Dezember 1993

Boom oder Ende - Vortrag über den Status der Fotografie
[Volkshochschule]

BOOM ODER ENDE?

 

Vor einem Jahr geschah es: Nicht weniger als fünf Galerien allein in der Stadt Zürich stellten zur gleichen Zeit Fotografien oder Werke, deren Ausgangspunkt eine Fotografie ist, aus. Nun war es also geschafft. Der hundertfünfzigjährige Kampf der Fotografie um Anerkennung als Kunst schien - sogar in Zürich, in der Schweiz - entschieden.Fotografie als nun gleichberechtigtes Medium neben Malerei und Skulptur und die Fotogeschichte intergriert in die Kunstgeschichte und nicht mehr separat geführt. Fotografie ist von nun an offenbar Kunst, denn bei den fünf Galerien handelte sich um "normale" Kunstgalerien und nicht um die Sonderspezies "Fotogalerie". Zählte man darüber hinaus die öffentlichen Kunstorte dazu, die zur gleichen Zeit ebenfalls Fotografie ausstellten, so durfte man von einer auffallenden Häufung von Fotografie

sprechen.

 

Endlich ist's erreicht! Müsste man erschöpft und jauchzend ausrufen. Wenn ein Mensch derart stressig, bisweilen verkrampft und immer wieder frustriert sein Leben lang dieser einen Anerkennung hinterhergerannt wäre, er hätte sicher noch am Tage der Erfüllung einen Herzinfarkt erlitten. Dieser Entspannungsinfarkt ist der Fotografie erspart geblieben. Im In- und Ausland boomt sie, wie nie zuvor. Aber aufgepasst. Es lauern noch an einigen Stellen Gefahren, an denen es die Fotografie, wenn sie nicht vorsichtig genug ist, erwischen könnte:

 

Zum Beispiel könnte sie in der noch jungen Euphorie leicht übersehen, dass sie eben daran ist, herausgefordert zu werden, weil grundsätzlich neue Medien an Boden gut machen. Es sind diese selbstleuchtenden, selbstgenügsamen, eine Art Indoor-Medien, um ein Begriff aus dem Sport zu gebrauchen, die nicht aufs gute Wetter und das schöne Herbstlicht angewiesen sind und bald schon die schöneren Berge zu erzeugen und die härteren, echteren, hautnaheren Gefechte zu liefern fähig sind - weil sie gar nicht mehr da-gewesen sein, sondern nur mehr so-gedacht werden müssen. Ich spreche hier von der Digitalisierung, der Elektronifizierung des fotografischen Bildes. Es wird gescannt, ins System aufgenommen und bearbeitet, wie das heute im Jargon heisst, und zwar bereits in einer Qualität, die bei der Grösse von A4 kaum mehr eine Unterscheidung vom alten  - analogen - Abbilden zum neuen digitalen Abbilden oder künstlichen Erzeugen zulässt.

 

Die Euphorie könnte verdecken, dass die Fotografie zwar auf ein edles, aber doch aufs falsche Pferd gesetzt hat, dass sie, immer wieder rückwärts gerichtet und Kunstformen der Vergangenheit imitierend, sich im Buhlen um Anerkennung schliesslich zwar Statusvorteile eingeheimst hat, es dabei aber verpasste, auch weiterhin technologisch auf der Höhe zu sein. Vor allem könnte sie es verpassen, die allerwichtigsten Fragestellungen, die Gretchenfragen unserer neuen Medienwelt überhaupt zu verstehen. Das Dagewesensein, das Zeugen-Sein, wird gegenwärtig, während die Fotografen darauf beharren, intensivst am Bildschirm nachgestellt, simuliert. Und die Kraft der Fotografie, Quellenmaterial zu sein, wird dadurch unterhöhlt. Wie man einst mit Vorliebe den sowjetischen Umgang mit der Fotografie beigezogen hat, um zu demonstrieren, wie man mit Fotografien manipulieren kann, wenn beispielweise Trotzki als Abtrünniger wegmontiert wurde, so ist heute, gerade in der Vorweihnachtszeit, wenn all die Foto-Verkaufsprospekte ins Haus flattern, in denen das Manipulieren von Fotografien alltäglich geworden.

 

Die Enttäuschung dürfte noch weit grösser sein, wenn der Fotografie plötzlich vorgehalten wird, dass diese neu errungene Stellung, Fotografie sei Kunst, genauso falsch oder unsinnig sei, wie es der gegenteilige Satz, diese zahllosen Beweisführungen in der Geschichte, dass Fotografie niemals Kunst sein könne, gewesen ist. Denn die Frage war vielleicht schon immer falsch gestellt, immer schon zu sehr vom Statusdünkel durchtränkt gewesen. Es wurde gar nie die Fotografie und die Kunst zusammen ins Gespräch gebracht, sondern es wurde immer ausschliesslich Malerei und Fotografie verglichen und dabei wehrte sich die Malerei natürlich vehement für ihren Anspruch des Originalen und Originären und gegen das Mechanistische der Apparate-Kunst.

 

Die Fotografie,was ist sie denn? In erster Linie wohl ein Apparat, eine Bilderzeugungsmaschine. Und die Kunst? Inzwischen wohl am besten als eine sich ständig wandelnde Definition zu beschreiben, eine Definition dessen, was man unter Kunst, Kunstkontext, Kunstinteresse heute gerade versteht. Und vor allem eine Definition, die sich seit Mitte des 19. Jahrunderts rasant gewandelt hat. Diese Beschreibung klingt nach Zirkelschluss - Kunst ist das, was sie vorgibt zu sein - , ist es auch in gewisser Weise, wie unser Denken insgesamt, aber die Kunst ist hermetischer in der Attitüde als in der Auseinandersetzung selbst. Wie aber kann man eine greifbare Maschine, den Fotoapparat mit einer abstrakten Definition, der Kuunstdefinition vergleichen? Ohne Fehlschlüsse wohl nicht! Fotografie ist eine Bilderzeugungsmaschine, mit der man allerlei machen kann, Ferienfotos zum Beispiel, intime Fotos auch und im Auftrage einen Schuh attraktiv fotografieren oder eben sich im Feld der Kunst bewegen. Und nur diese letzte Form darf den Anspruch auf Kunst erheben. Zur Zeit der Herstellung jedenfalls, die Adelung durch die Geschichte sei hier nur angetönt. (Diskussion um Differenz von Gehalt und Artefakt, Reliquie)

 

Also ist die Fotografie gleich wieder zurückgestossen, um ihre langgehegten Statusansprüche geprellt? Es kann auch umgekehrt geschehen, dass die Ansprüche der Fotografie als Kunstform akzeptiert zu sein, offene Türen einrennen und derart auf der anderen Seite der Diskussions-Plattform wieder raus- und runterrutschen. Zum Beispiel, weil die Kunst so fotografisch geworden ist, dass die Frage, ob Fotografie Kunst sei, niemanden mehr zu interessieren vermag. Weil Das Fotografische die Sichtweise auf die Welt, die Haltung der Künstler so stark geprägt hat, dass sowieso alles fotografisch ist. Spätestens hier ginge es nicht nur der Fotografie, sondern ebenso ihrem Auslöser an den Kragen. Denn der Fotograf wird wie nie zuvor spüren, dass es jetzt wohl das Fotografische irgendwie geschafft hat, aber sicher nicht der Fotograf. Ganz andere Leute sprechen und agieren jetzt im Namen des Fotografischen und der Fotograf selbst wird belächelt wie ein Senn in der Stadt. Er kommt sich auf dem eigenen Feld wie ein Fremder vor, der sein eigenes Terrain nicht wieder erkennt.

 

Aber im grössten Boom aller Zeiten, und den erfährt die Fotografie gegenwärtig wirklich, nur auf den allerorten lauernden Absturz hinzuweisen, ist Spielverderberei. Deshalb nachfolgend einiges zu diesem Boom, ein paar Auskostungen, ein paar Erklärungen in der Art von Sportlern - wir wissen auch nicht, wieso es so gut läuft - und erst zum Schluss hin wieder ein paar Sätze zum Bedenken.

 

Das Beispiel Zürich darf verallgemeinert werden. Jede gute und auch die anderen Galerien halten sich heute ihren Künstler, der mit Fotografie arbeitet, oder einen Fotografen, der sich wie ein Künstler betätigt. Darunter geht es in der Regel nicht. Alles andere wird kräftiger noch als vorher unter den Teppich gekehrt, damit ja kein falscher Geruch, kein falscher Verdacht aufkommt. Und das meint: damit ja nicht der Verdacht aufkommt, das sei ja keine Kunst, weil nicht-künstlerisch, weil nur fotografisch gesehen. Dieser Zwang zur Haltung eines oder mehrerer Fotografieschaffenden hat, und dafür sind die Argumente leicht zur Hand, unter anderem ökonomische Gründe. Der Kunstmarkt ist in einem Masse zusammengebrochen, dass die Galeristen manchmal nicht mehr ein noch aus wissen. Es ist doch nicht möglich, die Arbeiten vom selben Künstler nun plötzlich um die Hälfte billiger zu anzubieten. Das würde das Vertrauen der sammelnden Kundschaft noch mehr schmälern. Also billig anbieten geht nicht, aber vielleicht billig verkaufen, unter der Hand, am Rande des Einstandpreises. Offiziell den offiziellen Preis und unter der Hand so etwas wie einen Treuepreis. Eine andere und elegantere Möglichkeit ist jene, dann und wann einen Fotografen auszustellen, dessen Preise nur einen Viertel oder noch weniger ausmachen. Etwas fürs kleinere Geld und für eine allfällige neue und jüngere Käuferschicht. Die Fernsehgeneration, die vielleicht gar nichts mehr mit anachronistischen Farbe-Anstreichen und Holz-Zersägen anfangen kann, wohl aber mit der etwas zeitgenössischeren Foto-Chemie.

 

Oekonomische Gründe sind, wie gesagt, schnell zur Hand und ausgeführt, aber sie greifen weder weit noch tief, wenn nicht noch entscheidend anderes die Situation nährt. Es ging nicht mehr soviel Ende der achtziger Jahre, weder in der Malerei - der siebenunddreissigste Farbstreifenmaler mit der sechtzehnten grundsätzlich anderen Haltung stimmte immer noch fröhlich, aber auf die Länge konnte das nicht mehr zufriedenstellen - noch in der Skulptur, wo die Identität mit der Warenwelt so stark zugenommen hatte, dass das Warenhaus als Original der Kopie Kunstort  den Rang abzulaufen begann. Es ging nicht mehr viel, ausser es hatte mit diesem seltsamen Ding, mit Fotografie zu tun.

 

Mehrmals schon in diesem Jahrhundert konnte "in die hermetische Abschottung des alten ästhetischen Diskurses eine äusserst kritische Prüfung eindringen", wie Rosalind Krauss es formuliert hat, wenn die Fotografie oder das Fotografische ins Spiel kam. Man muss wiedereinmal auf Marcel Duchamp hinweisen. Bereits seine Kunstauffassung, die hauptsächlich auf der Situationsbedingheit, auf der Gebundenheit im System beruhte - ein Ding erlangt erst seine Bedeutung in einem bestimmten Zusammenhang - , wäre ohne die Entdeckung und den Umgang mit der Fotografie nicht denkbar gewesen. Erstaunlicher ist, zu erfahren, dass die suprematistische Bewegung um Malewitsch und Lissitzky Wesentliches, nämlich ihre Konzeption und Repräsentation eines neuen Raumes, aus der Luftbildfotografie hergeleitet hatte. Den üblichen Hinweis auf Dada und Surrealismus überspringen wir, um mitten in der "Neuzeit" des 20. Jahrhunderts die Pop Art einzubeziehen: Als Robert Rauschenberg Ende der fünfziger Jahre anfing, in seine Combine paintings (kombinierte, montierte Bilder) Fotografien einzufügen, einzumontieren, sie dann übermalte, überklebte oder auch stehen liess, so integrierte er mit ganz bestimmter Absicht ein Realzeichen in eine Malerei, die damals am Nullpunkt stand und nach Auswegen, nach einem neuen Dialog suchte. Realzeichen, Spur, Abguss der Wirklichkeit mit physikalischer Verbindung und die Montage von Fragmenten, von Einzelsichten sind Eigenschaften des Fotografischen.

 

Für die Konzeptkunst der siebziger Jahre, die vielfach das Augenmerk auf den Akt des Wahrnehmens richtete und sich der Erforschung der Bedingheit und Kontext-Abhängigkeit des Sehens widmete, war die Fotografie wiederum, neben der Sprache, ein geeignetes Mittel, weil sie das Allgemeine betonte, gegenüber dem Subjektbefrachteten, Individuellen, Besondern,  und weil sie der Absicht, die Autorenschaft im Werk zugunsten einer übersubjektiven Untersuchung von Verhältnissen zurückzustellen, entgegenkam. Fotografie als das Vorhandene, das jedermann gehört: "Ready mades belong to everyone".

Als dann das Kunstwerk endgültig den Rahmen und sogar den Ausstellungsraum verliess wie in der Spurensuche, der Land Art - Hamish Fulton, der über die Berge wandert, Richard Long, der ein Aehnliches tut - und all den Happenings, so erfüllte die Fotografie dort zuerst einmal die Funktion der Dokumentation der flüchtigen Ereignisse. Schon bald jedoch wurde sie bestimmender Teil der Arbeit, wandelte sich die Performance zu einer Foto-Performance, in der eigens für die Fotografie inszeniert würde (Urs Lüthi, Manon, Minkoff-Olesen, um Schweizer Beispiele zu nennen). Fotografie ist hier wichtiges Mittel, um in einer theatralischen Auffächerung der Identität, ihrer Auflösung gar Bilder der Befindlichkeit von Subjekten zu liefern.

 

Die kollektive Gedächtnis-Kunst von Christian Boltanski oder die Sammelleidenschaft von Annette Messager sind ohne Fotografie schlicht nicht zu denken. Die New Yorker Appropriation Art der achtziger Jahre warf mit ihren Aneignungsstrategien, bei denen oft in Magazinen oder alten Büchern vorgefundene, gedruckte Fotografien eine Rolle spielten, derart viele Fragen auf, die ebenso zentral das Medium Fotografie selbst betreffen: Original versus Kopie, Teil versus Ganzes, Zeichen und ihre Bedeutung im Kontext und ihr Missbrauch durch Wechsel dieses Kontextes. Das Aneignen selbst ist eine wesenhafte Eigenschaft des Fotografischen. Die Leichtigkeit des sündhaften Daseins in den achtziger Jahren liebte an der Fotografie das Distanzierte, den vorsymbolischen Charakter, dieses leichte Schweben, das gerade vor dem Sinn haltmacht, damit ja keine Schwere, keine ach so störende Moral aufkommen kann. Das Glatte als Lebenshilfe. Die Erzählung, die nur ganz kurz ansetzt, um gleich wieder, mit einem koketten Seitenblick, ins Schweigen zu versinken.

 

Was zeigt uns diese Schlaufe durch die jüngere Kunstgeschichte anderes, als dass die Fotografie für die Kunst wichtig geworden ist? Ist dadurch nicht schon wieder die Kunst als Massstab für die Fotografie eingesetzt? Sie zeigt wirklich zuerst einmal, wie wichtig in den vergangenen dreissig Jahren die Fotografie, das einzelne Foto, das fotografische Sehen und wesenhafte Züge des Fotografischen für die Kunst geworden sind. Vieles in der Kunst folgte tatsächlich einem fotografischen Dispositiv. Ich habe jedoch mit Absicht zuletzt das Wort Kunst nicht mehr gebraucht, weil die meisten der in der Kunst relevanten Fragen, Problemstellungen, Zweifel und Konfrontation solche auch des täglichen Seins geworden sind.

 

Und Gleiches gilt für die Fotografie. Fotografie übt ein, mehr noch sie hat unser Sehen und Erfahren so stark bestimmt, dass wir sie nicht mehr wegdenken können. Es fehlt dennoch ein Letztes und möglicherweise Entscheidendes zur Klärung des Booms: 1859 formulierte Oliver Wendell Holmes, die Fotografie sei der grösste Sieg über die Materie, die Welt werde künftig in zweierlei Gestalt existieren, in der Welt der Formen (der Fotografie) und in der Welt der materiellen Urbilder, die an Bedeutung verlieren:"Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt...Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will..." Damit schlug Holmes ein Thema an, dass die Welt seither und in jüngster Zeit mit grosser Vehemenz beschäftigt: das Immaterieller-Werden der Welt - von ihm euphorisch, von uns eher ängstlich ausgesprochen.

 

134 Jahre sind seit diesem Votum vergangen, in dieser Zeitspanne hat sich die Ein- und Wertschätzung der Fotografie (wiederum abhängig vom sich wandelnden Kontext) verändert, ja total verkehrt: Heute können wir sie als die Kunst der letzten Ansichten schätzen, heute gewährt sie, weil sie einer physikalischen Verbindung zum Gegenstand in der Welt entsprungen ist, eine Form von (zunehmend vermisster) Kontinuität. Heute ist das Medium Fotografie nicht mehr die radikal neue Form, bar fast jeglicher Materie, vielmehr das inzwischen vertraute Medium, mit dem wir glauben, der Welt noch ein letztesmal habhaft zu werden.

 

Das ist wohl ein wichtiger Grund für den Boom, den die Fotografie erlebt. Es ist  ein sentimentaler: Da die Welt, schau schnell hin, bevor sie vergeht, bevor sie sich in undurchschaubaren Formeln und Codierungen auflöst. Codierungen, die jeder Anschaulichkeit, jeder Be-greifbarkeit entbehren und uns nochmals ein Stück des Gefühls fürs Dasein wegnehmen. Konkreter: Während all dies verschiedenen Analysen uns lehren, dass die Erscheinung von Dingen, von Menschen, von Sachverhalten nicht mit ihrem Gehalt übereinstimmen, dass sie nur Hülle sind, die etwas ganz anderes verbergen, dass die Erscheinung nicht mehr die Wahrheit verkünden kann, weil die Wahrheit in den verborgenen Funktionen liegt - ein schönes Altstadthaus mit ganz neuer Raumaufteilung innen - behauptet die Fotografie ihrem Wesen gemäss, dass sich am Sichtbaren das Wahre, zumindest das wirklich Gewesene zeigt. 

 

Ist damit also die Fotografie bald selbst am Ende? Wacht hinter dem grellen Schein des Booms der Schatten der Ablösung? Ich denke nicht, denn der lineare Ablauf (früher sagte man Fortschritt) in die Zukunft ist auf so breiter Basis einer Parallelität der Ereignisse gewichen, dass man sich für die Zukunft wohl am besten eine Welt vorstellt, in der das analoge Fotobild neben dem digitalisierten Bild seine Bedeutung hat, manchmal einmontiert ins digitale Bild, so wie Rauschenberg Fotografien in die Malereien intergriert, sicher aber umgewertet und herausgefordert durch die Existenz dieser neuen Technologien und ihrem neuen Verständnis. Insgesamt vielleicht mit dem Gewinn, dass wir von nun an jede Fotografie, auch die realistisch sich gebährdende, als Fiktion verstehen lernen. Die Fotografie von heute an tot, wie Charles Hagen in der New York Times in Anlehnung an Paul Delaroches berühmten Ausruf - Von heute an ist die Malerei tot - fragte? Nein, sie ist voll im Saft, mehr noch, die Produktion und die Auseinandersetzung mit diesem Medium scheint erst so richtig in Gang zu kommen.

 

Aufgaben eines Fotomuseums:

 

Sie können sich nun  getrost folgende Frage stellen: Wenn offenbar die Fotografie heute endlich anerkannt wird, wenn man damit Kunst machen kann, wenn die Kunstmuseen wenigstens einmal jährlich eine Fotoausstellung anbieten und einige Kunsthallen sich darauf spezialisieren, Künstler, die mit Fotografie arbeiten, vorzustellen, weshalb braucht es dann ein Fotomuseum, ist das nicht eine unnötige Ghettoisierung der Fotografie, schliesslich eröffnet man auch eher selten ein Museum für Grafik, ein Museum für Malerei alleine. Wir sind mit diesen Fragen mitten im zweiten Punkt, der Frage nach den möglichen Aufgaben eines Fotomuseums. Ich will die Frage zuerst schnell und einfach beantorten und dann die Argumentation etwas auffächern. Erste Antwort: Das Interesse für die Fotografie von seiten der Kunst kann auch schnell wieder erlahmen. Es gab Ende der siebziger Jahre schon einmal einen ersten Boom, den die Wilde Malerei rapide unterbrochen hat, so dass man beispielsweise Polkes Fotoarbeiten erst mit fast zehnjähriger Verzögerung wirklich wahrgenommen hat. So könnte auch 1995 ein neuer Boom mit taktilen Skulpturen, Installationen zum Greifen die oft Halbkunst genannte Fotografie wieder zurückstossen. Zweitens interessiert sich die Kunst nur gerade für ein, zwei, drei bestimmte Arten von Fotografie und distanziert sich vehement von anderen Arten. Sie interessiert sich, und das ist nur selbstverständlich, für die Art von Fotografie, die in die Kunstdiskussion passt oder einen geeigneten Kontrapunkt bildet. Beispiel: Während die figurative Malerei ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kein grosses Interesse mehr zu wecken gewusst hat, so traten genau in dieser Zeit die Fotoperformance einer Cindy Sherman  und die strengen Dokumentationen der Becher-Schüler - Thomas Struth, Thomas Ruff, später Andreas Gursky - in den  Vordergrund.

 

Diese ersten beiden Gründe sind eher defensiver Natur. Die folgenden nun sollen affirmativer sein:

Fotografie ist drittens dasjenige Medium, das die Menschen in den vergangenen 150 Jahren in allenmöglichen Lebenslagen zu allenmöglichen vorstellbaren Zwecken eingesetzt haben. Die Fotografie hat die Art, wie wir die letzten 2-300 Jahre die Welt angeschaut haben physikalisch-chemisch verstärkt und naturwissenschaftsgläubig bestärkt und zugleich, als optischer Vollstrecker dieser Besitzergreifung, dank dieser Parallelität einen ungewöhnlichen Siegeszug angetreten. Wir alle hier haben eine Kamera zu Hause, die wir dann und wann hervornehmen, wir allen sehen die Welt heute mit Augen, die von Fotografien geprägt sind, wir alle haben alles gesehen: Alan Humerose hat hier in der Galerie eine Arbeit ausgestellt mit dem Titel: Ho visto tutto. Wir haben alles gesehen, auch wenn wir nicht dort gewesen sind, auch wenn wir Winterthur nie verlassen haben, weil wir Fotografien davon gesehen haben, vom tiefsten Punkt der Erde zum höchsten, von der luftigsten Ecke zur dichtesten. Die Fotografie hat unser Verhältnis zur Realität, unseren Zugang zur Wirklichkeit entscheidend geprägt und verändert. Wir erleben vieles zuerst in der vermittelten Realität und erst nachher oder nie in der unmittelbaren, ersten, greifbaren Realtät. Diesem Medium ein Museum zu widmen, einen Auseinandersetzungsort scheint mir eine besondere Berechtigung zu haben, scheint mir auch besonders interessant zu sein.

 

Wenn hier also Fotografien ausgestellt sind, dann geht es dabei, nebst all den ästhetischen Fragen, wie toll das Foto gemacht/gestaltet worden ist, wie hervorragend ein Abzug gelungen ist, um Sichtweisen auf die Welt, um die verschiedenen Perspektiven, unter denen die Welt gesehen wird. Das soll diskutiert werden, anhand der ausgestellten Fotografien. Wenn wir hier einen Lewis Baltz - wie gerade geschehen - ausstellen, der als Künstler das moderne Amerika, die moderne Welt insgesamt mit einem scharfen, distanzierten , fast unerbittliche Blick dokumentiert, dann zeigt sich darin seine Perspektive zur Welt, oder sein Kommentar zur Art und Weise, wie generell die Welt angeschaut und wie mit ihr umgegangen worden ist. Dabei spielt der Verweischarakter der Fotografie, man spricht von Indexikalität (Index der Zeigenfinger), nur die eine Hälfte der Hauptrolle, denn nicht nur was dokumentiert wurde, sondern auch wie und wie es in den Ausstellugnsräumen präsentiert wird, spielen eine bedeutsame Rolle. In diesem Fall, und ich spiele damit auf die vergangene Ausstellung an, ist es ein Fotograf, ein Künstler, ein Autor, der seine Sicht präsentiert. Das war eine Ausstellung, bei der ein Autor eine künstlerische Arbeit mit Fotografie realisiert hat. Es war eine Ausstellung, die bestens in den Kunstkontext passt.

 

Im kommenden Frühjahr nun, präsentieren wir Fotografie ganz anders. Wir arbeiten uns durch die Firmenarchive Ostschweizer Firmen, Textilfabriken, Maschinenfabriken, Bally, Georg Fischer, Sulzer, Oerlikon Bürhle, Nahrungsmittelfabriken wie Maggi und Knorr und versuchen, unter dem Titel "Industriebild" die fotografierte Industriegeschichte in der Ostschweiz von 1870 bis heute aufzuarbeiten und zu präsentieren. Das wird eine wunderbare, reichhaltige, vielfälltige Ausstellung werden, vor allem aber wird hier nicht mehr ein Künstler vorgestellt, sondern eine Epoche, eine Wirtschaftsregion, eine heroische Zeit wiedergegeben und zugleich ein besonderer Aspekt der Fotografie diskutiert. Die Fotografie als Repräsentation: wenn wir die Archive durchstöbern, dann treffen wir mehrheitlich auf bestätigende, bejahende, im besten Sinne repräsentierende Fotografie, denn all diese Fotografie ist ja im Auftrag der Firma gemacht worden, unter dem Auge des Zuständigen, unter dem Auge der firmeninternen Zensur. Dies nun wird eine Ausstellung sein, die den Kunstkontext verlässt, die das Kulturhistorische, das Soziologische, das Repräsentative der Fotografie in den Vordergrund rückt.

 

Die Chance eines Fotografiemuseums heute liegt darin, dass durch die Bestimmung über das Medium, eben die Fotografie, ein Ort entstehen kann, der die sonst üblichen Kategorien erweitert, sprengt, der mal wie eine Kunsthalle daherkommt und manchmal wie ein Kultur- oder Zivilisations- oder Gesellschafts- oder Informatik- oder Mediumort daher kommt. In all den Bereichen  und, wie gesagt, mit allen nur vorstellbaren Absichten ist die Fotografie eingesetzt worden und wir möchten sie hier über die Zeit, wohlverstanden,  möglichst in all diesen Aspekten diskutieren und vorstellen. Und dabei das Schwergewicht manchmal stärker auf die ästhetische Bewältigung, manchmal stärker auf die soziale Bedeutung legen. Wenn dieses Fotomuseum zum Kulturmuseum wird, das viele der gesellschaftlich-kulturell relevanten Fragen, Probleme, Siege und Krisen der letzten 150 Jahre und der kommenden 100 Jahre angeht und gespiegelt an der fotografischen Darstellung aufbereitet und präsentiert, dann wäre ich mehr als zufrieden, dann wäre eine Art neuer Typus Museum oder besser: zeitgenössicher Auseinandersetzungsort entstanden, der unsere Welt kritisch spiegelt, der aber auch der Breite, der schamlos vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Mediums Fotografie gerecht wird. Wir versuchen das mit den Ausstellungen, mit den Führungen, mit Vorträgen, Diskussionen, Publikationen zu erreichen. Da wir das Fotomuseum mit Absicht Museum und nicht etwa Zentrum genannt haben, wird deutlich, das hier auch eine museale Arbeit geleistet, eine Sammlung aufgebaut wird. Eine Sammlung, die hoffentlich diese Vielfältigkeit spiegeln wird.

 

Herr Widmer hat diese Ringveranstaltung mit dem Thema des Winterthurer Mäzenatentums eröffnet. Ich möchte damit meinen Vortrag schliessen. Und ich tue das mit einer Realgeschichte oder Realsatire der noch jungen Geschichte des Fotomuseums. Für die grosse Industrieausstellung im Frühling brauchen wir sehr viel Geld, weil erstens die Aufarbeitung viel aufwendiger ist und viel länger dauert und weil wir zweitens soviel tolles Material finden, dass es sich lohnt, dieses Fotomaterial in einem umfangreichen Buch zu verewigen. Selbstverständlich übersteigt das die finanziellen Möglichkeiten des Fotomuseums, also gelangen wir in allererster Linie an die Industrien, die wir auch darstellen, die wir in Fotografien präsentieren werden. Ueber hundert Gesuche sind schon gestellt und bescheidene 5750.-  sind das bisherige "Sammel"resultat. Die Antwort lautet meist: da wir in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit sind, ist es leider unmöglich, dieses so faszinierende Projekt zu unterstützen. Da wir Arbeiter entlassen müssen, ist es uns leider nicht mehr möglich, kulturelle Veranstaltungen, und seien sie noch so wichtig, zu unterstützen. Das klingt alles beim ersten Zuhören mehr als vernünftig. Aber rechnen wir einmal. Gehen wir davon aus, dass eine Firma dieses Projekt mit Fr. 10'000.- unterstützen würde, was selten vorkommt. Der Betrag hat wohl etwa die Höhe, die eine Arbeitskraft, ihre Versicherungen und ihr Arbeitsplatz pro Monat kostet. Wenn nun eine Firma tausend Arbeiter oder 30'000 wie Bührle entlässt, dann steht das in keinem wirklichen, keinen plausiblen Verhältnis mehr, sondern ist nurmehr angenehme Argumentationshilfe oder Zeichen für die Schere im Kopf, die gegenwärtig in der Schweiz zu spüren ist. Ich hoffe sehr, das klingt in Ihren Ohren nicht zynisch. Aber sollen wir denn alle den Geist abschalten,weil es wirtschaftlich ein bisschen rupiger zu- und hergeht? Dieses Museum wäre nicht zustande gekommen, hätte man derart argumentiert. Offenbar gibt es in Winterthur mit George und Andreas Reinhart ein Brüderpaar, das es auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten für wichtig erachtet, dass eine spannende, lustvolle, aber auch wichtige Auseinandersetzung mit der fotografischen Bilderwelt, mit der fotografischen Sicht auf die Welt, mit der Durchdringung der primären Erfahrungswelt durch die sekundäre Bilderwelt stattfindet. Ohne diesen selbstgegebenen kulturellen Auftrag vor allem von George Reinhart wäre dieser Ort, in dem sie sich befinden, wegen den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht entstanden. Das Fotomuseum soll deshalb aber nicht ein Privatmuseum werden, sondern mit der Stiftung Fotomuseum Winterthur und dem Verein Fotomuseum Winterthur einen öffentlichen Charakter haben. Nach 11 Monaten zählt der Verein bereits rund 900 Mitglieder.

 

Vielen Dank fürs Zuhören.