2000

Buchraum

Es gäbe nichts Überraschenderes, und doch in seiner Natürlichkeit und organischen Sequenz keine einfachere Form als die fotografische Serie, hielt László Moholy-Nagy fest. Dann präzisierte er: "The series is no longer a 'picture', and none of the canons of pictorial aesthetics can be applied to it. Here the seperate picture loses its identity as such and becomes a detail of assembly, an essential structural element of the whole which is the thing itself. In this concatenation of its separate but inseparable parts a photographic series inspired by a definite purpose can become at once the most potent weapon and the tenderest lyric."[1] Mit diesen Worten, mit dieser Konzentration auf den Gebrauch und die Anordnung der Fotografie schuf Moholy-Nagy in den zwanziger Jahren gleichsam unbeabsichtigt das theoretische Fundament für das Fotobuch, zumindest für zwei seiner Spielarten.

Spielart eins, die seit Ende der zwanziger Jahre und bis heute alle anderen möglichen Buchformen zu dominieren scheint, ist das seriell angelegte Fotobuch, mit jeweils nach bestimmten Kriterien zu einer Abfolge geordneten Fotografien – Fotografien, die oft zuerst als Paar auf einer Doppelseite und dann in der übergeordneten Serie Bedeutung erlangen. Wir kennen gute Beispiele dieses Prinzips in den heute so gesuchten Fotobüchern der dreissiger und vierziger Jahre, etwa von Walker Evans, Paul Strand, Bill Brandt, Brassaï, Renger-Patzsch, Jakob Tuggener und einigen anderen mehr. In den fünfziger Jahren finden wir dasselbe Prinzip auch bei Robert Frank in seinem Buch "Die Amerikaner" und bei William Klein in "New York", und wir erkennen es im wesentlichen noch in all den Arbeiten und Büchern, die seit den siebziger Jahren den Namen Foto-Essay tragen. Die Feinabstimmung hat sich über diese grosse Zeitspanne hinweg gewandelt, die Rhythmisierung ist immer wieder eine andere, doch das Grundprinzip, das Grundmuster blieb über Jahrzehnte gleich.

Die äussere Form, eine Abfolge von meist grossformatigen Fotografien – jeweils eine Fotografie pro Seite, manchmal links, selten rechts eine leere Seite, dann doppelseitig angelegt oder ein Paar pro Doppelseite – scheint vom Album des 19. Jahrhunderts übernommen zu sein, pflegt das Sammeln und Ins-Buch-Pressen weiter, entsprechend der Vorstellung, als könnten wir die Welt zusammensammeln und sie im handlichen Format zu Hause aufbewahren. Die Fotoalben des 19. Jahrhunderts spiegeln diesen sammelnden, erobernden, "kolonialen" Blick wider. Die Fotobücher seit den dreissiger Jahren entgehen diesem Kontext, dieser Gefahr nicht immer, aber sie haben das Sammeln und Aufbewahren weiterentwickelt, haben Bilder über formale und inhaltliche Ähnlichkeiten, über scharfe Kontraste, strenge Abfolgen oder sperrige, schräge Erweiterungen zu Erzählungen angeordnet und haben in einem ersten einfachen Sinne das Spiel- und Ordnungssystem einer Bildsprache eingeführt. Sie geben zu erkennen, dass hier nicht sakrosankt und objektiv die Welt gesammelt wird, sondern dass jemand sammelt, dass ein Autor/eine Autorin sammelt, nach einem Muster erzählt und seine/ihre Weise des Sehens der Welt geordnet wiedergibt..

Ich vermute jedoch, dass sich Moholy-Nagy nicht diese Form des Fotobuchs, sondern eine weitergehende, komplexere Form vorgestellt hat, dass er dabei seine eigene Praxis und jene seiner Mitstreiter am Bauhaus vor Augen hatte. Vergegenwärtigen wir uns sein Buch "Malerei, Film, Fotografie" in der Reihe der Bauhausbücher (Band 8 München 1927), oder die Bücher "Es kommt der neue Fotograf" von Werner Graeff (1929), "Das Foto-Auge" von Franz Roh und Jan Tschichold (1929) und die Publikationen von Rodtschenko und El Lissitzky, dann erkennen wir sofort die Differenz: In diesen Publikationen wird mit einigen Möglichkeiten der Bildanordnung und der Typographie gespielt, mit den unterschiedlichsten Grössenverhältnissen und Anordnungen auf der Seite, mit dem Weissraum, mit Ausschnitten etc. In dieser zweiten Spielart wird nicht das Einzelbild bewahrt, geehrt und gefeiert, im Gegenteil, manchmal wird das Motiv sogar ausgeschnitten; hier wird nicht nur das "Raunen" des einen Bildes mit dem Assoziationsspielraum des zweiten Bildes auf einer Doppelseite in Szene gesetzt, vielmehr wird tatsächlich eine Buchseiten-Sprache entwickelt, der das Prinzip der Morphologisierung der Sprache und des Bildes, die Vorstellung von Struktur nicht fremd ist, obwohl beide Begriffe erst viel später auftauchen und wirksam werden. (Dass etwa zur gleichen Zeit Ferdinand de Saussure in der Linguistik mit seiner Unterscheidung des signifié und signifiant die Basis für die Denk- und Untersuchungsmethoden des Strukturalismus legte, darf wohl als Parallele im Geist der Zeit verstanden werden. Jedenfalls musste die Ganzheit des Bildes erst aufgebrochen, aufgelöst werden, bevor das Einzelbild derart in den Dienst einer Gesamtsprache gestellt werden konnte.)

Ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Spielarten ist diese gänzlich andere Gewichtung des Einzelbildes. Während bei der ersten Form das einzelne Foto in seiner Ganzheit gewahrt bleibt und alleine sowie in Beziehung zu den anderen Fotografien Bedeutung erlangt, werden bei der zweiten Form das Foto, die Typographie und der Buchseitenraum als Ausgangsmaterial verstanden, mit dem ein neues, ein drittes Produkt erzeugt wird. Entscheidender Unterschied ist auch, dass die erste Form wie eine einfache Addition, manchmal in Zweiergruppen, zu lesen ist, während die Mechanismen der zweiten Form komplexer sind. Jahrzehntelang überwog die erste die zweite Form stark – vielleicht weil die Zeiten bald jeden diskursiven Charakter verloren, also härter und eindeutiger wurden? Vielleicht weil die aufgegliederte Form zur Zeitschriftenform wurde – und nicht immer so zum Besten aller wie damals beispielsweise im "du", der Schweizer Kulturzeitschrift mit ihren vielen Fotobeiträgen -, vielleicht auch, weil dieses Abfolgen am stärksten dem einfachen, linearen Erzählen einer Geschichte entspricht, und schliesslich eben auch, weil diese Form am deutlichsten das Sammeln widerspiegelt. Ausnahme in dieser Zeit ist etwa Alexey Brodovitchs Buch "Ballet" (o.J.), das ein filmisches Prinzip in die Abfolge einführt – Doppelseiten mit Fotos aus jeweils nur leicht verschobenen Standpunkten aufgenommen -, Ausnahmen sind auch Ed van der Elskens "Love on the Left Bank"(1956), "Sweet Life"(1966) oder Roy DeCavaras "The Sweet Flypaper of Life" (1955), die das Erzählen mit Bildern vielschichtiger oder spielerischer oder persönlicher anlegen.

In den sechziger und siebziger Jahren entstand schliesslich eine dritte Form: das Künstlerbuch – zuerst als eine Form des Notizbuches, dann als eigenständige, vielfältige Kunstform. Es lehnte sich zwar bisweilen an die zwanziger Jahren an, entwickelte sich aber zu einer neuen Art von Buchobjekt, einem Bild- und Sprachraum zwischen zwei Pappdeckeln, in dem die Bedeutung des Gesagten, das signifié (um die nun aktuellen Begriffe dieser Zeit zu verwenden), schon wichtig, die Form und die Trägermaterialien des Sagens – zusammen bilden sie das signifiant – aber genauso wichtig sind. Diese Bücher – oft sind es bloss kleine, aber eindrückliche Hefte – sind objekthafter, körperhafter, dinghafter, zuweilen auch pop-artiger. In den erstaunlich vielen Fällen, in denen Fotografien darin eine wesentliche Rolle spielen, sind sie grobgerastert und oft eher fade und billig gedruckt. Die Wertschätzung des Druckes – zum Beispiel des Kupfertiefdrucks und seiner Fähigkeit zum tiefsten Mattschwarz -, die Wertschätzung des guten, edlen Druckpapiers sowie der Kraft und Dichte der in sich geschlossenen Fotografie waren wie weggewischt. Das Künstlerbuch ist als Entwurf zu verstehen, als Skizze, als Notiz, als Etude. Doch der Entwurf wird als Produkt verstanden, die Skizze als Sinn in sich selbst, ebenso die Notiz und die Etude. Der Künstler ist dabei Autor, Gestalter und Herausgeber in einem. Die kleinen Hefte des Amerikaners Ed Ruscha, die "Twentysix Gasoline Stations" von 1963, "Every Building on the Sunset Strip" von 1966, der "Royal Road Test" von 1967 – insgesamt sind es 18 Heftchen – sind Bravourstücke dieser neuen fotoästhetisch entlasteten Buchform. John Baldessaris in der Form ständig varierende kleine Hefte und Bücher, besonders das ausgedehnt querformatige, mit Spiralen gebundene "Brutus Killed Caesar" von 1976 oder "Ingres and Other Parables" von 1972 sind Vorreiter dieses neuen, grundlegend anderen Verständnisses von einem "Fotobuch". Den Sammlern sei auch empfohlen: Die frühen Xerox-Hefte von Nobuyoshi Araki (1969-71), Michael Snows "Cover to Cover" (1975) mit den 180 Fotopaaren (von vorne und von hinten), Andy Warhols mixed media "Index" (1967), Gilbert & Georges "Dark Shadows" (1974), die verschiedensten Publikationen von Christian Boltanski oder schliesslich das wunderbare "Evidence" (1977) von Larry Sultan und Mike Mandel, das vielleicht erste so umfangreiche Buch, das ausschliesslich vorgefundene Fotografien verwendet, sie neu auswählt, beschneidet und in eine Abfolge setzt.[2] Als Zwitter präsentiert sich Kikuji Kawadas: The map – Die Landkarte (mit Text von Kenzaburo Oe, 1965). Ein Buch voller Ausfaltseiten, auf denen sich Fotografien schichten, überlagern – und gleichwohl sind sie in bestem Tiefdruck wiedergegeben.

"Halten wir nochmals die Bedingungen des Künstlerbuches in den sechziger Jahren fest: Sie liegen zum einen in der Entwicklung der damaligen Avantgardekunst. Zum anderen fördern gesellschaftliche Theorien der Zeit, die Kritik an der aufkommenden Überflutung mit Massenmedien sowie eine allgemeine Demokratisierungstendenz – auch in der Kunst – die Entstehung von Künstlernbüchern. Das Buch ist nämlich nicht nur als formale Struktur für die neuen Aussagen geeignet, sondern ist durch seine einfache Multiplizierbarkeit auch leicht jedermann zugänglich zu machen. In Bezug auf die eingeschliffenen Kunstmarktgesetze, nach denen Kunst die Hürden von Galerien und Museen erst einmal nehmen muss, um überhaupt gesellschaftlich relevant werden zu können, sind Künstlerbücher sogar subversiv. Sie unterlaufen die herkömmlichen Vertriebssysteme, wollen nicht mehr Unikate für die wenigen potenten Käufer des Establishments darstellen. Insofern nutzt die Kunst die Verkleidung des Buches, tarnt sich , um sich möglichst schnell in der Menge verteilen zu können, in der sie wirken will." (Eva Meyer-Hermann)[3]

Halten wir auch fest, wie sehr sich diese Form der Künstlerbücher in den sechziger und siebziger Jahren vom sogenannten Fotobuch unterschied. Die Fotografie hatte gerade eben ihre ursprüngliche Aufgabe des Berichtens über die Welt an das Fernsehen abgeben müssen, zumindest, was die Erstberichterstattung betrifft, und hat dadurch neue Formen in der Werbung, als unterhaltende Reportage, als kreative Fotografie in den ersten Fotogalerien finden müssen. Diese ersten zaghaften Schritte in Richtung eines Selbstverständnisses als Kunst haben sie in der Aufbereitung konservativ werden lassen: Passepartout, Rahmen, das Hängen eines Fotos neben dem anderen. Genauso sahen auch viele Bücher aus. Allan Porters Credo der siebziger Jahre, die berühmte Fotozeitschrift "Camera" als Museum in Zeitschriftenform zu verstehen, entsprach diesem Bedürfnis. (Der Erfolg von "Camera" in den siebziger Jahren belegt das auch quantitativ.) Diese Entwicklung hin zum wörtlichen und metaphorischen Rahmen des Fotos war mediumsgeschichtlich notwendig, führte aber zur beschriebenen Erscheinung, die der Auseinandersetzung mit der Zeit nicht sehr angemessen war.

Das Buch war immer ein bevorzugtes Medium für die Fotografie und wird es, wenn auch in veränderter Form, auch in Zukunft bleiben. Es hat dennoch überrascht, wie schwierig es war, geeignete Buchprojekte zu finden, als vor ein paar Jahren erstmals der hochdotierte Alfred-Renger-Patzsch-Preis für Fotobücher ausgeschrieben wurde. Die achtziger Jahre waren doch quantitativ eine fotopublikatorische Blütezeit gewesen. Tausende von Fotobüchern sind damals neu erschienen. Die Einsendungen hielten sich jedoch erstaunlicherweise qualitativ in Grenzen.[4] Von den beschriebenen drei Grundtypen kam praktisch nur die erste Form, die Aneinanderreihung als assoziative Bilderkette zum Zuge. Freiere Formen waren sehr selten. Grund dafür mag diesmal nun sein, dass der Fotografie gerade eben erest der (Kunst-)Werkcharakter zugesprochen wurde und deshalb das Einzelwerk unverändert in seiner Ganzheit wiederzugeben war. Ein zweiter wichtiger Grund stellt selbstverständlich der Kommerzialisierungsdruck von seiten der Verlage dar. Die Künstlerbücher waren noch nie ein Geschäft gewesen oder sind es erst mit der Historisierung und der damit verbundenen Wertschätzung als Sammlungsgut geworden. Opulente Bildabfolgen hingegen liessen sich – zumindest bei geeignetem Thema – verkaufen.

Lewis Baltz' Buch-Werke zeigen auf eindrückliche Weise den Übergang von der Sammlung von Bildfakten zum Sampeln der eigenen Vergangenheit. Seine berühmten Bücher "The New Industrial Parks Near Irvine, California" (1975), "Maryland" (1976), "Nevada" (1978), "Park City" (1978) und "San Quentin Point" (1986) setzen noch ganz auf die Abfolge von Einzelbildern – auch wenn die Unterkühlung des Blicks und der Abbildung dem Zeitgeist des "Zeigens, was der Fall ist" entsprach. In "Candlestick Point" (1989) wird diese Abfolge mit Hilfe von Ausfaltseiten erstmals aufgebrochen, in "Rule without Exception" (1990)[5] bricht er gänzlich mit dieser Tradition, bedient sich in dieser Retrospektive (in Buchform) der eigenen Bilder nicht wie Werke, sondern wie Archivfotos, die er neu zuschneidet, neu zusammensetzt. Er lässt gegen Ende des Buches den Text über die Bilder laufen, als wolle er die Kontextualisierung des Bildes betonen und den Fetischcharakter der fotografischen Abbildung "überschreiben". Die Broschüre "Ronde de nuit" (1993) und das goldene Büchlein "Giochi di Simulazione" (1993) bekräftigen diesen Wandel. Das Projekt "Die Toten von Newport Beach" (1995) schliesslich ist sowohl als Bild-Erzählung wie als Buch-Objekt gänzlich neu. Baltz erzählt eine öffentliche Geschichte der fünfziger Jahre (Ein Fall – ähnlich jenem von O.J. Simpson) und vernetzt sie mit einer privaten Erzählung, bebildert wird sie mit Archivfotos. Das Buch spielt viele der Möglichkeiten aus, Sprache zum Bild, Typographie zum Logo werden zu lassen und sie dann mit den Archivbildern zu konfrontieren. Dieses Projekt fand schliesslich konsequenterweise eine weitere Form – seine "live"-Form ist das Vortragen – auf einer CD-Rom (ebenfalls 1995).

Das Konzept der Aufreihung von Bildern scheint seit Ende der achtziger Jahre seine Kraft verloren zu haben, ausser es wird in so radikaler, dem Inhalt angepasster Form eingesetzt wie in Gilles Peress' "La Silence" über den Konflikt in Ruanda oder bei den Araki-Büchern. Das Buch birgt aber auch heute eine ganze Reihe von Möglichkeiten für die Fotografie. Einige formale und inhaltliche Funktionen und einige Beispiele seien angeführt:

Das Buch als gebundener Stapel: fast beiläufig bei Christopher Wools "Absent without leave" und beängstigend streng und machtvoll im eindrücklichen Buch "Ein-heit" von Michael Schmidt;

das Buch als Leporello: bei John Baldessaris „Tristram Shandy“;

das Buch als Bildtafel: bei Anselm Kiefer;

das Buch als besonders sich entfaltender Bildraum: bei Ulrich Görlichs Katalog für das Forum for Contemporary Arts, St. Louis;

das Buch als Performanceraum: bei Jürgen Klauke und Pipilotti Rist;

das Buch als Sammlung, als Archiv: bei Joachim Schmid, Hans Peter Feldmann, Christian Boltanski und Martin Kippenberger;

das Buch als Sampler von Real-Soziologie: bei Jim Goldberg und seinem „Raised by wolves“;

das Buch als Blickfeld und Situationsnetz: bei Sam Samore;

das Buch als Tagebuch, als Fluss, als Therapie: in Roland Schneiders „Zwischenzeit“;

das Buch als diskursive Bilderzählung: sinnstiftend bei Jean Mohrs und John Bergers "Another way of telling", dekonstruktiv versetzt bei der Bilderzählung "Recht auf Einsicht" von Marie-Françoise Plissart (Fotos) und Jacques Derrida (Text);

das Buch als Erinnerungsraum: bei Seiichi Furuya und wiederum bei Christian Boltanski;

das Buch als Ahnungsraum: bei Volker Heinze;

das Buch als Zeitschrift, als Einmal-Zeitschrift: bei „Helmut Newtons Illustrated“;

das Buch als fingiertes Banal-Presse-Ereignis: bei Henry Bonds Spiralbuch;

das Buch als Film, als filmische Sequenz: bei Beat Streuli;

das Buch als verlangsamter „ciné-roman“: bei Chris Markers „La Jetée“;

das Buch als Fotoroman: bei Jean-Paul Gaultiers Modestory;

das Buch als Bild-Märchen: bei Karl Lagerfeld;

das Buch als eine Form des gebundenen Portfolios bei John Gossages "LAMF" ;

das Fotokopiebuch, gebunden und in kleiner Auflage: bei Daniele Buetti;

das eigentliche Originalbuch, das es nur ein einziges Mal gibt: zum Beispiel bei Lorenz Gaiser;

das Buch als Fetischobjekt: bei Sophie Calles "La Fille du Docteur";

das Buch als die Form für Nobuyoshi Arakis Arbeit[6];

das Buch als „Adult-Comedy-Action-Drama“: bei Richard Prince;

das Buch als eigene Retrospektive, aber in der Sprache der Gegenwart: bei Oskar van Alpens „The snail on the meadow“;

das Buch als Fotogedicht: bei Gladys;

das Buch als Novelle, als Roman, als wissenschaftliche Schrift, als Bildschichtung – als fotografische Literatur, als "Physik des Sichtbaren"[7]. Und so fort.

All diese Bücher und Buchformen zusammengenommen ergeben die Summe gegenwärtigen Umgangs mit dem Bild im Buch: formal mit viel Weissraum, das Foto in die Ecke gesetzt, oder vollgefüllt, randabfallend, seitensprengend; kontrastierend von grossen zu kleinen Bildern, von Typographie zu Bild; auf dickem voluminösem oder auf durchscheinendem Papier; mit Überlagerungen, Ordnungen, Entwicklungen, die nicht mehr den bisherigen Mise-en-pages-Vorstellungen, sondern den Möglichkeiten der heutigen Software entsprechen. Inhaltlich vom Notizbuch über das diskursive Sozial-Dokument, die reflektierende Erzählung zum Schaufenster zeitgenössischer Eitelkeiten. Die beiden Buchdeckel schaffen eine Art Freihandelszone, wenn man gewillt ist, damit zu spielen, sich in das Labyrinth der Seiten, der Vor- und Rückseiten, der Doppelseiten und leeren Seiten, hineinzubegeben -, wenn man bereit ist, die Feier des Einzelbildes auf jene des Buchobjektes zu verlagern, und wenn man das nötige Geld dazu hat, kleine Auflagen (in hoher Qualität) zu drucken. Die grosse Veränderung setzt eben jetzt ein: Das elektronische Publizieren (auch der Print-on-demand) und der weltweite Vertrieb über Internet haben den grossen Vorteil, dass es mit einem Minimum an finanziellen Mitteln realisierbar ist, dass sich die Frage der Auflage – gross oder klein – erledigt, weil das Buch virtuell vorhanden ist und von demjenigen abgerufen werden kann, der hinschauen will. Eine elektronische Bibliothek, bei der man nicht auf die Ausgabe des Buches warten muss, bei der man vielmehr direkt hineinschauen kann.

Ob dieser Schritt zur Entmaterialisierung des Buches mit dem revolutionären Schritt Gutenbergs und der Erfindung des Buchdrucks gleichzusetzen ist (auch das war eine dramatische Verbilligung und Beschleunigung der Kommunikation) oder gar mit der Erfindung der Schrift, wird sich erweisen. Von dem Augenblick an jedenfalls, da man beim Notebook den flachen Bildschirm aus der Halterung ziehen und sich mit ihm aufs Sofa legen kann, werden bestimmte Arten von Büchern nur noch elektronisch publiziert werden. Die Bildqualität auf dem Bildschirm entspricht schon längst dem Zeitschriftendruck, und Kaffeeflecken hinterlassen keine distinktive, keine nachhaltige Wirkung mehr.



[1] Zit. nach László Moholy-Nagy, "From Pigment to Light", in: Photographers on Photography, Nathan Lyons (ed.), Princeton 1966, S. 80
[2] An dieser Stelle grossen Dank an Christoph Schifferli, dessen Sammung von Künstlerbüchern ich einsehen und mit dem ich angeregte Gespräche über dieses Thema führen durfte.
[3] Eva Meyer-Hermann: "Wölfe im Schafspelz", S.7, in: Künstlerbücher I, Krefelder Kunstmuseen, 1993
[4] Der Alfred-Renger-Patzsch-Preis wird vom Folkwang Museum in Essen ausgeschrieben. Die Schwierigkeiten waren zum Teil wohl Anfangsschwierigkeiten, heute dürften die Einsendungen vielfältiger sein. Als Jurymitglied hatte ich Einblick in die Situation.
[5] Die deutsche und erweiterte Ausgabe erschien 1993 als "Regel ohne Ausnahme"
[6] Über Arakis Bücher muss gesondert geschrieben werden. Seine bisherigen, inzwischen vielleicht auf die Zahl 100 angestiegenen Bücher sind, auch wenn sie oft das Prinzip des Kontrastes auf einer Doppelseite anwenden, derart wuchernd-vielfältig, dass es vermessen wäre, sie hier in einem Satz zusammenzufassen
[7] So der Titel eines Aufsatzes von Walter Seitter