September 1993

Das grosse Spektakel

Ein Revolutionär ist Lewis Baltz nicht. Der Freigeist oder – etwas anrüchiger – der Libertin eignet sich für solch zielstrebige Taten herzlich wenig. Aber Baltz ist immer ein genauer Beobachter der Mentalitäten und Strukturen in der Gesellschaft gewesen, politisch denkend und manchmal unerbittlich scharf im Schauen und Darstellen, ohne je daran irre, ohne je dogmatisch zu werden. Dabei hat er alleine viel mehr zur Disposition gestellt, als manche (fotografischen) Zeiten insgesamt. Das Bild der Landschaft zum Beispiel, diese Erhebung der amerikanischen Seele, dieses heilige Ich und die Landschaft, ob heroisch oder kontemplativ gemeint, das seit der Romantik alle Geister des Abendlandes umtreibt, aber ausgeprägt in Nordamerika mangels mystifizierbarer Geschichte den Verlust von Natur begleitet. Lewis Baltz hat dieses Ideal Amerikas, das bisweilen als karg, immer aber als in-sich-ruhend-schön-und-erfüllt dargestellt worden ist, ganz einfach bevölkert. Aus dem Ich und die Natur wurde – unangenehm genug – ein wir und der Park und schliesslich gar ein Sie und das Gärtchen. Sie, die anderen, sie, die Gesellschaft, und wir, die Nachgeborenen, denn wenn es einst ein unberührtes Fleckchen Natur – ein Vorbild für die Ideallandschaft – gegeben hat, dann stehen da nun immer schon Einfamilienhäuschen, eins nach dem anderen, kaum aufgebaut, schon verkauft, oder es liegen ausgefahrene Gummireifen herum als Zeichen von: Da war doch schon wer. Alle hocken da, die Landschaft ist zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, vor allem aber besetzt. Kann ein Kommentar infamer sein, im Land der unendlichen Weite?

Landschaft als Territorium (manchmal auch Kampfgebiet), das Territorium als Architektur, als gestalteten Raum. Und diese Architektur – die «Tract Houses» in ihrer gleichgültigen Banalität, die «New Industrial Parks» in ihrer unterkühlten, minimalistischen Eleganz – ist im Gegensatz zu den Fassaden bei Walker Evans stumm und gesichtslos. Es sind Gebäudereihen und Technoparks, die schon als Ghosttowns beginnen. Den frontalen Aufnahmen dieses amerikanischen Kap-Minimalismus der frühen siebziger Jahre musste Lewis Baltz dann und wann eine Übereck-Aufnahme, ein Halbprofil beigesellen, damit wir weiterhin glauben, er habe Gebäude und nicht nur Grossleinwände aufgenommen, gebaute Körper und nicht nur immaterielle Bilder vor sich gehabt. Ungleich der Minimal Art, mit der ihr Erscheinen verwandt, sprechen diese schweigenden Körper nicht für sich selbst.

Damit nahm das Vergreifen seinen Anfang. Nach der amerikanischen Gnade entheiligte er das Eigenschöpferische, das Eigenheim und ihren Ort. Dem Pantheismus der Landschaft steht die Errungenschaft der Städte entgegen. «We have done our job», das heisst, der endlosen Weite des Landes die Skylines vorgestellt. Vom Sears-Tower in Chicago bis zu den Rampen in Cape Canaveral: Symbole der Machbarkeit, grafisch und fotografisch eindrückliche Kirchtürme einer hochstrebenden, aber profanen Zivilisation. Baltz entging ihrer fotografischen Verführung grundsätzlich. Seine Häuser und seine Städte erzählen von einem anderen Amerika, vom «Vorgarten» des amerikanischen Mittelstandes, der ausschliesslich aus Holz, der Baracke in Material und Struktur verwechslungsgleich, gebaut ist. «Maryland» und «Park City», Retortenhäuser und -städte, vor allem im zweiten Beispiel, sind der abendländischen Idealstadt mit Zentrum und sinnhaft hierarchisch angeordneter Struktur so entgegengesetzt wie der Stadt des 19. Jahrhunderts, die zwar auch schon den Verkehr dem Platz vorzog, aber wie bei Haussmanns Paris die Hauptachsen immer noch sternförmig auf ein Zentrum zulaufen liess.

Wie ein Landvermesser, so scheint es, schritt Lewis Baltz das Gelände von «Park City»-Zukunft ab. Von Park noch kaum etwas zu merken, vielmehr eine Baustelle, ein Geäder von Strassen, die ein Feld von latenten Bedeutungen abstecken, die sich als hoffnungslos willkürlich andeuten. Baltz schaut nach links und nach rechts, vom Prospector Park, Subdivision Phase III, Lot 127, looking West-Northwest zu den Park Meadows, Subdivision Phase III, Lot 65, looking East. Wie ein Landvermesser oder ein Immobilienhändler – eine Frage der romantischen oder monetären Anlage -, denn es ist wirklich alles Real Estate-Landschaft, wie anderswo gesagt worden ist. Natur erobert, kurzzeitig zur idealen Vorstellung stilisiert, dann zur idealen Anlage verkommen.

Baltz schreitet ab. Die Abfolge des Buches erleben wir wie ein Travelling durch die Genesis einer fremden, monströsen Welt. Ein Schwenk da, eine Nahsicht dort. Und allmählich verengt sich die Optik, konzentriert sich der Blick von Uebersichten zu Ansichten zu Einsichten, in die entstehenden Häuser hin zur halbfertigen Feuerstelle im späteren Salon. Man wünscht sich nicht, die Häuser fertiggestellt zu sehen, diejenigen, die man von ferne sieht, genügen vollauf. Es reicht die Sicht auf die Bausteine, die alle einmal Gemütlichkeit suggerieren wollen, die der White Americana den Rückzug ins Private ermöglichen sollen. Gemütlichkeit jedoch stellt sich in den Fotografien von Lewis Baltz nicht ein, beileibe nicht. Die trockene, kühle, weil grafisch leicht überzeichnende Erscheinung vermag das zu verhindern. Sogar das Licht ist «sanitized», ist gereinigt von Emotionen. Und der Autor selbst steht zur Seite, macht die Sicht frei und lässt den Betrachter vortreten, lässt ihn – er kann nicht anders – die Schau zu Ende führen. Da sagt einer, was der Fall ist, ohne mit der Wimper zu zucken. Da beschreibt einer im operationalisierten Licht fast emotionslos, wie Monströses entsteht, nein, wie monströs sich so etwas wie Normalität formiert.

Lewis Baltz stellt hier das, was man bis heute unter einer «guten» Fotografie versteht, zur Disposition, zugunsten einer nüchternen, unromantischen, klaren Bestandesaufnahme. Weiter stellt er das, was man unter einem engagierten Fotografen verstand und versteht, zur Diskussion. Denn er behelligt uns nicht mit seinen Emotionen, mit seinen Meinungen, er überlässt es fast hundertprozentig dem Betrachter, irgendwelche, auch moralische Schlüsse zu ziehen. Dieser Blick ist nicht mehr eigentlich von einer Utopie getragen, ausser jener, möglichst utopielos zu untersuchen, zu forschen, was nach dem letzten emphatischen Aufschwung in den fünfziger Jahren mit dem sichtbaren Teil der Zivilisation, mit den Städten geschehen ist. Eine Untersuchung zum Moloch Urbanismus als äusserer und innerer Realität. Und das ist nicht ganz einfach, wird doch von einem Fotografen trotz aller Krisen der Darstellung  immer noch das anteilnehmende, das seelenwärmend-humanistische Bild verlangt. Baltz weiss um diese Situation und verweigert sich, setzt den Bildpurismus und die Form-Inhalt-Deckung als kritisches Instrument ein, ersetzt die Illusion der fotokünstlerischen Fertigkeit durch die Illusion der mechanistischen Beschreibung und zwingt derart dem Betrachter seiner Fotografien, dem Subjekt der Betrachtung eine grundsätzlich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsentimental den Blick auf die heutige Welt zu richten.

Es gibt zwei Konventionen, die ein Schauender beherrschen muss, will er höflich bleiben: Im richtigen Augenblick wegzuschauen und nie zu nahe an die Dinge heranzugehen. Wer diese Faustregeln einhält, wird nie Gefahr laufen, als Voyeur bezeichnet zu werden. Es sind dies bürgerliche Regeln des Wohlanstandes, und Lewis Baltz weiss sie in einer Art und Weise zu verletzen, dass sich darin ein kritisches Potential aufbaut. Er hat sich nie dem Zentralen, dem Fertigen, dem Repräsentativen und Weihevollen zugewendet. Von allem Anfang an richtete er das Augenmerk auf das Unfertige, die Ränder: die Baustelle, die so viel von den Konstruktionen und Optionen verrät, die Grenzen der Städte, an denen die Zivilisation «ausschäumt» und gleichzeitig die Natur «angesaugt» wird, und später das Private, das sicher nicht im Rampenlicht stehen möchte. Er hat also wiederholt in die ungebührlich falsche Richtung geschaut und sich überdies zu weit vorgewagt, Dinge von zu grosser Nähe sich angeschaut. Die Arbeit «San Quentin Point» ist Beispiel dafür. Sie ist nicht lineare Fortschreibung von «Park City» an neuem Ort, vielmehr funktioniert sie fast wie eine Gegenarbeit, widmet sich der anderen Seite des zuvor Thematisierten. Bisher waren die Arbeiten in ihrer Form-und-Inhalt-Deckung sauber, manchmal klinisch sauber, und vermittelten so den Schein kühler Rationalität, selbst wenn es im Detail anders ausschaute. «San Quentin Point» nun widmet sich einem so anderen Zivilisationsort – dem Hinterhof -, dass vorerst die gleichbleibenden Mittel die Verbindung garantieren müssen. Wieder ist es ein filmischer Schwenk, der in die Arbeit hineinführt, ein Schwenk verbunden mit einem Nähertreten, einem Heranzoomen. Das Territorium, ein buchstäbliches Wasteland zwischen San Francisco und dem Gefängnis San Quentin, ein Niemandsland, in dem Ueberreste der zwanghaften Natur und der Abfall der Stadt sich vermischen. Dann taucht die Kamera ab, sticht wie ein Kamikaze in diese Landschaft ein, auffällig ins Detail, in die Nahsicht, lässt Horizont und damit Massstäblichkeit hinter sich und erzeugt Bilder, wo Ekel und Lust sich treffen. Wo jedes anständige Thema verloren ist, wo Schlamm, Bretter, Büsche, Drahtgeflecht für einmal metaphorische Züge annehmen. In die Grauzone tauchen wir ab, in das Reich der Uebergänge, des Ungeordneten, des Hässlichen, des Modrigen. Wir bewegen uns an der Grenze entlang, wo sich die Dinge auflösen und eine andere Natur annehmen. Unbewusste Landschaft, das Unterbewusste der Zivilisation. Hier wird sichtbar, dass Lewis Baltz «Landschaft» nicht nur sozial und monetär, sondern auch psychisch begreift und darstellend einsetzt. Geordnet und chaotisch, gebaut und dekonstruiert, sauber und sumpfig-taktil bieten sich als mögliche polare Paare der Betrachtung an. Mit Rückwirkung auch auf die anderen Arbeiten, wenn man beispielsweise in Park City nicht mehr entscheiden kann, ob gerade auf- oder bereits wieder abgebaut wird. 

Die Arbeit «San Quentin Point» wird dadurch zur Herausforderung ersten Ranges. Den Schweizern sagt man nach, sie schauten ihr Land mit den Augen von Touristen an. Die Amerikaner taten in der Fotografie ein Ähnliches mit den Augen erobernder Gesandter. Ein Niemandsland zum Zentrum der Arbeit und zum Symbol für das Ende aller zivilisatorischen Prozesse zu erheben, muss deshalb all jenen, welche die Naturpark-Idee des 19. Jahrhunderts zur ewigen Lebens- und Glaubensmaxime erhoben haben, ein Dorn im Auge sein: Keine ideale Landschaft, und keine ideale Distanz, keine gute, weil idealisierende Fotografie. Der buchstäbliche Sumpf als Bild für die Entropie und als Prospekt der amerikanischen und schliesslich jeder spätkapitalistischen Gesellschaft. Das ist ein starkes Stück. Es wirkt phantastisch, weil die Ordnung der Aussenwelt nicht mehr leitend ist, es ist obszön, weil es all das zeigt, was niemand sehen will, und so unverschämt direkt und nahe ins Gebüsch guckt, als schauten wir der Gesellschaft unter den Rock.

Die nachfolgende Arbeit «Candlestick Point» brachte keine inhaltliche, aber eine fotomethodische Veränderung mit sich. Das einzelne Bild ist hier buchstäblich so gleichwertig zum nächsten fotografiert worden, dass alle Bilder nur zusammen und alle zusammen nur als partiturartiger Block an der Wand funktionieren und erst da Bedeutung annehmen. Hier vollendet sich, was als Absage des Einzelbildes begonnen, in den Serien ihren Lauf genommen und nun – es ist offenbar ein Kreis, der sich schliesst -  sich wieder in einem einzigen Bild aufhebt, ein Bild, unter neuen Vorzeichen gelesen und zusammengefügt aus vielen, morphologisch gleichgewichtigen Teilbildern.

In den siebziger Jahren musste die Fotografie zur Nachprüfung. Es war die Zeit, als man nicht unbeschwert fotografieren, das heisst, irgendwelche Bilder mit irgendwelchen Methoden, die gerade zupass kamen, ablichten konnte. In dieser Zeit, in der ausgiebig über das Medium selbst reflektiert wurde, nahm die Arbeit von Lewis Baltz ihren Lauf. Er hat kaum eine der heiklen Fragen ausgelassen, hat unsentimental ausgemistet, hat das Einzelbild, die Position des Autors und des Betrachters, die Tiefe des Sentiments und die Persönlichkeit der Sicht in Frage gestellt – zugunsten einer Fotografie als Forschungsarbeit. Und er wird dies auch weiterhin so treiben, bis seine eigene Arbeit zur Disposition steht. Denn die Welt ist weder grundsätzlich träge, noch zeitweise stehengeblieben. Da sie sich laufend verändert, sind wir gezwungen, die Untersuchungsmittel aus dem zu untersuchenden Gegenstand, die Darstellungsmittel zuhanden des Darzustellenden zu entwickeln, wollen wir weiterhin adäquate Erkenntnisse machen. Zum Beispiel die Farbe: Wim Wenders konnte noch um 1980 festhalten, dass die Welt wohl farbig ist, aber nur das Schwarzweissfoto als natürlich, als realistisch gilt. Ende der achtziger Jahre hat sich das längst gekehrt, wirkt das Farbfoto banal, weil real und das Schwarzweissfoto wird definitiv als fotokunstvoll und dergestalt als museumswürdig wahrgenommen. Lewis Baltz beginnt in dieser Zeit erstmals auf die Farbe zu setzen, zuerst in geschlossenen Kunstlichtbereichen – in Hightech-Labors -, dann in offenen Mischlicht-Situationen, in Stadtszenen, die aus der Nacht geholt und grell ausgeleuchtet werden: Piazza Sigmund Freud, Piazza Pugliese, Corso di Lavoro. Ueberhaupt scheint Ende der achtziger Jahre für Lewis Baltz nichts mehr so zu sein, wie es einmal gewesen ist. Er verlässt die Serie und produziert Einzelbilder in einer Grösse und Attraktion, als wolle er uns etwas verkaufen. Er beschneidet zum Entsetzen seiner vielen Anhänger die eigenen Fotos, benimmt sich der eigenen Arbeit gegenüber wie ein fremder Archivar. Das Entsetzen lässt vermuten, dass seine Haltung und seine Bilder zum geschätzten Stil geworden und derart einen Teil ihre kritischen Kraft verloren haben. Dann produziert er Arbeiten, die so ausschauen, als seien sie von verschiedenen Fotografen gemacht, lässt die eigenen Bilder «explodieren», bis sich das eine Zeichen nur noch auf ein anderes bezieht und die Bilderwelt als Simulation sich zu erkennen gibt. All das zusammen scheint von einem Paradigmenwechsel zu künden, von einem grundsätzlichen Überdenken der eigenen Position. 

Am Beispiel: Die Night Cities, ein- oder mehrteilige, immer grossflächige Nachtstädte betören mit heftigen Hell-Dunkel-Mustern, mit grellen Farben, die aus dem Schwarz der Nacht hervorstechen. Sie sind ein Scheinwerferspektakel, das ebenso fasziniert und gefällt wie auch schmerzt durch die schrille verführerisch schöne Künstlichkeit. «Landschaft» nicht mehr als ein «vor uns», sondern als vollumfänglich kommerzialisiertes urbanes Labor, in dem wir mitten drin stecken und das für die Zukunft nur wenige Optionen offen lässt. Die Stadt als riesiges Geviert von Passagen, ein Raster von Strassen, von Highways, auf denen wir unterwegs sind und eine Reihe von Terminals, der Parkplatz, der Häuserblock und schliesslich der Bildschirm, vor dem wir haltmachen, ohne anzukommen, ohne zuhause zu sein, um gleich wieder, elektronisch nun, unterwegs zu sein. Diese Nachtlandschaften, die vorerst alle in Italien – «in Milano, but it doesn't matter» – gemacht sind, allmählich aber ergänzt und zu einer globalen «fictional city» erweitert werden sollen, wirken wie die Bühnen eines letzten grossen Spektakels, wie ein riesiges Karussell, dem wir aufsitzen, ohne noch zu wissen, was real und was virtuell ist. Sie verleiten gedanklich an die kalifornische Küste, wo Lewis Baltz herkommt, zur Real-Fiktion Los Angeles, diesem uferlosen Monstrum, das geometrisch durchlässig ist, dessen Leben aber nur als Wellen, die durch die Kanäle wogen, oder als Teilchen, die an den zahllosen Dock-in-Stations haltmachen, beschrieben werden kann. Ein endloses Unterwegssein. Und doch ist die Stadt leer und doch ist sie die am meisten überwachte Stadt der Welt: Drei Helikopter Squads sind 24 Stunden in der Luft, denn wenn sich Leben aus den Bewegungen ausformt, dann extrem gewalttätig. Wie beim Rodney-King-Fall, geschehen am «11777 Foothill Blvd» (eine Arbeit von 1992), der zu den schlimmen Rassenkrawallen führte. Daher stammt die Formierung von Lewis Baltz. Wasteland, vordem der Rand der Städte, an den Rändern der Zivilisation beobachtet, ist heute mittendrin, ist die Stadt selbst. 

Verführerische Wüsten, verführerische Maschinen, «Regeln ohne Ausnahmen»: Verführerisch das Bild, die Bilder, die Informationen, weil sie als einzige laufend aufgefrischt werden, die gute alte Materie hingegen, das was einst gebaut war, um darin leben und heimisch sein zu können, wirkt zunehmend verwüstet. Der Titel der Arbeit «There is no life outside the Verona walls» wirkt wie eine sentimentale Reminiszenz an die gute alte Zeit, aber auch die Oper ist Touristanattraktion, ist berechnetes Spektakel geworden.

Petrarca – zurück in Europa – stieg in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts auf den Mont Ventoux im Vaucluse bei Avignon, um von diesem erhöhten Standpunkt aus den Blick schweifen zu lassen und als erster, so will es die Geschichte, sich aus dem Land zu erheben und die Landschaft zu schauen, zu erschauen und ästhetisch zu geniessen. Diese Erhabenheit ist heute gewichen. «The landscape fights back», die Landschaft schlägt zurück, wäre ein zeitgemässer Öko-Thriller zu titeln. Auch wenn diese Umkehrung erst Teilrealität ist, dann sind wir doch nicht mehr die ungestört Schauenden. Wir selbst stehen auf der Bühne und werden angeschaut, werden überwacht, eingespiesen und zugewiesen. «Ronde de nuit», dieses 12 Meter lange und 2 Meter hohe falsche Cinerama-Stück im Videozeitalter stellt die Landschaftsfotografie längs. Es erlaubt keine gelassene Frontalansicht, kein Panorama mehr, sondern es inszeniert, hautpsächlich aus Ueberwachungsvideos einer Polizeistation zusammengestellt, mit Sondierbohrungen in unterschiedliche Schichten der Wirklichkeit eine Fahrt, die den sicheren Standpunkt des betrachtenden Subjekts mit in Bewegung setzt. Unentrinnbar sind wir dem Wechsel von sehr nah zu fern ausgesetzt. Eine visuelle Geisterbahn des elektronischen, des Ueberwachungszeitalters: das Zerfallen der Ueber- und Weitsicht wird durch telematische Einsichten als obszöne Zugriffe und Zugriffe als harte Ueberwachung ersetzt. Ueberwachung als das letzte grosse Spektakel, wenn nicht der notwendige Kick, um sich am Leben zu wähnen. «Ronde de nuit» ist ein trauriges Stück Musik, eine schrecklich schöne Pavanne der Zirkularität. Gefangen sein im eigenen Netz, das man ausgeworfen hat. Auch dem Betrachter wird die Ausflucht soweit als möglich verwehrt.

Die Änderungen der Vorzeichen sind ausgesprochen. Lewis Baltz hat aufgehört, in einem kühlen einszueins Form-und-Inhalt-Verismus zu zeigen, was der Fall ist. Er hat die Illusion des neutralen Standpunktes und der halbwegs neutral dokumentierenden Bilder aufgelöst. Er inszeniert, er verführt, er schreckt ab, vor allem aber spielt er mit, im (letzten) grossen Spektakel, das den Zuschauern vielleicht ihren eigenen Untergang vorführt. Lewis Baltz hat den Standpunkt des Aussenstehenden aufgegeben und die Rolle des Zeremonienmeisters, des Conferencier im Reich der Bilderproduktion angenommen. Er schlüpft auch in die Rolle des Croupiers, wenn er, wie in der Arbeit «Giocchi di Simulazione» willkürlich und spielerisch das eigene Bild erkundet, mehrfach kopiert und ausbeutet und dabei eine banale Situation in einen Krimi wendet. Er wird zum aufdringlichen, aber folgerichtigen Voyeur, als er für das dem noblen Restaurant St. James angegliederte Hotel Amat bei Bordeaux das immaterielle Werk und letzte Vergnügen der gegenseitigen Videoüberwachung als Kunst im Bau vorschlägt. Und er wird zum Zauberlehrling, wenn er zusammen mit Anneliese Varaldiev perfektionistische Elektronik-Porträts der Begierde generiert. 

Lewis Baltz als der soziale Plastiker im telematischen Zeitalter? Voyeur, Croupier, Magier oder Conferencier: Es sind alles leicht anrüchige Rollen, die er mit heiligem Ernst spielt, um der Zirkularität von Voyeurismus, Erforschung, Ueberwachung und Spektakel auf die Spur zu kommen und bildnerische Metaphern dafür inszenieren zu können. Mit viel Sinn für die erotische Verführung und die Politik der Macht, genügend ernsthaft, um dem Vorwurf des blanken Zynismus zu entgehen, genügend Libertin, um nicht vor Moral zu triefen: «Let's say this: the urbanism which is spoken of here and elsewhere is neither more or less than the reification of power. Cities function and appear as they do because their owners will it so. Cities function and appear as they do because their subjects resist the will of the owners. Such is the political economy of urbanism. The rest is spectacle. But, of course, some spectacles are more interesting than others.» (L.B.)

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