1995  /  NZZ

Das ist Fotografie!
Über das Wesen der Fotografie und einige Missverständnisse

Nur wenige vergleichbare Fälle finden sich in der Welt, bei denen ein so einfach und klar abzusteckendes Feld - hier die Welt, da der Apparat, dort das Bild der Welt - so viele Missverständnisse erzeugt hat wie bei der Fotografie. So viele unterschiedliche Verständnisse der Sache, die, scheinbar endlos und mit grosser Emphase vorgetragen, gegeneinander auflaufen. Ansatzlos wird Luft geholt und lauthals verkündet: Das ist Fotografie! Mit der Betonung auf dem ersten, dem zweiten und dem dritten Wort, als gälte es, drei Nägel mit Köpfen einzuschlagen.

Je lauter die Behauptung ausfällt, desto näher steht wohl jemand, der bereit ist, die gleichen drei Wörter ebenso heftig in eine andere Bedeutungsrichtung zu verkünden. Dabei kann dieser Ausruf ziemlich vieles meinen, zum Beispiel versteckte Aussagen wie: Das ist Fotografie, weil alles scharf abgebildet ist. Das ist Fotografie, weil die Vergrösserung perfekt und in den vorgesehenen Marken-Farben daherkommt. Das ist Fotografie, weil darauf klar erkennbare Szenen aus dem Leben abgebildet sind. Und in dem Ausruf mitversteckt ist jeweils die Ausgrenzung des Gegenteils, des Unscharfen, Falschfarbenen, des "Nackten" oder "Angezogenen", jedenfalls all dessen, was eben keine Fotografie sein darf.

Während das Absolute dieser Bestimmung spüren lässt, dass damit gleichzeitig eine Seins- und Solldefinition von Fotografie vollzogen wird - das ist Fotografie und so soll sie auch sein -, lässt das Resolute ahnen, dass einiges auf dem Spiel steht - was vielleicht nicht immer direkt mit Fotografie zu tun hat.

Die Frage ist gestellt: Was ist Fotografie? Die Antwort darauf ist, zumindest in einem pragmatisch-materialistischen Sinne, einfach zu geben: Die Fotografie ist ein Apparat, ein Lichtaufzeichnungs­apparat, der es zusammen mit dem lichtempfindlichen Material erlaubt, die perspek­tivische Wahrnehmung der Welt, wie sie seit der Renaissance konstruiert wird, zu fixieren. Optik und Chemie gehen hier Hand in Hand, um ein Wahrnehmungsmittel mit grosser Wirkung zu erzeugen.

Die Antwort ist derart einfach, dass eigentlich keine Missverständ­nisse entstehen dürften. Sie tauchen dennoch auf, einerseits weil dieser einfache Apparat bedeutsame Auswirkungen hat, andererseits weil jede seiner Anwendungen verabsolutiert und als einzig richtige eingestuft wird. Wir bleiben jedoch vorläufig beim Allgemeinen. Dieses Lichtaufzeichnungs­system macht Bilder mit bestimmten Eigenschaften:

Die fotografischen Resultate sind (räumlich gesprochen) ein kleiner Ausschnitt aus der Welt, eine Abstraktion in die Fläche und ins Rechteck, konstruiert nach den Regeln der einäugigen Zentralperspektive, die im Nahbereich aufgenommen nicht unserer natürlichen Wahrnehmung entspricht, nach einer gewissen Distanz aber verblüffend ähnlich wirkt.

Sie sind (zeitlich gesprochen) die fixierte Licht- und Schattenspur von etwas real Dagewesenem, ob das Foto in der Welt draussen oder im Studio realisiert worden ist, spielt keine grundsätzliche Rolle. Beim Klick des Auslösers springt die Uhr auf Vorgegenwart, beim Öffnen eines Fotoalbums raunt uns tiefe öffentliche oder private Vergangenheit entgegen. Die Zukunft ist in diesem Medium ausgeschlossen.

Sie sind (semiotisch gesprochen) Bilder mit einer sehr schwachen Codierung. Im Gegensatz zur Sprache, welche die Buchstaben durch Regeln zu komplexen, aber verhältnismässig exakt bedeutenden Gebilden vernetzt, ist die Fotografie eine Art Subtraktion von der Welt, die selbst wiederum ein nur wenig codiertes Gebilde ist. Ein Foto kommt deshalb selten allein. Nicht nur die Reportage-, auch die Amateur- und Familienfotografen haben den Wunsch nach Serien, nach einer Erzählung in verschiedenen Bildern, weil die Einzelfotografie einem verstockten, stummen Kind gleicht. (Einzig der Werbefotografie reicht in der Regel ein Foto, weil sie mit inszenierenden Mitteln starke Symbole zu konstruieren

versucht.)

Die Fotografien funktionieren (wahrnehmungstheoretisch gesprochen) als Stärkung des Augensinns. Mit der Fotografie verstärken wir die Entwicklung des Abendlandes, ein Stück weit aus der Welt zurückzutreten. Wir orientieren uns weniger an der greifbaren, riechbaren, hörbaren Welt als vielmehr an den optischen Signalen, visuellen Informationen - manchmal ohne grosse Unterscheidung, ob unser Blick Kontakt mit der direkten Wirklichkeit oder mit den in Bildern vermittelten Welten

aufnimmt.

Schliesslich begünstigen die Fotografien (weltanschaulich gesprochen) eine positivistische Haltung zur Welt. Sie sind die visuelle Bekräftigung der Wende zum Diesseitigen und Vordergründigen: Es wird die Oberfläche der Welt optisch abgetastet, fotografisch untersucht, manchmal verbunden mit dem Glauben, über die Zeichen an der Oberfläche etwas über das Dahinterliegende aussagen zu können. Fotografische Indizienforschung kann man das Verhalten vielleicht nennen, in Anlehnung an die Indizienforschung, die parallel zur Fotografie im 19. Jahrhundert entwickelt worden ist: Das Sammeln und dann Addieren und Kombinieren von äusseren Merkmalen, um in der Summe der Einzelteile einer Wahrheit - des Gemäldes, des Verbrechers, der Psyche, der Welt - auf die Spur zu kommen.

Die Fotografie bezieht ihre Kraft aus einer paradoxen Verschränkung. Auf der einen Seite ist ihr Realismus so stark, dass sie als räumliche und zeitliche Tatsache erscheint und wir glauben können, über sie die Welt zu be-greifen, über sie die Wahrheit zu erfahren. So als stünden wir auf einem leicht erhöhten Standpunkt, von dem aus wir sehend teilnehmen an der Welt, aber ohne direkte Folgen, ohne wirklich darin stecken zu müssen - berührungslos und abtastend in einem. Wir dürfen hier von einer Kolonisierung der Welt durch den fotografischen Blick sprechen, weil wir die Welt zu kennen, zu besitzen glauben, ohne je dagewesen zu sein.

Auf der anderen Seite hingegen ist die Fotografie, weil sie schwach codiert, weil sie aus dem räumlichen und zeitlichen Verlauf der Welt ausgeschnitten ist - diskontinuierlich, wie man sagt - offen für alle möglichen Projektionen der Betrachter. Sie ist eine Art schweigende Erzählung, die ansetzt und gleich verstummt und alles folgende offen lässt.

Diese Verschränkung von Begreifen und Staunen, als sei sie abbildende Information und offenes Bildfeld, sprechendes Zeugnis und Adventskalender zugleich, addiert sich zu einer ungewöhnlichen Kraft, verleiht der Fotografie in einem modernen Sinne magische Qualitäten. Und diese attraktive Mischung ist auch die Ursache für das Missverstehen von Fotografien. Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass zehn Leute ein und dasselbe Foto zehnmal verschieden verstehen - wenn es als Einzelbild zu sehen ist, wenn es keine Legende hat, wenn es nicht Teil einer Reportage oder einer fotokünstlerischen Arbeit ist, die nach bestimmten nachvollziehbaren Regeln zusammengestellt wurden.

1859 verkündete der Bostoner Schriftsteller und Arzt Oliver Wendell Holmes in der Zeitschrift "Atlantic monthly", die Fotografie sei der grösste Sieg über die Materie, die Welt werde künftig in zweierlei Gestalten existieren, in der Welt der Formen (der Fotografie) und in der Welt der materiellen Urbilder, die an Bedeutung verlören: "Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt... Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will..." Obwohl hier Holmes Phantasie Sprünge macht, schlug er damit ein Thema an, dass die Welt seither und zunehmend vehementer beschäftigt: das

Immaterieller-Werden der Welt. Die Verdoppelung, ja Vervielfachung der Welt durch fotografische Bilder lässt an die mehrfache Übernutzung des realexistierenden Geldwertes in der Welt denken. Ein Vorgehen, das die Welt dynamisiert, aber auch ihre Fragilität erhöht. 136 Jahre sind seit dem euphorisch formulierten Votum vergangen. In dieser Zeitspanne hat sich der Stellenwert der Fotografie radikal erhöht und radikal verkehrt. Auf der einen Seite ist die Wertschätzung derart gestiegen, dass wir von einem Boom des Fotografischen reden müssen, auf der anderen Seite hat sich der Stellenwert verändert, nicht weil die Fotografie selbst sich verändert, sondern weil die Welt sich so rasant entwickelt hat. Stand die Fotografie im 19. Jahrhundert im Zentrum der Entwicklung, war sie als Instrument mit all seinen Bedeutungen avantgardistisch, so wirkt sie heute im neuen elektronischen Umfeld eher konservativ. Wir können sie heute als "Kunst der letzten Ansichten" schätzen; sie gewährt uns, weil sie einer physikalischen Verbindung zum Gegenstand in der Welt entspringt, eine Form von zunehmend vermisster Kontinuität. Heute ist das Medium Fotografie nicht mehr die radikal neue Form, bar fast jeglicher Materie, vielmehr ist sie inzwischen das vertraute Medium, mit dem wir glauben, der Welt noch ein letztes Mal habhaft zu werden. Dieser Teil ihres Wesens ist in der veränderten Welt der vielleicht entscheidendeste Grund für den Boom, den die Fotografie erlebt. Es ist ein fast sentimentaler: Da, die Welt, schau hin, bevor sie vergeht, bevor sie sich definitiv in undurchschaubaren Formeln und Codierungen auflöst! Codierungen, die jeder Anschaulichkeit, jeder Be-Greifbarkeit entbehren.

Hier ist nicht vom künstlerischen, sondern vom alltäglichen Gebrauch der Fotografie die Rede. Und wenn wir uns diese Entwicklung vor Augen halten, dann wird plötzlich verständlich, weshalb es dieses versteifende Votum "Das ist Fotografie" bis heute gibt: Der eine Teil davon ist ein Statusproblem. Da die Fotografie lange Zeit vergeblich um Anerkennung als Kunst gebuhlt hat, wehren sich nun einige ihrer Vertreter stur, fast dogmatisch gegen jede Vereinnahmung dieses Mediums durch künstlerische Projekte. Der vielleicht wichtigere Teil ist aber ein anderer. Wenn die Fotografien plötzlich verschwommen sind, wenn sie die Wirklichkeit nicht scharf und verlässlich abbilden, wenn sie gar digitalisiert und dann bearbeitet sind, verlieren sie den so geschätzten Bewahrungscharakter, die Gefühlsgarantie und damit ihre Überzeugungskraft, dass die Welt noch begreifbar ist, dass die Welt noch existiert. Ein Pflock weniger im