2013  /  Photonews

Das Museum ist kein Olymp, sondern eine Denkmaschine über Fotografie

Das Fotomuseum Winterthur wurde 1993 von Walter Keller, damals Verleger des Fotobuchverlags Scalo, dem Mäzen George Reinhart und von Urs Stahel gegründet, der das Museum schnell international be- und anerkannt machte. Seit 2003 ist Thomas Seelig als Sammlungskurator und stellvertretender Direktor Teil des Kernteams mit zwölf Mitarbeitern. Das Museum zeigt sechs bis sieben Ausstellungen pro Jahr, veranstaltet unter anderem Symposien, ein jährliches Portfolio-Viewing für junge Fotoschaffende und gibt Publikationen heraus. Die Sammlung des Museums umfasst derzeit rund 4000 Werke von etwa 400 Fotografinnen und Fotografen. Mit der Website und einem Foto-Blog bietet das Fotomuseum Winterthur zudem eine wichtige, international zugängliche Informations- und Kommunikationsplattform an. 

Zum 20. Jubiläum des Fotomuseums Winterthur tritt der Gründungsdirektor zurück. Was waren seine Schwerpunkte? Was hat sich in dieser Zeit in der Fotografie getan? Welches sind die Herausforderungen heute?

Von Nadine Olonetzky

Nadine Olonetzky: Urs Stahel, das Fotomuseum Winterthur öffnete seine Tore 1993 mit einer Ausstellung des Engländers Paul Graham. Die einen begrüssten diesen Start damals enthusiastisch, andere bedauerten, dass keine klassische Dokumentarfotografie gezeigt wurde. Was wollten Sie mit dieser Ausstellung ankündigen?

Urs Stahel: Paul Graham gehört heute zu den Weltstars in der Fotografie. In den Achtzigerjahren war er ein junger, noch unbekannter Fotograf, der wie Martin Parr wegen seiner sozialdokumentarischen Farbfotografie in England angefeindet wurde. Beide wurden so kritisiert wie der Amerikaner William Eggleston in den Siebzigerjahren, als dieser im Museum of Modern Art in New York seine inzwischen legendäre Ausstellung mit Farbfotografien zeigte; Farbe konnte es eigentlich nur für die Werbung geben. In der Schweiz war die Situation nicht anders. Es gab – und gibt – eine grosse Gruppe von Leuten, welche die Fotografie nur dann lieben, wenn sie schwarzweiss ist, nah an der Sache bleibt und Dinge aus den hintersten Winkeln der Erde unter grossem physischen Aufwand dokumentiert und zu uns bringt. Als das Fotomuseum Winterthur eröffnet wurde, gab es noch kein grosses Gegenlager, sicher nicht in fotografienahen Kreisen . Nur wenige Menschen sahen, dass Fotografie auch Teil der Kunst werden kann und dass sich das Verständnis der Fotografie in einer zunehmend mediatisierten Welt ändern musste. Paul Graham arbeitet dokumentarisch, aber mit einem anderen Bildverständnis – und auch mit einem anderen Selbstverständnis als Fotograf und Künstler. Es war mir also programmatisch wichtig, mit Paul Grahams Ausstellung «New Europe» ein zeitgenössisches Museum für Fotografie zu lancieren.


Mit der Ausstellung von Gilles Peress, «Abschied von Bosnien» (1994), stellten Sie ja dann auch humanistisch engagierte Schwarzweissfotografie aus.

Bereits parallel zu Paul Graham zeigte ich die dokumentarische Ausstellung «Illegale Kamera» mit Aufnahmen, die verbotenerweise während der deutschen Besatzung 1940 bis 1945 in Holland gemacht wurden. Sie hielten den Alltag auf den Strassen, den Hunger, den Widerstand fest, und zwar aus der Manteltasche oder dem Kinderwagen heraus fotografiert. 

Ich habe ein intensives, aber ambivalentes Verhältnis zur reportierenden-dokumentarischen Fotografie aus den Siebziger- und Achtzigerjahren. Gemacht zu einem bestimmten Zeitpunkt, für ein bestimmtes Medium, etwa eine Zeitschrift, wirken diese Bilder oft sehr hilflos, wenn man sie in die weissen Räume des Museums holt. Die Frage lautet also: Wie kann man diese Fotografien zeigen, wenn sie aus ihrem Auftragskontext herausgerissen werden? Gilles Peress' Arbeit «Abschied von Bosnien» war ein Langzeitprojekt, entstanden während mehrerer Monate, ohne Auftrag, ohne ein schnelllebiges Publikationsziel. Seine  rund 100 Bilder, jedes ziemlich stark vergrössert, haben den ganzen Raum der Galerie verwandelt  Die Wirkung war derart stark, dass an der Pressekonferenz eine Journalistin ausrief, dass so etwas nicht in einem Museum gezeigt werden dürfe. Ich erschrak, es gab eine lange Diskussion. Im Rückblick zeigt mir diese Reaktion jedoch, dass eine solche Ausstellung funktioniert und wichtig ist. Ich wollte immer, dass sich das Museum nicht als Olymp versteht, sondern als Anschauungs- und Diskussionsraum, als Ort, wo man möglichst direkt und intensiv Erfahrungen mit Bildern machen und sich mit dem Gesehenen beschäftigen kann. 


Die Schweizerische Stiftung für die Photographie wurde 1971 gegründet. 1985 kam das Musée de l'Elysée in Lausanne hinzu und knapp zehn Jahre später dann das Fotomuseum Winterthur. Wie war damals die Situation für die Fotografie in der Schweiz?

Die Achtzigerjahre waren für die Fotografie in der Schweiz ein etwas vergiftetes Jahrzehnt, geprägt von permanenten Reibungen zwischen der damals noch Schweizerische Stiftung für die Photographie genannten Fotostiftung Schweiz und dem Musée de l'Elysée. In den Siebzigerjahren hatte es Rosellina Burri-Bischof, die mit Walter Binder die Fotostiftung leitete, zwar geschafft, mit Fotoausstellungen im Kunsthaus Zürich eine gewisse Öffnung zustande zu bringen. Doch nach 1981 war die Fotografie in der deutschen Schweiz kaum mehr sichtbar; es gab keinen Ort, keinen Treffpunkt mit regelmässigem Programm für ein interessiertes Publikum. Wir alle sind von 1985 an nach Lausanne gefahren, um dort die Ausstellungen mit vornehmlich Reportagefotografie zu sehen. 


Und wie stellte sich die Situation international dar? 

Wenn man den Streit betrachtet, den die Bilder von Paul Graham und Martin Parr in England auslösten, dann war man etwa in Grossbritannien definitiv nicht weiter als in der Schweiz. 1991 reiste ich längere Zeit zur Vorbereitung des Fotomuseum Winterthur durch Amerika, um Institutionen zu besuchen, die sich mit Fotografie beschäftigen. Dort ist mir zweierlei aufgefallen: Besuchte man klassische Präsentationsorte für Fotografie wie das George Eastman House in Rochester, dann bekam man Ausstellungen zu sehen mit olivegrünen Wänden, davorgehängten Wandblenden,  dick passepartourierten Fotografien in Goldrahmen, die mit kleinen Spots einzeln beleuchtet waren. Man fragte sich tatsächlich: Bin ich in der Gegenwart oder in einem Salon des 19. Jahrhunderts? Ich wusste, so wollte ich das Fotomuseum Winterthur auf keinen Fall haben. Ging ich aber in Artist's Spaces, war ich selbst herausfordert, denn diejenige Fotografie, die ich dort sah, war von Künstlern sehr weit getrieben worden. Es waren weitgehendst Künstler, die damals den verknöcherten Kanon der Fotografie sprengten. 


Was wollten Sie mit dem Fotomuseum Winterthur also leisten?

Ich hatte eine klare Vorstellung. Ich wollte ein dreifaches Programm realisieren: Mit zeitgenössischen Künstlern wie Roni Horn, Andreas Gursky, John Waters, Hans Danuser oder Shirana Shabazi wollte ich eine Kunsthalle für Fotografie verwirklichen; diese Ausstellungen erarbeiteten wir selbst. Mit historischen Autorenfotografen wie Bill Brandt, Eugène Atget, Charles Sheeler oder Lisette Model wurde das Haus eher zu einem klassischen Fotomuseum. Diese Ausstellungen, die ich jeweils von anderen Institutionen übernahm, folgten immer der  Frage: Was macht diese Fotografie heute interessant? Wie wird beispielsweise Atget von den Surrealisten oder von Bernd und Hilla Becher rezipiert? Ich wollte die Linien des Historischen bis in die Gegenwart zeigen. Die dritte Sparte schliesslich sind die von uns entwickelten, äusserst aufwendigen Themenausstellungen, die soziologisch und kulturhistorisch angelegten Ausstellungen wie „Industriebild“ oder „Trade“.

Die Einladungskarten und Plakate, in denen Bild und Schrift gleich stark gewichtet sind, sollten zudem deutlich machen, dass es mir um eine Diskussion, eine Debatte ging – und geht. Wir wollen verführerische und spannende Ausstellungen machen, gleichzeitig sollen sie mit Führungen, Diskussionen und Publikationen immer eingebettet sein in ein permanentes Nachdenken über Fotografie, über ihre Rolle in der Gesellschaft, in der Kunst, in den Medien. 


Für mich waren thematische Ausstellungen wie «Industriebild» (1994), «Im Rausch der Dinge» (2004) oder «Dark Side I und II» (2008, 2009) Meilensteine. Können Sie die Hintergründe zu deren Entstehung erläutern.

In diesen Ausstellungen stehen weniger fotografisch-ästhetische Fragen im Vordergrund als vielmehr soziologisch-kulturhistorische. Mode-, Polizei-, Medizin- oder jetzt Architekturfotografie: Es geht hier darum zu verstehen, mit welcher Absicht die Fotografie in Auftrag gegeben, wie sie eingesetzt wird und wie sie durch den Gebrauch unser Weltbild verändert. Mit der Ausstellung «Industriebild» wollten wir die Produktion, mit «Im Rausch der Dinge» dann die Bedeutung der Gegenstände selbst, und die Rolle der Fotografie in ihrer Wertsteigerung thematisieren. Es tauchten Fragen auf wie: Warum sehen die Industriehallen auf den Bildern immer so hell und sauber aus, wenn sie doch in Wirklichkeit sehr viel russiger waren? Wir haben herausgefunden, dass die Hallen wie für Filmaufnahmen in Hollywood aufgeräumt und geputzt und mit vielen Scheinwerfern beleuchtet wurden, bevor man sie fotografierte. Oder im Ruhrgebiet: Da haben sich die Fotografen und die Auftraggeber gefragt, wie viel Rauch aus einem Kamin kommen darf, damit die Betrachter das Gefühl haben, dass da gearbeitet wird, ohne aber den Eindruck von Luftverschmutzung zu vermitteln. Also wurde für die Fotografie extra der Rauchausstoss gesteuert. Sie merken es: Die anonyme, angewandte Fotografie interessiert mich genauso stark wie die Arbeit, die Vision, die Reibung eines Künstlers an der Gegenwart.


Welche Ausstellungen liegen Ihnen noch immer am Herzen?

Ich habe 132 Ausstellungen mit zeitgenössischer oder historischer Autorenfotografie und zu ausgewählten Themen im Fotomuseum organisiert oder selbst realisiert. Da eine Auswahl zu treffen, ist natürlich schwierig. Doch herausgreifen möchte ich Nan Goldins Ausstellung «I'll be your mirror» (1997). Abgesehen davon, dass sie uns den ersten Besucherrekord bescherte, ist mir vor allem etwas in Erinnerung: Viele Leute kamen herein, locker, wollten diese ein wenig exotischen, sexualisierten Bilder anzuschauen. Doch dann kamen sie in Tränen heraus und begann mit den Frauen an der Kasse zu sprechen. Es passierte also etwas ganz Wichtiges: Dank der Ausstellung begannen die Leute über das eigene Leben nachzudenken, die Tränen betrafen die eigene Existenz. Wenn eine Ausstellung eine solche Kraft entwickeln kann, dann ist etwas von dem erfüllt, was ich erreichen wollte. 

Was die historischen Autorenausstellungen betrifft, freut es mich besonders, dass wir die drei Deutschen Karl Blossfeldt, Albert Renger-Patzsch und August Sander ausgestellt haben, dass wir die französische Linie von Eugène Atget bis André Kertesz aufzeigen und die Amerikaner Edward Weston, Charles Sheeler und Walker Evans präsentieren konnten. 

Aber selbstverständlich sind noch andere Ausstellungen wichtig, etwa diejenigen von Roni Horn, Peter Hujar, Hans-Peter Feldmann oder von Hans Danuser, welcher der Erste war, der die Bilder am Boden auslegte. Und: Lewis Baltz war damals in seiner Betrachtung der Welt und der Fotografie eine Leitfigur für mich geworden: gescheit, spannend, ätzend scharfsinnig. Seine  Ausstellung «Regel ohne Ausnahme» (1993) bereitete in der Art der Hängung vieles vor, was mir später immer wichtig war: Mit Bildern den Raum auch architektonisch zu besetzen.  Shirana Shahbazis Installation fünfzehn Jahre später war eine cool-opulente Realisierung dieser Vorstellung. Die Zusammenarbeit mit Stefan Burger («Unter den Umständen», 2010) schliesslich war erneut eine Herausforderung, weil er mit seinen skulpturalen Eingriffen den Zweifel an der Fotografie körperlich erfahrbar, spürbar machte. . 


Welche Schwerpunkte hat die Sammlung des Fotomuseums?

Der eine Schwerpunkt der Sammlung liegt auf der dokumentierenden Fotografie ab 1960. Es war uns von Anfang an klar, dass es sinnlos ist, auf das Jahr 1839 oder 1826 – die Erfindung der Fotografie – zurückzugehen. Wir entschieden uns, den Schnitt 1960 zu machen, weil da ein Parameterwechsel stattfand: Die Fotografie musste ihre erste zentrale Aufgabe, die visuelle Berichterstattung, an das Fernsehen, an die Live-Kamera abgeben und die Kunst begann sich definitiv für die Fotografie zu interessieren. Wir sammeln also dokumentarische und halbkonzeptuelle dokumentarische Fotografie aus den letzten 50 Jahren – Bilder von Robert Frank über Lewis Baltz zu Nan Goldin, Paul Graham,  Richard Billingham oder Gilles Peress und weiter bis in die Gegenwart
Der andere Schwerpunkt liegt auf fotografischer Konzeptkunst, auf „photo based conceptual art“, wie die Amerikaner sagen. Der Sammlungskonservator Thomas Seelig hat ein gutes Auge für Ephemeras wie Plakate oder Hefte in kleinen Auflagen, die in der konzeptuellen Kunst eine wichtige Rolle spielen. Vor einiger Zeit konnten wir zudem eine wirklich bedeutende Sammlung mit Werken von Robert Smithson, Michael Heizer, John Baldessari oder Vito Acconci ankaufen,  was den konzeptuellen Teil der Sammlung deutlich verstärkte.  

Wir wollten jedenfalls nie eine Sammlung mit Best-of-Bildern, sondern wir wollten ‹Sprachen› kaufen, Figuren, Persönlichkeiten, Haltungen. Man soll verstehen können, worum es bei einem Werk geht. Also kaufen wir immer mehrere Werke, in einzelnen Fällen 50, sogar 100 Bilder vom gleichen Künstler oder Fotografen. Wir haben, um ein wenig wichtig zu tun, zum Beispiel 200 Prints von Gilles Peress, rund 150 Fotos von Boris Mikhailov, 70 von Nan Goldin, etwa 100 von Robert Frank, wobei hier etwa die Hälfte eine Leihgabe ist.


Die Finanzierung der Sammlung dürfte nicht leichter geworden sein.

Als das Museum gegründet wurde, hatten wir so wenig Geld, dass wir unsere Energie auf die Ausstellungen und die Publikationen, als auf die Vorstellung eines Diskussionszentrums konzentrierten. Wir sammelten damals nur passiv, das heisst, wir konnten manchmal Werke aus Ausstellungen behalten oder bekamen Schenkungen, etwa eine bedeutende Gruppe von Fotografien von Nobuyoshi Araki. Erst seit 2000 sammeln wir weit aktiver, weit intensiver. Und freuen uns natürlich darüber, was bisher so alles zusammengekommen ist. Übrigens fast integral auf unserer Webseite einsehbar.

In den letzten Jahren waren alle Museen mit stark angestiegenen Preisen konfrontiert. Früher konnte man eine Weile zuwarten, um zu schauen, ob ein Fotograf wirklich hält, was er verspricht, heute muss man bereits  sehr früh kaufen, damit man es noch bezahlen kann. Wir sammeln also viele jüngere Fotoschaffende und hoffen, dass die Bilder, die wir heute gut finden, auch später ihren Wert, ihre Bedeutung halten. Grundsätzlich möchte ich die Sammlung nicht als Anhäufung von olympischen Namen verstehen, sondern von interessanten Bildgedanken. 


Nicolas Faure, Hans Danuser, Robert Frank oder Walter Pfeiffer: Welche Schweizer Fotografen wollten Sie mit Einzelausstellungen präsentieren? 

Wir haben uns ganz bewusst international platziert, nicht als Museum für Schweizer Fotografie. Ich wählte also diejenigen Schweizer, die ich mit der gleichen Überzeugung zeigen konnte wie zum Beispiel Zoe Leonard oder William Eggleston. Ob meine Wahl immer richtig war, weiss ich nicht. In letzter Zeit hatte ich jedenfalls deutlich mehr Lust, Schweizer zu zeigen oder, wie es im Fall von Shirana Shahbazi und Stefan Burger korrekt heissen müsste: in der Schweiz ansässige Fotografen!


Nach welchen Kriterien wählten Sie jüngere Fotokünstlerinnen oder Fotografen wie Valérie Jouve, Jitka Hanzlova oder Stefan Burger aus? 

Ich wollte nie einfach nur schöne Bilder aneinanderreihen, sondern immer Figuren, Persönlichkeiten, ein Denken, eine Haltung zeigen. Erst wenn ich das Gefühl bekomme, dass jemand aus seiner Existenz heraus arbeitet, begann es mich zu interessieren. Das bei jüngeren Fotografen und Fotografinnen zu spüren, ist ein Teil der Aufgabe eines Kurators, nebst dem Bemühen, dass diese Haltung schliesslich auch sichtbar wird. In den letzten vier, fünf Jahren habe ich allerdings begonnen, diese Vorstellung ein wenig zu revidieren. Ich fühle mich herausgefordert, mit Bildern auch anders umzugehen, als ich es bisher getan habe. 


Weshalb? Wo steht die Fotografie heute? 

Wir leben in einer Zeit, in der die Fotografie geradezu brainwashed wird. Das Wort Bilderflut kann man ja gar nicht mehr benützen, wir leben in einem Bilder-Tsunami. In Zahlen: 1990 wurden weltweit etwa 45 Milliarden Bilder auf gemacht. Vor einem Jahr gab die deutsche Fotoindustrie bekannt, dass allein in Deutschland rund 43 Milliarden Bilder gemacht würden. Wie man diese Zahl überhaupt eruieren kann, wenn keine Filme mehr gekauft und keine Bilder mehr entwickelt werden, ist mir nicht klar. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass es sich um die Spitze des Eisbergs handelt. Alles wird pausenlos immer fotografiert. 


Und was bedeutet das für ein Museum der Fotografie?

Das Fernsehen hat die Fotografie mancher ihrer Aufgaben beraubt, aber auch von der Berichterstattung erlöst; die Fotografie wurde – endlich – von der Kunstszene entdeckt. Jetzt haben wir eine Phase, in der das Fernsehen vom Internet bedrängt wird. Es wächst eine Generation heran, die vor dem Fernseher einschläft, weil sie es nicht gewohnt ist, etwas in einer passiven Kontemplation zu erfahren. Diese Generation wird nicht mehr zum Fernsehen zurückkehren, ausser man verschmilzt das Fernsehen mit dem Internet und der Play Station, was derzeit ja versucht wird.

Bilder sind auch Viren geworden, die sich in Windeseile weltweit verbreiten können. Wahrscheinlich ist die Distributionsart im Internet und die -geschwindigkeit wichtiger als die Digitalisierung selbst. Es stellt sich die Frage, wie die digitale Generation ins Museum gebracht werden kann, ohne aus dem Museum einen Entertainment-Park zu machen. Das ist eine doppelte Herausforderung: Das Museum muss sich fragen, was Fotografie heute ist oder sein kann. Und es muss fragen, wo die Fotografie stattfinden soll. Da für eine junge Generation die Welt “nach Hause kommt“, das heisst im Smart Phone stattfindet, müssen wir sozusagen zwei Museen führen: ein reales und ein elektronisches, das weltweit zugänglich ist. Wir zeigen deshalb rund 90 Prozent der Sammlung online, führen eine Datenbank mit Informationen zu jungen Fotografen sowie ein Archiv mit Ausstellungsdokumentationen. Zudem bieten wir in einem Blog eine kontinuierliche Auseinandersetzung an. In Zukunft sind sicher auch Interventionen und Präsentationen von Fotografen und Künstlerinnen auf der Website denkbar. So jedenfalls kann man das Museum international wahrnehmen. Gleichzeitig darf man nicht zu viel bieten, um die reale Erfahrung vor Bildern im Museum nicht auszuschliessen.

 

Ein Ausblick?

Vielleicht ist die digitale Generation irgendwann froh, wenn in all den fluiden Bildern auch einmal ein Bild stillsteht, einfach gross und ruhig an der Wand hängt? Das Museum darf jedenfalls nicht zu einem nostalgischen Ort verkommen, wo einige gewissermassen noch mit Holz arbeiten und Blümchen malen, während die eigentliche Produktion der Dinge total anders aussieht. Deshalb bin ich inzwischen auch bereit, Bilder in Ausstellungen zu holen, die nicht mehr aus einer existenziellen Haltung heraus entstehen, dafür aber die Diskussion, was heute ein Bild ist, was seine Funktion ist, weitertreiben. Für mich kann jedenfalls nichts Schöneres passieren, als dass das Museum auch in Zukunft blüht – anders blüht – und weiterhin eine Denkmaschine über Fotografie ist.