirklichkeit mit physikalischer Verbindung und die Montage von Fragmenten, von Einzelsichten sind Eigenschaften des Fotografischen.

Für die Konzeptkunst, die vielfach das Augenmerk auf den Akt des Wahrnehmens richtete und sich der Erforschung der Bedingheit und Kontext-Abhängigkeit des Sehens widmete, war die Fotografie wiederum, neben der Sprache, ein geeignetes Mittel, weil sie das Allgemeine betonte, gegenüber dem Subjektbefrachteten, Individuellen, Besondern,  und weil sie der Absicht, die Autorenschaft im Werk zugunsten einer übersubjektiven Untersuchung von Verhältnissen zurückzustellen, entgegenkam. Fotografie als das Vorhandene, das jedermann gehört: «Ready mades belong to everyone».

Verliess das Kunstwerk endgültig den Rahmen und sogar den Ausstellungsraum wie in der Spurensuche, der Land Art und all den Happenings, so erfüllte die Fotografie zuerst einmal die Funktion der Dokumentation des flüchtigen Ereignisses. Schon bald jedoch wurde sie bestimmender Teil der Arbeit, wandelte sich die Performance zu einer Foto-Performance, in der eigens für die Fotografie inszeniert würde (Urs Lüthi, Manon, Minkoff-Olesen, um Schweizer Beispiele zu nennen). Fotografie ist hier wichtiges Mittel, um in einer theatralischen Auffächerung der Identität, ihrer Auflösung gar Bilder der Befindlichkeit von Subjekten zu liefern.

Die kollektive Gedächtnis-Kunst von Christian Boltanski oder die Sammelleidenschaft von Annette Messager sind ohne Fotografie schlicht nicht zu denken. Die New Yorker Appropriation Art der achtziger Jahre warf mit ihren Aneignungsstrategien, bei denen oft vorgefundene, gedruckte Fotografien eine Rolle spielten, derart viele Fragen auf, die ebenso zentral das Medium Fotografie selbst betreffen: Original versus Kopie, Teil versus Ganzes, Zeichen und ihre Bedeutung im Kontext und ihr Missbrauch durch Wechsel dieses Kontextes. Aneigung selbst ist eine wesenhafte Eigenschaft des Fotografischen. Die Leichtigkeit des sündhaften Daseins in den achtziger Jahren liebte an der Fotografie das Distanzierte, den vorsymbolischen Charakter, dieses leichte Schweben, das gerade vor dem Sinn haltmacht, damit ja keine Schwere, keine ach so störende Moral aufkommen kann. Das Glatte als Lebenshilfe. Die Erzählung, die nur ganz kurz ansetzt, um gleich wieder, mit einem koketten Seitenblick, ins Schweigen zu versinken.

Was zeigt uns diese Schlaufe durch die jüngere Kunstgeschichte anderes, als dass die Fotografie für die Kunst wichtig geworden ist? Ist dadurch nicht schon wieder die Kunst als Massstab eingesetzt? Sie zeigt wirklich zuerst einmal, wie wichtig in den vergangenen dreissig Jahren die Fotografie, das einzelne Foto, das fotografische Sehen und wesenhafte Züge des Fotografischen für die Kunst geworden sind. Vieles in der Kunst folgte tatsächlich einem fotografischen Dispositiv. Ich habe jedoch mit Absicht zuletzt das Wort Kunst nicht mehr gebraucht, weil die meisten der in der Kunst relevanten Fragen, Problemstellungen, Zweifel und Konfrontation solche auch des täglichen Seins geworden, ja schon immer gewesen sind.

Und Gleiches gilt für die Fotografie. Fotografie übt ein, mehr noch sie hat unser Sehen und Erfahren so stark bestimmt, dass wir sie nicht mehr wegdenken können. Es fehlt dennoch noch ein Letztes und möglicherweise Entscheidendes zur Klärung des Booms: 1859 formulierte Oliver Wendell Holmes, die Fotografie sei der grösste Sieg über die Materie, die Welt werde künftig in zweierlei Gestalt existieren, in der Welt der Formen (der Fotografie) und in der Welt der materiellen Urbilder, die an Bedeutung verlieren: «Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt … Man reisse dann das Objekt oder zünde es an, wenn man will … » Damit schlug Holmes ein Thema an, dass die Welt seither und in jüngster Zeit mit grosser Vehemenz beschäftigt: das Immaterieller-Werden der Welt - von ihm euphorisch, von uns eher ängstlich ausgesprochen. 134 Jahre sind seit diesem Votum vergangen, in dieser Zeitspanne hat sich die Ein- und Wertschätzung der Fotografie (wiederum abhängig vom sich wandelnden Kontext) verändert, ja total verkehrt: Heute können wir sie als die Kunst der letzten Ansichten schätzen, heute gewährt sie, weil sie einer physikalischen Verbindung zum Gegenstand in der Welt entsprungen ist, eine Form von (zunehmend vermisster) Kontinuität. Heute ist das Medium Fotografie nicht mehr die radikal neue Form, bar fast jeglicher Materie, vielmehr das inzwischen vertraute Medium, mit dem wir glauben, der Welt noch ein letztesmal habhaft zu werden.

Das ist wohl ein wichtiger Grund für den Boom, den die Fotografie erlebt. Es ist  ein sentimentaler: Da die Welt, schau schnell hin, bevor sie vergeht, bevor sie sich in undurchschaubaren Formeln und Codierungen auflöst. Codierungen, die jeder Anschaulichkeit, jeder Be-greifbarkeit entbehren und uns nochmals ein Stück des Gefühls fürs Dasein wegnehmen.

Ist denn also die Fotografie bald selbst am Ende? Wacht hinter dem grellen Schein des Booms der Schatten der Ablösung? Ich denke nicht, denn der lineare Ablauf (früher sagte man Fortschritt) in die Zukunft ist auf so breiter Basis einer Parallelität der Ereignisse gewichen, dass man sich für die Zukunft wohl am besten eine Welt vorstellt, in der das analoge Fotobild neben dem digitalisierten Bild seine Bedeutung hat, manchmal einmontiert ins digitale Bild, so wie Rauschenberg Fotografien in die Malereien intergriert, sicher aber umgewertet und herausgefordert durch die Existenz dieser neuen Technologien und ihrem neuen Verständnis. Insgesamt vielleicht mit dem Gewinn, dass wir von nun an jede Fotografie, auch die realistische sich gebährende, als Fiktion verstehen lernen. Die Fotografie von heute an tot, wie sich Charles Hagen in der New York Times in Anlehnung an Paul Delaroches berühmten Ausruf - Von heute an ist die Malerei tot - fragte? Nein, sie ist voll im Saft, mehr noch, die Produktion und die Auseinandersetzung mit diesem Medium scheint erst so richtig in Gang zu kommen.


(Literatur, die ich für diesen Text zu Rate zog: Philippe Dubois: Fotografische Installationen und Skulpturen, in: Skulpturen-Fragmente. Internationale Fotoarbeiten der 90er Jahre, Hrsg. Herta Wolf, Zürich-Wien 1992; Régis Durand: Ein Essay, in: siehe oben; Wolfang Kemp: Theorie der Fotografie I, München 1980)