März 2019  /  republik.ch

Das Grauen im grellen Licht

Nicht viel mehr als 17 Minuten hat es gedauert. Dann waren 49 Menschen tot. 41 wurden in der Al-Nur-Moschee von Christchurch hingerichtet, 7 im Islam-Zentrum Linwood, eine Person starb im Spital. Inzwischen ist eine weitere Person gestorben. Damit wird dieses Ereignis als bisher schrecklichste Terror-Attacke in die Geschichte Neuseelands eingehen, in einem Land, das bisher weitgehend von solchen Angriffen verschont geblieben ist. Die neuseeländische Regierung beschäftigt sich nun mit der Frage, ob die Waffengesetze endlich verschärft werden sollten.

Die Frage ist berechtigt, auch wenn Gesetze wohl kaum je eine still, aber von langer Hand geplante, ideologisch aufgeladene, verblendete Einzeltat verhindern können. Hingegen würde die durchschnittliche Tötungsrate, die weltweit 6.2 auf 100‘000 Einwohner bei einer Gesamtzahl von rund einer halben Million Ermordeter pro Jahr beträgt, durch verschärfte Waffengesetze mit Sicherheit schrittweise sinken. Genauso wie die Zahl der Verkehrstoten dank geeigneten Massnahmen seit 1950 weltweit kontinuierlich sinkt, trotz heftig anschwellenden Verkehrs.

Dem Thema «Terror und Waffen» kann man nach dieser Tat auch das Begriffspaar «Gewalt und Bilder» zur Seite stellen, denn der mutmassliche Täter Brenton Tarrant streamte seine Attacke live auf Facebook. Er nahm mit einer Helmkamera ein 17-minütiges Video auf, das die grausame Tat in beiden Moscheen bis zu seiner Flucht zeigt. Hinzu passt zudem das Paar «Macht und Bilder», denn Erdoğan zeigte keinerlei Scham, als er kurz nach der Tat wiederholt Auszüge aus diesem Video bei Kundgebungen auf Grossleinwänden vorführte, um visuell seine Behauptung bekräftigen zu können, der Westen leide an Islamophobie. »You will not turn Istanbul into Constantinople», soll Erdoğan, gemäss dem Guardian, gerufen und die Attacke als eine Art von Test der westlichen Rechtsextremen gegen den Islam bezeichnet haben.

In der 17-minütigen Liveübertragung war zu sehen, wie der Attentäter mit Waffen zu den Moscheen fährt, eindringt und Dutzende von Menschen erschiesst. Das Life-Streaming auf Facebook wurde von 200 Personen in Echtzeit verfolgt, und keine dieser Personen soll sich bei Facebook gemeldet und darüber beschwert haben. "Der erste Nutzer-Bericht über das Originalvideo kam 29 Minuten nach Beginn des Videos und 12 Minuten nach Ende der Liveübertragung", zitiert Der Spiegel das Schaltwerk Facebook. Auch die automatischen Erkennungssysteme des sozialen Netzwerks schlugen offenbar nicht an. 4000 Mal ist der originale Live-Stream angeschaut worden, bevor er, aber weiterhin nicht vollständig, aus dem Netz entfernt worden ist.

Bilder-Gewalt und Macht-Bilder sind ein altes Thema der Menschheit. Gewalt sucht offenbar Bilder, scheint Bilder zu brauchen, Gewalt scheint unsere Bildfantasien zu nähren. Und umgekehrt ziehen Bilder selbst Gewalt an. Die Bilderwelt des Abendlandes ist voller Gewaltdarstellungen, wilder vagabundierender und kriegerischer Gewalt ebenso wie ordnender, staatlicher Gewalt. In merkwürdiger Verkehrung schlossen die Gesellschaften in der Vergangenheit Bilder von lebensbejahender, lebensvermehrender Sexualität fast immer weg, belegten sie mit dem Bann der Dunkelheit, des Abseitigen, während Bilder dunkler, exzessiver Gewalt bis heute ins grelle Licht gerückt werden.

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Auf der eine Seite wirken die Bilder für viele, an denen das Grauen unbeteiligt vorbeigezogen ist, offenbar aufputschend und elektrisierend. Auf der anderen Seite werden sie wie Mahnmale, wie visuelle Gesetzestafeln gelesen, die durch das Benennen, das Darstellen trösten, läutern. Sie wollen aufklärerische, anklagende Manifeste, moralische und judikative Anklagen sein, dem abgebildeten Grauen in Zukunft endlich ein Ende setzen. Und diese Bilder des Grauens, Schreckens, Mordens und Brennens sind in der Regel auflagesteigernd. Schockierende Fotografien faszinieren, weil man durch sie aus der Sicherheit und Wohlgeordnetheit des zivilisierten, häuslichen Lebens in die Schattenseiten, ins Dunkle des Lebens schauen kann. Teilhaben, ohne wirklich teilzunehmen – ein Voyeurismus der Gewalt und der Gewaltdarstellung, der seit einer Weile aus den klassischen Printmedien in die sozialen Medien und vom stehenden zum bewegten Bild übergesprungen ist und, oft aus gekränktem Narzissmus, die Welt direkt am Gewaltakt teilhaben lässt.

Umgekehrt ziehen Bilder selbst Gewalt an. Bildern entspringt Kraft, Macht, und sie üben darüber selbst Gewalt aus. Sie repräsentieren nicht nur die Welt, sondern sie zeigen sich, sind präsent, greifen ins Geschehen ein. Leonardo da Vinci hat bereits festgehalten, dass das Gemälde zwar «in sich nicht lebendig», dennoch «Ausdruckgeberin lebender Dinge» sei. Gerhard Paul schreibt in seinem Buch «BilderMacht», nur wenn man anerkenne, dass Bilder Produzenten solcher «lebender Dinge» sein können und einen Eigensinn besitzen, wird es möglich, ihre wahre potentia, ihre Kraft zu begreifen und zu spüren. Der Bildwissenschaftler Horst Bredekamp betont mit dem Begriff des Bildaktes diese Kraft, diese Potenz ausdrücklich, die Realität sogar ersetzen, substituieren könne. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy wiederum beschreibt das Bild als monstrativ: «Jedes Bild ist eine Monstranz. Das Bild ist monströs, … monstrum steht für ein Wunderzeichen …, das vor einer göttlichen Bedrohung warnt. … Das Bild ist die wundersame Zeichen-Kraft einer unwahrscheinlichen, aus einer nicht konstruierbaren Unruhe hervorgegangenen Präsenz. Diese Zeichen-Kraft gehört der Einheit an, ohne die es kein Ding, keine Präsenz, kein Subjekt gäbe.» Diese Einheit des Dings, der Präsenz und des Subjekts selbst sei gewaltsam, weil sie alles andere ausschliessen muss, weil sie eine gewaltsame Vereinfachung vornimmt.

Die Macht des Auswählens und Ausschliessens beim Fotografieren, des Highlightens beim Printen und Veröffentlichen, paart sich mit der Gewalt des Eingreifens ins Geschehen. Der Akt des Fotografierens ist nicht nur ein reines Dokumentieren, er ist immer auch ein Eingriff ins Geschehen. Kinder lachen, Frauen weinen – weil sie fotografiert werden. Bestimmte kriegerische Akte geschehen nur, weil eine Kamera zugegen ist. Schliesslich ist die unglaubliche Macht, die publizierte Fotografie, auf unser Gedächtnis ausübt, beizufügen. Seit 200 Jahren dominiert im Wesentlichen das, was fotografiert und gefilmt wurde, unser individuelles und kollektives Gedächtnis.

Wir lesen «Vietnamkrieg» und sehen sofort das nackte Mädchen verzweifelt der Kamera entgegenrennen. «Abu Ghraib» – und sofort taucht der Kapuzenmann als Stellvertreter des Folterskandals vor dem inneren Auge auf. «9/11» und wir sehen die beiden hohen Türme mit dem einschiessenden und explodierenden Flugzeug. Die Kraft und Macht des Bildes besetzt unser Vorstellungsvermögen und vereinfacht damit das Geschehen. Die Gewalt der Bilder kann aber auch, je vernetzter wir sind, direkt töten. Beschämende, demütigende Bilder kursieren als eine Form «sozialer Hinrichtung» (Gerhard Paul) durchs weltweite Netz, mit bisweilen schrecklichen realen Folgen.

Hier in Christchurch nun erfährt das Thema Gewalt und Bild / Bild und Gewalt eine besondere Spitze. Wir sahen die Bilder nicht nach der Tat, after the fact, sondern live. Der Täter beabsichtigte wohl, die Zuschauenden entweder zu Mitläufern, zu Mittätern oder selbst zu Opfern zu machen, indem er sein schreckliches Morden mit einer Live-Kamera filmte und in Echtzeit weltweit teilte. In jedem Fall wollte er sich für 17 Minuten ins Zentrum der Welt stellen und sich tief in unser Gedächtnis brennen. Auf Kosten von 50 Menschenleben.