Dezember 2011  /  Du 822

Den Hut nehmen

<p>Robert Heinecken: <em>Ohne Titel</em>, undatiert (28,2 × 20,1 cm, Center for Creative Photography, University of Arizona)</p>

Robert Heinecken: Ohne Titel, undatiert (28,2 × 20,1 cm, Center for Creative Photography, University of Arizona)

Peter Galassi hat im Juli das MoMA in New York verlassen. Seither ist die Stelle des Joel and Anne Ehrenkranz Chief Curator of the Department of Photography at the Museum of Modern Art verwaist. Für viele kam der Rücktritt überraschend, zumal er direkt aus einem sabbatical year heraus verkündet worden ist. Galassi habe sich, so heisst es offiziell, nach mehr als dreissig Jahren verdienstvoller Tätigkeit – darunter zwanzig Jahren als Chefkurator für Fotografie – mit vierzig Ausstellungen unter anderem zu Alexander Rodchenko, Lee Friedlander, Andreas Gursky, Jeff Wall, Henri Cartier-Bresson oder über Themen wie Pleasures and Terrors of Domestic Comfort zu einem neuen Schritt entschieden. Er selbst schrieb an Bekannte und Freunde, dass er grösseren Schreibprojekten, die bisher hinter der Museumsarbeit zurückstehen mussten, nun endlich den nötigen Raum verschaffen wolle. 

Es wirkt durchaus seltsam, wie hier von einer Art courant normal die Rede ist, doch jede Nachfrage, weshalb der verdienstvolle Chefkurator nicht gebührend verabschiedet worden sei, lässt im besten Fall ein paar Augen kugeln. New York schweigt. Was immer die Gründe für den Rücktritt sein mögen, bedeutsamer ist die knappe, stille, fast schale Reaktion auf den Abgang. 

Mit Peter Galassi verabschiedet sich nicht nur der erst vierte Direktor der Fotografieabteilung am MoMA – Beaumont Newhall war 1940 ihr Begründer, ihm folgte Edward Steichen, schliesslich John Szarkowski, unter dem Galassi lange gearbeitet hat –, mit kurzem Gruss zur Hutkrempe scheidet damit auch eine grosse Epoche der Fotografie aus dem MoMA: die fotografische Moderne. Wenn es ein Museum auf der Welt gibt, das der fotografischen Moderne Treue durch dick und dünn geschworen hat, dann das Museum of Modern Art an der 11 West 53 Street in Manhattan. Siebzig Jahre lang war das Verständnis der Moderne von Kunst, vom Bild, vom Künstler und seiner Haltung Grundlage und Handlungsanleitung für die Ausstellungen und die Sammlung. Szarkowski war ungekrönter Gralshüter dieser Moderne, ihr Supporter und Verteidiger in einem. Galassi kam die etwas weniger aufregende Aufgabe zu, die Nach-Moderne zu Grabe zu tragen, sie auslaufen zu lassen, bis sie eben, etwas flügellahm, den Hut nahm. 

Drei Frauen sind im eigenen Haus startbereit: Roxana Marcoci, Sarah Meister und Eva Respini, die Kuratorinnen, die unter Peter Galassi gearbeitet haben. Ausserhalb des MoMA ist das Feld der Kandidaten weit grösser. Doch weniger als das Ratespiel möglicher Namen interessiert die Frage, welche Position die Zukunft des MoMA prägen wird. Ein Neuanfang ist überfällig. Die Welt der Fotografie, das Verständnis der Fotografie haben sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Das MoMA muss sich zwangsläufig neu positionieren. Es hat seine Führungsrolle verloren. Selbst die seit Jahren laufende Reihe New Photography vermochte das Bild des MoMA als eines alternden Stars nicht wesentlich zu korrigieren. «Never really great» ist das oft gehörte Urteil über die Serie von Ausstellungen, die jedes Jahr fünf oder sechs neue Fotografen und Künstlerinnen vorstellt. New Photography 11, die diesen Herbst laufende Präsentation, stellt mit Moyra Davey, George Georgiou, Deana Lawson, Doug Rickard, Viviane Sassen und Zhang Dali durchaus spannende Positionen vor, dennoch wirkt die Ausstellung verhalten. Die perfekten, eleganten, warmtonigen Räume scheinen die Radikalität der Arbeiten zu brechen. Es gilt nicht nur, gegen überkommene Traditionen, sondern auch gegen eine zu propere, salonhafte Architektur und Hängung zu kämpfen. 

Im Gegensatz zur Ostküste konnte sich an der Westküste seit den 1960er-Jahren eine ganz andere Fotografie entwickeln. Unter dem Einuss von kalifornischem Marxismus, Strukturalismus und Poststrukturalismus hat sich eine Form der konzeptualisierten Fotografie herausgeschält, die sich kaum je innerhalb eines einzelnen Bildes bewegt, die Fotografien wie Dominosteine zu Reihen, Blöcken und Figuren zusammenstellt, mit Sprache kombiniert, die Fotografie als ein Medium unter anderen versteht, das im Kontext der Gesellschaft betrachtet werden muss, ein Medium, das in seinem Gebrauch beobachtet und verstanden werden will. Kalifornische Kunst kämpfte (mit Verve) gegen den Kanon der Kunst und (mit Ironie) gegen die Repräsentationskraft der Fotografie und die Machtverhältnisse in der (Medien-) Welt. Gerade eben wird in Pacific Standard Time, einer gigantisch angelegten Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe, die während sechs Monaten in rund fünfzig Museen die Kunst Kaliforniens seit dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet und feiert, dieser Unterschied sehr deutlich, zumindest in den photo-based Arbeiten von Robert Heinecken, Wallace Berman, Ed Ruscha, John Baldessari, Robert Cummings, Larry Sultan ∕ Mike Mandel, Lewis Baltz und Allan Sekula und vielen anderen. Oder heute in den jungen Werken von Walead Beshty und Elad Lassry zum Beispiel. Sie alle sind in der einen oder anderen Form im Rahmen von Pacific Standard Time – die Ausstellung wurde finanziell von der Getty Foundation angestossen – vertreten. 

Wird «einer von der Westküste» den Staub im MoMA aufwirbeln? Die Frage geistert zurzeit durch die Strassenschluchten Manhattans. Sie verdeckt, dass die Westcoast-Kunst auch bald Geschichte sein wird, dass The Global Contemporary (vgl. die aktuelle Ausstellung von Hans Belting und Peter Weibel im ZKM Karlsruhe) das «rollende» Flugfeld ist, auf dem wir zurzeit zu starten und zu landen versuchen. Das Ludwig Museum in Köln hat sich als Nachfolger Kaspar Königs den Schweizer Philipp Kaiser vom Los Angeles Museum of Contemporary Art (LA MOCA) geschnappt. Wer wird im MoMA das Vakuum nach Galassi, nach der Moderne, füllen?