Oktober 2016

Dayanita Singh: Der Fluss des Lebens

English Version: Dayanita Singh: The Flow of Life →
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Dayanita Singh ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit und eine aussergewöhnliche Künstlerin. In den vergangenen fünf Jahren hat sie mit Ausstellungen im Art Institute of Chicago, in der Hayward Gallery in London, im Museum Moderner Kunst in Frankfurt, im Kiran Nadar Museum of Art in New Delhi, der MAPFRE Foundation in Madrid und mit ihren zwei Beteiligungen an der Biennale von Venedig auf ein Werk aufmerksam gemacht, das in vielerlei Hinsicht besonders ist. 

In den Neunzigerjahren begann sie mit journalistischer, mit Reportagefotografie. Seither hat sich ihre Fotografie entwickelt, wurde schrittweise zu ihrer Kunstform. Sie erfand zusammen mit Gerhard Steidl, ihrem Verleger, eigene Buchformen, in denen ihre Fotografien neuen Sequenzen, Reihungen, neuen Narrationen folgen und sich gemeinsam zum Buchobjekt verdichten – für jedes Projekt eine passende, eigene Form der Präsentation. Im Buch «Privacy» porträtierte sie, zur Überraschung vieler, das wohlhabende Indien und seine Interieurs, skizzierte also zum ersten Mal die Welt der wohlhabenden bürgerlichen, grossbürgerlichen Inder. Mit diesem Buch löste sich Dayanita Singh vom foto-kolonialen Blick, der bis heute, von aussen und von innen, immer wieder auf ihr Land fällt, sie verabschiedete sich vom westzentrischen Doppelblick, der einerseits auf das farbenfrohe, bunte, exotische Indien und andererseits auf das Land der Katastrophen, Konflikte, der grossen Armut geworfen wird.

Im Buch «Chairs» folgte sie ihrem ausgeprägten Sinn für Gegenstände, für Räume, für das stille, menschenleere Gespräch der Dinge und der darin verborgenen Zeit. Die Geschichten (und die Geschichte) von Individuen, Familien, von ganzen Generationen, von einer alten, sich nach der Unabhängigkeit neu entwickelnden Kultur scheinen sich in die Stühle, Tische, Schränke, in den glanzgepflegten Boden eingeprägt zu haben. Eine beredte gegenständliche Stille, die anhebt und sich senkt, sich ausbreitet und zusammenzieht, erzählt und bedeutungsvoll schweigt. Mit diesem Buch bekräftigt Dayanita Singh ihr Interesse an der Geschichte der Menschen und ihrer Gegenstände, Werkzeuge, Maschinen, ihre zu gleichen Teilen anthropologische und archäologische Neugier. 

In «Go Away Closer» entfernte sie sich vom Dokumentieren und entwickelte eine essayistische Form der Fotografie, die in einer zauberhaften Bild-Novelle ohne Worte Innen- und Aussenleben, Gesellschaft und persönliche Geschichte, Präsenz und Abwesenheit, Fülle und Leere, Realität und Traum zu einem neuen eigenen Bild- und Poesiekörper formt. Das Deskriptive der Fotografie beginnt sich zurückzuziehen, löst sich auf, verschwindet allmählich im Himmel des Möglichen, im Unendlichen der Poesie. Der Titel «Go Away Closer» versinnbildlicht das Paradox von nah und fern, von vage und bestimmt, formuliert eine Bewegung, ein langsames inneres und äusseres Pendeln. 

Die Projekte und Bücher «Sent a letter», «Blue Book», «Dream Villa» und «House of Love» veranschaulichen, wie offen Dayanita Singh zunehmend die Fotografie begreift. Jede Fotografie ist für sie ein offenes Buch, das sich von Lesart zu Lesart, von Person zu Person, von Kontext zu Kontext in seiner Bedeutung verschiebt, verändert, verdichtet oder verliert. Diese zunehmend performative Form ihrer Fotografie manifestiert sich in jüngster Zeit auch in ihren Ausstellungen. Sie entwickelt sehr eigene Ausstellungs-, Präsentations- und Distributionsformen, baut Möbel, Karren, konstruiert Paravents oder eben mobile, auffaltbare  «Museen», wie sie sie selbst nennt, Strukturen also, die es ihr erlauben, der Fotografie immer und überall eine neue Form und Präsenz, eine neue Bedeutung zu ermöglichen. Ihre Museen entfalten vor den Augen der Betrachter ein Spiel, ein Reich zwischen Archiv und Ausstellung, Sammlung und Präsentation, zwischen Schrank und Paravent. Gleichzeitig vermischen sich die Genres: Bücher werden zu Ausstellungen und Ausstellungen zu Bücher, Leporellos ziehen sich durch Bücher, Faltwände durch den Raum.

Dayanita Singh stellt in ihrer Ausstellung am MAST eine Reihe von Werkgruppen vor, die alle mit der Arbeit, mit Maschinen, mit der Produktion von Dingen und dem Verwalten und Archivieren von Leben zu tun haben. «Museum of Machines», «Museum of Industrial Kitchen», «Office Museum», «Museum of Printing Machines», «Museum of Men» und «File Museum» sind die Titel einiger der Gruppen. Im «File Museum» zum Beispiel fotografiert sie das Indien der Regeln, der Gesetze, der Prozesse und ihrer Archivierung . Stapelweise geschichtete Geschichte findet sich darin, geschichtete Verfahren, geschichtete Erfahrung, geschichtete Zeit. Sie zeigt die Welt der Archive als eine lebendige Schattenwelt, eine Welt des Papiers, der Paragraphen, der Akten, die durch das Licht alter Neonröhren milchig, bläulich, blässlich erleuchtet sind, die verderben, verrotten, verpulvern, aber paradoxerweise zugleich lebendig und bewirtschaftet wirken. Sie zeigt die Archive als staubige Orte voller Hoffnung und Schmerz, unterhalten von einzelnen Menschen, die als Wächter der Latenz, des Spielraums zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Leben und Tod agieren. Wenn es nicht einen Funken Hoffnung gäbe, würden wir Archive gar nicht erst anlegen, sagt der indische Filmer Amar Kanwar. Archive sind, obwohl sie nichts als die Vergangenheit auftürmen, immer in die Zukunft gerichtet. 

In anderen Serien lädt uns das produzierende Indien ein, mächtige, rauchende Fabriken, stampfende Maschinen, Arbeitsprozesse, Arbeitsabläufe entfalten sich in labyrinthischer Weise für uns Betrachter. Werkzeuge, Materialien, Maschinen scheinen sich in den Bildern von Dayanita Singh zu verlebendigen, werden Organismen, Wesen, gewinnen ein Eigenleben, einen Charakter, mit oder ohne Menschen, mit oder ohne Arbeiter. Eine staubige, düstere, ölige Welt, die sich vor unseren Augen wie eine psychologische Landschaft ausbreitet. Oder wie es der Autor Aveek Sen weiter hinten formuliert: «As we spend more time with these creatures and contemplate the spaces of encounter they inhabit or conjure up, what begins to rise up within us is, paradoxically, a sense of personality and personhood.»

Dayanita Singh ist heute eine der berühmtesten indischen und weltweit eine der bekanntesten fotografisch tätigen Künstlerinnen. Wir schauen in der Ausstellung nicht nur auf ihre Werke und Werkgruppen, sondern wir richten unseren Blick zugleich auf ein reiches Künstlerleben, ein starkes, komplexes, intensives Leben, das über die Jahre immer selbstbewusster und reifer geworden ist. Wir erkennen eine Künstlerin, die sich durchzukämpfen, die einzustehen und anzukommen weiss, trotz vielen für Frauen weiterhin widrigen, ja feindlichen Umständen. All dies ohne je die Neugierde, die Freude am Spiel, am Bild, am Fluss und an der Poesie des Lebens zu verlieren.