Mai 2012  /  Du 826

Diane Arbus – Süchtig nach Begegnungen

<p><em>Familie an einem Sonntag in ihrem Garten in Westchester</em>, New York 1968<br /><em>Ohne Titel</em> (6), 1970–1971<br /><em>Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West 20th Street</em>, New York City 1966<br /><em>Mädchen mit Zigarre im Washington Square Park</em>, New York City 1965<br />Alle Bilder: Diane Arbus (© The Estate of Diane Arbus)</p>

Familie an einem Sonntag in ihrem Garten in Westchester, New York 1968
Ohne Titel (6), 1970–1971
Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West 20th Street, New York City 1966
Mädchen mit Zigarre im Washington Square Park, New York City 1965
Alle Bilder: Diane Arbus (© The Estate of Diane Arbus)

Das Schwarz in ihren Fotografien ist manchmal unheimlich tief. So satt und tiefschwarz, als seien einzelne Stellen mit Tusche nachgezogen oder mit Pech übertüncht worden. Als sei es von einer anderen, einer saugenden dunklen Schattenwelt. Der Augenkontakt mit den porträtierten Menschen ist eindringlich, manchmal so irritierend nah und direkt, als schauten wir durch ihre Pupillen ins schattige Innere und wieder zurück, in uns selbst hinein. Wir vergessen leichter als sonst, dass wir «lediglich» vor (quadratischen) Fotografien stehen. Die Kombination dieser Eigenschaften beeindruckte in den sechziger Jahren die Leser von «Esquire» ebenso wie die Besucher des MoMA in New York, ja es schockierte sie zuweilen. Die grosse, berührende Nähe, einerseits mit Wärme und Respekt, bisweilen aber auch mit einem Schuss von Zynismus überzogen, zieht auch uns noch immer in Sekundenschnelle in Bann. Das Bild der Zwillinge, des monströs-grossen jüdischen Sohnes, des spastisch zuckenden Jungen mit (Spiel-)Handgranate, des Transvestiten voller Haarwickler, der sonnenbadenden Familie sind längst in die Geschichte der Fotografie eingegangen, berühmt, und ein wenig berüchtigt auch. Doch ebenso heftig wie ihre Bilder wird die Fotografin selbst diskutiert. Wie kaum sonst, tanzen Vorstellungen von ihr, ihrem Wesen, ihrem Leben bei jeder Betrachtung mit um die Fotografie herum. Weshalb das? Was lässt sie fast noch schillernder und geheimnisvoller als ihr Werk erscheinen?

Diane Arbus ist 1923 als Diane Nemerov in eine reiche jüdisch-polnisch-amerikanische Familie hineingeboren worden. Eine Familie, die aus dem Nichts (mit Geld von Pferderennwetten) das edle Pelz- und Modegeschäft «Russek» in New York gegründet und bis zum Niedergang geleitet hat. Howard, später ein bekannter Poet und Schriftsteller, war ihr älterer Bruder, Renée, später Malerin und Designerin, ihre jüngere Schwester. Mit 13 Jahren schon verliebte sie sich in Allan Arbus, der in der Werbeabteilung von Russek gearbeitet hat und den sie, sehr zum Unwillen der Familie, bereits mit 18 Jahren heiratete. Gemeinsam betrieben sie das Diane and Allen Arbus Photography Studio und waren hauptsächlich als Modefotografen tätig. Dabei galt Allen Arbus als der Fotograf und Diane Arbus als die begabte Stylistin. Gemeinsam auch hatten sie zwei Kinder, zuerst Doon, 1945 geboren, und dann, neun Jahre später, Amy. Doon ist Autorin und Verwalterin des Arbus Estates und Amy ist selbst Fotografin geworden. Ende der fünfziger Jahre trennten sich Diane and Allen Arbus offiziell (nach Jahren eines langsamen Auseinanderlebens), fortan lebte sie alleine mit ihren beiden Kindern und realisierte in der sehr kurzen Zeit von zwölf, dreizehn Jahren das inzwischen weltberühmte Werk. 1971 nahm sie sich das Leben. 

Diane Arbus hat in diesen dreizehn Jahren eine Gegenwelt zu ihrer Herkunft als Tochter aus gutem, formellem Haus und zu ihrer Arbeit für die Modefotografie geschaffen. Sie hat Zirkusleute fotografiert, Zwerge, Liliputaner, Nudisten, Transvestiten, Prostituierte, Menschen, die ihre Behinderung zum Erwerb vorzeigen, daneben auch Kinder reicher Leute, Zwillinge, Drillinge, Familien mit auffallender Erscheinung. Sie fotografiert leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als «normal», als bürgerlich bezeichnet. Sie belichtet anderes Sein, anderes Verhalten, Randfiguren. Vom Zentrum der Gesellschaft aus nähert sie sich den darin eingelassenen Rändern, ja es drängt sie zunehmend, sich den fremden Welten und Figuren auszusetzen. Diane Arbus ist in einem Kokon aufgewachsen, extrem wohlbehütet, aber nicht von den Eltern, sondern von Kindermädchen, vom Reichtum als Struktur ihrer Kindheit. Sie verlässt diese Welt und begibt sich auf die intensive Suche nach Direktheit, Einfachheit, Körperlichkeit. Sie entfernt sich von den Formalitäten des Elternhauses, von den Distanziertheiten, vom dezenten Schweigen und sehnt sich nach Nähe, Echtheit, nach dem Greifbaren, Wahren.

Diese Reise ins Authentische – da wo sie das Leben und sich selbst wirklich spürt – nahm zunehmend körperliche, erotische, sexuelle Züge an. Arbus war eine attraktive Frau, die viele für sich einzunehmen wusste. Mit einer verführerischen Mischung aus Scheu und Direktheit, aus Zurückhaltung und Offenheit, aus Schönheit und Intelligenz schien sie sich, süchtig fast, in viele Begegnungen, viel Fremdes hineinfallen zu lassen, es auszuleben wie einen performativen Akt. Und das Bild blieb schliesslich der bleibende Beleg dafür.

Trotzdem ihre Depression sich seit einer Hepatitis verschärfte, war der Selbstmord für alle ihr Nahestehenden überraschend. Dieser Selbstmord – als Schlusspunkt einer nervösen, intensiven Reise weg vom kühlen, emotionsarmen Theater des Wohlstandes – und ihr übersteigertes Sich-Aussetzen in Begegnungen mit anderen Menschen haben das Bild getriebenen Frau kreiert. Das lange Schweigen des Arbus-Nachlasses hat die Figur Diane Arbus weiter mystifiziert. Irgendwann werden wir alle Klareres über diese komplexe Autorin erfahren, doch das tiefe Schwarz und die vielen direkten, stolzen, auch melancholischen, traurigen Blicke in ihren Fotografien werden in jedem Fall weiter strahlen.