2012

Diane Arbus - Führung (Lyons Club)
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herren,
 

Herzlich willkommen im Fotomuseum Winterthur, herzlich willkommen in der Diane Arbus-Ausstellung! Wir beginnen den Abend im Studierzimmer, in dem Raum, in dem man sich mit der Biographie von Diane Arbus beschäftigen kann, mit ihren Büchern, ihren Blattkopien, den Essays, die über sie geschrieben worden sind. Es ist die Idee der Ausstellung, dass hier gesprochen und diskutiert wird, während man sich in der Ausstellung selbst in die rund 190 Prints versenkt und sich mit visuell und emotional auf sie einlässt. Entsprechend leiten wir hier ein und begleiten Sie danach „Stillschweigend“ auf ihrem Ausstellungsbesuch, das heisst, wir reden nur, wenn Sie fragen.

Diane Arbus ist 1923 als Diane Nemerov in eine reiche jüdisch-polnisch-amerikanische Familie hineingeboren worden, eine Familie, die das edle Pelz- und Kleidergeschäft „Russek“  in New York gegründet und geleitet hat. Howard, später ein bekannter Poet und Schriftsteller, war ihr älterer Bruder, Renée, später Malerin und Designerin, ihre jüngere Schwester. Mit 13 Jahren schon verliebte sie sich in Allan Arbus, der im Familienunternehmen gearbeitet hat und den sie, sehr zum Unwillen der Familie, bereits mit 18 Jahren heiratete. Gemeinsam betrieben sie das Diane and Allen Arbus Photography Studio und waren hauptsächlich als Modefotografen tätigt. Dabei galt Allen Arbus als der Fotograf und Diane Arbus als die Stylisting, die Ideengeberin. Gemeinsam auch hatten sie zwei Kinder, zuerst Doon, 1945 geboren, und dann neun Jahre später Amy. Doon ist Autorin und Verwalterin des Arbus Estates und Amy ist selbst Fotografin geworden. Ende der fünfziger Jahre trennten sich Diane and Allen Arbus, fortan lebt Diane alleine mit ihren beiden Kindern und begann in der recht kurzen Zeit von 12, 13 Jahren das inzwischen weltberühmte und vieldiskutierte Werk. 1971 nahm sie sich das Leben. Trotz der zunehmenden Depressionen war der Selbstmord für alle ihr Nahestehenden überraschend.

Diane Arbus‘ Werk hat die vergangenen vierzig Jahren äusserst gut überlebt. Viele Fotografen, auch einige, die hier im Fotomuseum Winterthur ausgestellt haben,  beziehen sich bis heute auf dieses schillernd-intensive Werk. Das Werk hat in den sechziger Jahren nicht Wenige schockiert und abgestossen, aber auch heute ist die Präsenz der Bilder, ihr Impakt auf uns Betrachter gross. Sie schafft es, den Subjekten, den Personen, die sie porträtiert, sehr nahe zu treten, frontal auf sie zuzutreten, sie mit Blitz abzulichten ... alles eigentlich Gesten des Eindringens, manchmal auch des Blossstellens oder Verletzens … bei Diane Arbus‘ Bildern hingegen spürt man, dass die Bilder im Einverständnis aufgenommen worden sind, dass sich die Darstellerinnen nicht ausgebeutet fühlen, viel eher aufgehoben, respektiert. Also zeigen sie sich, präsentieren sich, ihre Maske, ihre Inneres, was immer sie zulassen wollen, sie zeigen sich Diane Arbus, ihrer Kamera und damit uns mit.

Sie werden für diesen Augenblick wie auf einen Sockel gehoben, ins Rampenlicht gerückt und geben sich da ... unsicher vielleicht, verspannt auch zuweilen ... doch man spürt, dass die Chemie zwischen Porträtiertem und porträtierender Fotografin stimmt, dass es in Ordnung geht mit diesem Bild. Dieses Unverletzende, ja die manchmal fast liebende Nähe ist es, die die Bilder so ausserordentlich macht.

Dazu die kräftigen Kontraste, die nichts verschleiern, sondern hervorheben wollen, dieses unendlich tiefe Schwarz. Zusammen entsteht so eine manchmal auch unheimliche Präsenz der Bilder. Natürlich gibt es eine Linie von Lisette Model und Wegee zu Diane Arbus, natürlich kannte sie August Sander, aber die Mischung, das Momentum ist neu. Das macht sie, zusammen mit ihrer Ikonographie, ihrer Bildwelt, so unverkennbar und so stark.

Diane Arbus hat in den dreizehn Jahren fast eine Gegenwelt zu ihrer Herkunft und ihrer Arbeit für die Modefotografie angelegt. Sie hat Zirkusleute fotografiert, Schausteller, Zwerge, Liliputaner, Nudisten, Transvestiten, Prostituierte, Menschen, die ihre Behinderung zum Erwerb vorzeigen, daneben auch Kinder reicher Leute, Zwillinge, Drillinge, Familien mit auffallender Erscheinung. Sie fotografiert, so könnte man die Bildwelten vielleicht zusammenfassen, leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als „normal“ bezeichnet. Sie fotografiert anderes Sein, anderes Verhalten, Randfiguren….. sie geht vom Zentrum der Gesellschaft in Richtung der darin eingelassenen Ränder, sie nähert sich bewusst oder unbewusst den Rissen im Geflecht.  

Man gewinnt gar den Eindruck, dass es sie drängt, sich dahin zu bewegen, sich diesen fremden Welten auszusetzen.  Sie sucht sie, scheint sich fast danach zu sehnen. Doch weshalb? Was sucht sie da genau? Diese Frage schiebt sich nach einer Weile der Betrachtung in den Vordergrund. Diane Arbus ist in einem Kokon aufgewachsen, extrem wohlbehütet, aber nicht von den Eltern, sondern von Kindermädchen, von Nannys, vom Reichtum als Struktur in der Kindheit. Sie hat diese Welt recht deutlich verlassen, musste sich und ihre Kinder mit dem wenigen selbst verdienten Geld durchschlagen, und begab sich auf eine lange Suche nach Direktheit, Einfachheit, Körperlichkeit, auf der Suche nach Echtheit. Sie entfernt sich von den Formalitäten des Elternhauses, von den Distanziertheiten, vom Theater des Wohlstandes, vom dezenten Schweigen und sehnt sich nach Körperlichkeit, nach Nähe, nach dem Authentischen.

Dieser scheinbar private Feldzug, wenn wir ihn so nennen wollen, läuft parallel zum Aufbrechen der Gesellschaften in den sechziger Jahren, zum Aufbruch der Beatniks, der Hippies, der 68er. Ihr Aufbruch ist nicht politisch, sondern persönlich motiviert, aber dennoch ist darin der Widerstand gegen hergebrachte verfestigte, aus ihrer Sicht auch unwahre, unwahrhaftige Gesellschaftsformen zu spüren. Ihr Werk passt in dieser Weise zu Robert Frank, zu Jack Kerouac, Jim Morrison und in der bildenden Kunst zu den verschiedenen Formen der neuen Realitätssuchen in den sechziger Jahren, zum Ablegen der Formen zugunsten der Materialien, der Gesten zugunsten der Basis, der Spuren, dem Grund.  

Dass diese Reise ins Authentische, Wahre, Greifbare – da wo sie das Leben wirklich spürt – auch stark körperliche, erotische, sexuelle Züge annahm, ist in vielen dieser ausserordentlichen Bildern deutlich zu spüren. Diane Arbus war eine attraktive Frau, die viele für sich einzunehmen wusste, mit ihrer Offenheit, ihrer Intelligenz, ihrer wunderbaren Sprache, aber auch mit ihrer Erscheinung. Viele Begegnungen sind wie ein performativer Akt und die Fotografie der Beleg dafür.

Und dass dies alles mit Nähe, Liebe und Würde geschah, ist besonders in ihren Bildern von geistig behinderten Menschen abzulesen. Menschen, die anders sind, und die dieses Anderssein so zu akzeptieren gelernt haben, dass wir dagegen fast hilflos und in dieser Hilflosigkeit behindert wirken. Menschen mit angeborenen geistigen und körperlichen Merkmalen, die, wie es Diane Arbus einst formuliert hat, ein wenig wie  „Aristokraten“ sind, weil sie von Anfang an gelernt haben, mit ihren Traumas zu leben.

Die Ausstellung hier erlaubt einen Einblick in ihr Frühwerk der späten fünfziger Jahre, im dem sich ihre Formierung an den mit einer Nikon-Kleinbildkamera fotografierten Bildern erkennen lässt. Sie zeigt alle berühmten und weniger bekannten Bilder, die Diane Arbus ab den frühen sechziger Jahren im quadratischen Format mit einer Rollei oder Mamya aufgenommen hat. Die Bilder sind wie ein mäandernder Fluss gehängt, in den wir als Betrachter einsinken, mit dem wir uns konfrontieren.

Ich wünsche Ihnen nun ein vergnügtes, auch nachdenkliches Eintauchen in die wirklich hochintensiven Fotografien von Diane Arbus.

Viel Spass.