2008  /  Urs Stahel: Darkside I, Steidl 2008

Darkside I - Presserede
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herren

Ich begrüsse Sie sehr herzlich zur Medienvorbesichichtigung von „Darkside – Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität“. Bei dieser Ausstellung, die für alle von uns einen grossen Aufwand bedeutet hat, möchte ich den Dank an den Anfang stellen: Ein grosser Dank geht an alle privaten und institutionellen Leihgeber, an alle Künstler und Künstlerinnen, an alle, die uns mit Rat und Hinweisen weitergeholfen haben, um diese komplexe Ausstellung realisieren zu können. Ein weiterer grosser und sehr herzlicher Dank geht an das gesamte Team des Fotomuseum (inklusive der Grafikerinnen, der Praktikanten und Praktikantinnen), das in der Vorbereitung der Ausstellung, im Handling der rund 110 verschiedenen Leihgebern, bei der Buchproduktion und im Aufbau der Ausstellung eine aussergewöhnliche Leistung vollbracht hat. Ich danke auch sehr herzlich der George Foundation für die Unterstützung dieser Ausstellung als Hauptsponsor. Es braucht einen offenen Geist, um für diese Ausstellung Geld zu sprechen. Eine ausführliche Dankesliste finden Sie auch am Schluss des Buches.

Das Fotomuseum hat den Körper bisher nie explizit zum Thema gemacht. Das Thema schwang bei Ausstellungen von Nan Goldin, Anders Petersen und von Boris Mikhailov mit, weil diese Fotografen das menschliche Zusammenleben in dichten, intensiven Bildern vorführten.  Ein wenig gestreift hat das Thema auch die Ausstellung „Chick Clicks“ über das Verhältnis von Mode und Kunst, fast jedoch kam mir selbst das Programm des Fotomuseum ein wenig puritanisch vor mit Themenausstellungen zur Industrie, zur Polizeifotografie, zum Rausch der Dinge, also zur Sachfotografie, mit Gedanken an eine Ausstellung zur Architekturfotografie in der Zukunft und dergleichen. Einzig die kleine Ausstellung in der Galerie zur Medizinfotografie in Japan hatte den Körper im Fokus.

Als wir anfingen, die Ausstellung zu planen, merkten wir bald, dass es zwei Seiten gibt, dass es eine schöne Seite der Medaille und eine Kehrseite davon gibt und dass in beiden Feldern eine Menge an spannender Fotografie zu finden ist. In ersten Recherchen um den Körper stiessen wir auf Lust und Ekstase, aber auch auf Verletzungen, auf Qual. Der Entscheid fiel früh und für uns in ungewöhnlicher Weise: Wenn wir das Thema Fotografien von Körpern ausführlich und seriös angehen wollen, dann müssen wir die Ausstellung zweiteilen, in einen ersten Teil, der Fotografie und Sexualität zum Thema hat und einen zweiten Teil, der Fotografie und körperlichen Schmerz zum Thema hat. Deshalb wird dieser Ausstellung Darkside eine zweite Ausstellung folgen, genau in einem Jahr. Unter dem Titel Darkside 2 wird dann nicht die fotografische Begierde, der fotografische Voyeurismus und die fotografierte Sexualität, sondern die fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod Thema sein. Körperlust hier und Körperschmerzen, Körperqual da. Eros und Thanatos in einer zeitliche gestreckten Form. Kleine reziproke Vermischungen jedoch eingeschlossen. In beiden dieser Felder spielt die Fotografie eine besondere Rolle.

Keine menschliche Tätigkeit wird so sehr wie die sexuelle Handlung von Gedanken und von Bildern begleitet. Vor, während und nach dem Akt umrahmen und stimulieren Wörter, Erinnerungen, Farben, Gerüche, Bilder die Handlung. Der Begleittross an Fantasien ist so reich ausgestattet, dass er von der ersten Erregung bis zum orgiastischen Höhepunkt die Handlung ersetzen kann und so selbst zum eigentlichen Akt wird. Fantasien und Tätigkeiten verbinden sich zu einer neuen, anderen Dimension, bis Original und Substitut fast miteinander verschmelzen. Die Ersatzhandlung feiert nicht selten einen ästhetischen Siegeszug über den „schnöden“ körperlichen, mechanischen Akt.

In der Kulturgeschichte der Menschheit sind Texte und Bilder voller Anspielungen auf die Sexualität. Die vielen Darstellungen des heiligen Sebastians, seine Wandlung vom heimlichen Christen zum christlichen Märtyrer durch die Pfeile, die auf Befehl von Kaiser Diokletian auf ihn geschossen wurden, gehören zu den fast schon unerhörten Beispielen versteckter Darstellung von Erregung, von der Transformation von Schmerz in Lust unter dem Deckmantel des Kanons religiöser Malerei. Das Dekameron von Boccaccio, die berühmte Sammlung von zehn mal zehn Novellen, ist eines von vielen berühmten Beispielen in der Literatur, in denen laszive, zuweilen derbe bis obszöne Töne aufklingen, wenn Erotisches und Sexuelles zur Sprache kommt. Die Geschichte spielt auf dem Land, vor den Toren von Florenz, während in der Stadt selbst eine schreckliche Pest wütet. Unzählig sind schliesslich all die kleinen fotografischen Bildchen, die eingerahmt oder lose in Brieftaschen, Handtäschchen und Hosentaschen gesteckt sind, auf denen ein Objekt der Liebe oder der Begierde abgebildet ist.  - Sprachliche und visuelle Repräsentationen begleiten und steuern oft unsere Sexualität, spiegeln sie, stimulieren sie und reflektieren sie.

In diesem leisen oder lauteren sprachlichen und visuellen Gemurmel um das ewige Geheimnis, das ewige Ziel der Körperlust spielt seit 170 Jahren das Medium der Fotografie eine zentrale Rolle. Sie drängt sich in allen gesellschaftlichen und privaten, öffentlichen und intimen, kommerziellen und „freien“ Bereichen unseres Lebens als prägendes Medium vor, sie dokumentiert und stimuliert unsere Schaulust. So ist sie selbstverständlich auch im Abgeschlossenen mit dabei, da, wo es eben „dunkel“ ist, wo wir uns von der Gesellschaft zurückziehen oder wo die Gesellschaft ein Tun ausgrenzt. Fotografie ist für die Erotik, Sexualität, Begierde und für das Ringen um Identität ein zentrales visuelles Instrument: Sie zeigt und stilisiert Lust und Leidenschaft, Fantasie und Begierde, Macht und Gewalt, sie fördert den Voyeurismus und die Selbstdarstellung in der Sexualität. Fantasieren und Begehren gehen mit der Fotografie einen Pakt ein: Sexuelle Fantasien drängen nach Darstellung, suchen aktiv die Enthüllung und Blossstellung – und die Fotografie nutzt mit ihrem, dem Medium eigenen voyeuristischen Mechanismus die Kraft der (Bild-)Erotik für ihre Zwecke, um verführerisch präsent zu sein. Fotografie ist als Medium eminent voyeuristisch, visuell begehrend und Sexualität sucht die Bilder seiner selbst, verschlingt die Repräsentation im nächsten Akt.

Es ist die Dämmerung und dann die Nacht, die der Stadt und der Fantasie Freiheit und Kraft verleiht, die Konturen der Architektur und die Prinzipien des Verstandes unscharf werden lässt, und dadurch Körper und Gedanken ins Fliessen, in ein Verschwimmen versetzt. Lange Zeit sind die Räume dunkel, in denen Männer und Frauen (Mensch und Mensch) aufeinander zugehen, sich umarmen, verschlingen und in Entzückungsschreien das Leben, das Sein neu erfahren. Dunkel sind auch die (weiblichen) Körper­zonen, in die Männer mit Erregung und zumindest bis zur Erfindung der Pille mit der Angst, verschlungen zu werden, vorstossen. Dunkel sind bisweilen die Gedanken, mit denen wir uns von Bestimmungen der Gesellschaft und der christlichen Religion abkehren und uns den Ekstasen von Körper und Geist hingeben.

„Darkside“ versteht sich als Metapher für das Verbinden, Verfliessen, Verschlingen von Körpern, von Seele und Geist, als Metapher für die Frau als Göttin, als begehrenswertes Wesen, als Projektionsfläche des Mannes, aber auch als Monster und Maschine, die die Ängste und Fantasien der künstlerischen Produktion von Männern bis in die 1960er Jahre hinein bestimmten. Erst Ende des 20.Jahrhunderts, erst in den vergangenen 20 Jahren fällt mit der Pornographie plötzlich ungewohnt helles, ja grelles Licht auf und in die dunklen, warmen Zonen der Körper, leuchtet sie operativ und flutlichtartig aus und macht sie zugänglich für Geld und Konsum. Der animalische, sexuelle Körper wird damit ebenfalls zu einem wesentlichen wirtschaftlichen Faktor. Allenfalls mit weitreichenden Folgen für die heutigen und nachfolgenden Generationen: der Körper ist nicht mehr heilig, er wird zu einem Werkzeug, das für verschiedene Zwecke (auch operativ) hergerichtet und eingesetzt werden kann. Die Integrität verliert sich im Geschäft.

Darkside stellt in den fünf eingefärbten Räumen diese Fotografien in verschiedenen Kapiteln vor. Die Farben sollen den White Cube, dieses eher verstandesmässige Weiss ablösen, und ein Eintauchen ermöglichen.

 Das erste Kapitel „Stadt, Nacht, Sexualität“ widmet sich der Stadt, der Nacht, der Kraft des Fliessenden in den dunklen Ecken der Existenzen und Begierden: „Die Stadt geht aus sich heraus und bietet all denjenigen, die sich nicht in eine traute Häuslichkeit zurückziehen wollen, an, sich auf verborgene oder verbotene Gelüste einzulassen, die Grenzen des sittlichen Verhaltens zu überschreiten“ schreibt Elisabeth Bronfen in ihrem Essay. Das Kapitel „Begierden und Fantasmen“ stellen die fiebrige Wollust ins Zentrum: das Aus-sich-Heraustreten, das Gehenlassen, Einlassen, die Hingebung und Verschmelzung, den sexuellen Akt.

Ebenfalls im blauen Raum stehen die Fotografien von griechisch-idealen, nacktnatürlichen und grotesken Körpern: von der Diva zum Narziss, von natürlichen Schönheiten zur aussergewöhnlichen Figur des Grotesken.

Ihnen schliessen sich (im violetten Raum) Bilder an, die Sexualität und Erotik als zentralen Teile der Existenz, als Motor, als Energiespender vorstellen. Sexualität als fundamentaler Teil unser Existenz.

Danach folgen Fotografien von verschiedenen sexuellen Praktiken, die vor allem das Kinsey Institute zur Forschung im Bereich Sexualität gesammelt hat. In der Aesthik anders erscheinende Bilder, aber dennoch von eigentümlicher Qualität.

Die Surrealisten, unter der Führung von Aragon und Breton feierten die „Konvulsivische Schönheit“, suchten die explosive Kraft der Vereinigung von Gegensätzen, in der Vorstellung von „hysterischen“, tanzenden und sich auflösenden Frauenkörpern (im roten Raum).

Hans Bellmers Zeichnungen und seine von den Surrealisten gefeierte Fotoserie „La Poupée“ mit Bildern von an Puppen vorgeführten gebundenen und geschundenen Frauenkörpern, 1934 in Minotaure erschienen, leiten über zu Fragen der Verdinglichung, der Veräusserung, der Objektwer­dung von Sexualität.

 Fetischismus als Fixierung auf einzelne Körperteile, auf unbelebte Gegenstände wird in den Fotografien gleichermassen als Ersatzhandlung wie als Stimulation des Sexuellen visualisiert.

Die Schaulust und das sogenannte „Blecken“, das Zeigen und Inszenieren von Geschlechtsteilen, von Sexualität, ist Thema in voyeuristischen und theatralen Fotografien von Sexualität (im kleinen roten Haus).

Die Genderdebatten der sechziger, siebziger, achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dem (sexuellen) Körper und seinen Bedingungen (der Wahrnehmung, der Existenz, der gesellschaftlichen Bedingtheiten) nicht denkbar. Hier wurde erstmals in aller Intensität und Deutlichkeit das alte Einweg-Verhältnis von männlichem Subjet und weiblichem Objekt in Frage gestellt, sowohl im Feminismus als auch in den Travestien und Protesten der Homosexualität.(im grünen und grauen Raum)

Schliesslich öffnet die erkämpfte Befreiung im Feminismus, in der Homosexualität den Körper und die Sexualität unfreiwillig für alle möglichen wirtschaftlichen Zwecke Sexualität wird ein zentraler ökonomischer Faktor in der Welt des Konsums - körperlich-materiell in Mode, Prostitution, Pornographie oder entmaterialisiert-virtuell im Internet (im grauen Raum, in der Galerie). Immer aber ist Sexualität untrennbar, mal spielerisch, mal äusserst schmerzhaft auch mit Macht verbunden.

Es geht in Darkside immer um die Bilder, die wir uns von „Sexualität“ machen, um das endlose Verschwim­men von Fantasie und Realität in den Fotografien der vergangenen einhundert Jahre. Dokumentierende, stimulierende und (künstlerisch) reflektierende Arbeiten bieten sich dem ausschweifenden und nachdenk­lichen Auge der Betrachter an. Oft durch Kapitel oder durch sichtbar unterschiedliche Haltungen voneinan­der abgeschirmt, bisweilen auch durch einen Fluss von Motiven und Gestaltungsweisen miteinander verbunden. Fotografie und Sexualität zeigt hier ein selten enges Verhangen-Sein, ein aufregendes Verhäng­nis von Realität und Repräsentation. Darkside als Ausstellung und Buch will das ebenso feiern, wertschätzen wie diskurs beleuchten.

Ich möchte Sie zum Schluss auf den Text von Ulf Erdmann Ziegler hinweisen. Er diskutiert die Frage, ob es Bilder gibt, die in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren noch ohne Probleme gezeigt und gedruckt werden konnten, die aber heute unter einen Bann gefallen sind. Es ist klar, dass wir bestimmte Bilder hier in der Ausstellung bewusst weggelassen haben, um nicht die Aufmerksamkeit auf die Ausstellung zu gefährden oder in eine falsche Richtung zu lenken. Wir alle wissen, dass auch hier gilt: La Realité surpasse la fiction – la fiction d’une exposition.

Ein Hinweis noch auf unser reiches Veranstaltungsprogramm mit Christina von Braun, Elisabeth Bronfen, Peter Weibel, Bodo Kirchhoff und einigen andern. Vielleicht können Sie darauf hinweisen.                                 

Vielen Dank.