Mai 2013  /  Du 836

Die Kühlkette muss lückenlos sein

<p>Paul Hansen: <em>Gaza Burial (Beerdigung in Gaza)</em>, aufgenommen am 20.11.2012,<br />World Press Photo des Jahres 2012</p>

Paul Hansen: Gaza Burial (Beerdigung in Gaza), aufgenommen am 20.11.2012,
World Press Photo des Jahres 2012

<p>W. Eugene Smith: <em>Spanish Wake (Spanische Totenwache)</em>, 1951</p>

W. Eugene Smith: Spanish Wake (Spanische Totenwache), 1951

Die besten Pressefotos der Welt sind wieder gekürt. «And the winner of the World Press Photo of the Year 2013, Spot News, 1st prize singles is»: Paul Hansen, Fotojournalist aus Stock­holm. Mit dem Bild «Gaza Burial», Beerdigung in Gaza. «Die Körper des zweijährigen Suhaib Hijazi und seines älteren, fast vier Jahre alten Bruders Muhammad, werden von ihren Onkeln zu ihrer Beerdigung in eine Moschee in Gaza Stadt getragen.» Das Bild stammt vom 19. Novem­ber 2012, als bei einem israelischen Luftangriff, als Reaktion auf die palästinen­sischen Raketenangriffe, die beiden Kinder und ihr Vater getötet, ihre Mutter und vier weitere Geschwister schwer verletzt worden waren. Während der verschiedenen Luftan­griffe kamen insgesamt rund 150 Personen um. 

Seit die Fotografie von Paul Hansen veröffentlicht worden ist, laufen die Blogs und Diskus­sions­foren heiss. Schauen Sie sich das Bild genau an, dann wissen sie schnell, worum ge­stritten wird: Das Bild wirkt manipuliert. Paul Hansen selbst oder jemand in der Postpro­duk­tion hat über die üblichen Masse hinaus in dieses digital aufgenommene Bild eingegriffen, so stark, dass es fast wie ein realistisch gemaltes Bild aus dem 19. Jahrhundert wirkt. Der Kontrast und die Modulierung der einzelnen Figuren sind verstärkt worden. Die Tiefen­schärfe scheint un­endlich zu sein, bis weit nach hinten wirkt alles gleich scharf und präsent. Beobachtet man den Lichteinfall, dann bemerkt man sofort, dass einzelne Gesichter, Gesichtshälften eigent­lich abgeschattet sein, also ins Dunkle fallen sollten, aber jede Figur scheint ihr eigenes Lichtlein zu haben, eine Art inneres Bildlicht, das man seit Caravaggio in der Malerei kennt. Es wirkt wie der lächelnde Kommentar des Malerfotografen Paul Hansen, dass ganz links im Bild ein Lichtschalter abgebildet ist.

Hier aber geht es nicht um die Totalität und Präsenz einer Malerei, sondern um ein Presse­foto, das am Tag danach vermutlich weltweit in vielen Zeitungen und vielen Online-Medien veröffentlicht wurde. Der Aufschrei ist gross, denn wie können wir Leser und Schauer einem Bild trauen, in dem offenbar mit dem digitalen Malkasten he­rum­gebastelt wurde, bis ein perfektes Bildprodukt das Leiden eines Leichenzugs symbolisiert. «Das darf nicht sein!», «Das gehört verboten!», «Wir müssen strenge Richtlinien entwickeln, was erlaubt ist und was nicht!» So hören sich die Aufschreie anderer Presse­fotografen an. Sie sind verständlich, vor allem in einer Transparenz versprechenden, aber letztlich undurch­sichtiger gewordenen Medienwelt. Doch treffen sie den Kern des Prob­lems? Jeder Presse­fotograf fotografiert heute digital und übermittelt die Bilder in grosser Geschwindig­keit. Entweder säubert er selbst das Bild, akzentuiert die Farben, erhöht den Kontrast oder die Bildbearbeiter auf den Redaktionen tun es. Ein Totalverbot ist also kaum möglich. Stellen wir uns vor, es würde ein Regelwerk aufgestellt werden mit genauen Anwei­sungen, was ein Fotograf im Photoshop-Programm tun darf und was nicht. Alleine die Vorstellung des dafür notwendigen Kontrollsystems macht schwindlig. Also geht auch das vermutlich nicht. 

Hier wird mit guter Absicht und voller Kraft ins Kraut geschossen. Ja, in der analogen Fotografie ist tatsächlich ein Lichtstrahl des Geschehenen direkt auf den lichtempfindlichen Film gefallen. Ein weiterer Lichtstrahl hat das Negativ dann in ein Positiv umgewandelt. Wir sehen also chemisch konservierte Zeit, wenn wir eine alte Fotografie anschauen. Wir sehen ein Fossil. Und ja, jedes digitale Bild fährt damit zum Orkus. Die analoge Kette der Informa­tions­über­tragung wird gekappt, das Bild wird in einen dualen Modus übertragen und zum Schluss wieder sichtbar ausgeprintet. Das ist ein klarer Unterschied, für Foto-Archaiker die Erbsünde der neuen Fotografie schlechthin. Nur, viele der beschriebenen Eingriffe wurden auch im analogen Zeitalter schon vorge­nom­men. Die Dramatisierung in der berühmten Fotografie «Spanish wake» (Spanische Totenwache, 1951) von W. Eugene Smith zum Beispiel ist nicht zu übersehen. Damals wie heute ist der ent­­schei­­dende Schritt, dass ein Fotograf an einer bestimmten Ecke der Welt auftaucht und ein Geschehen aus seinem persönlichen Blickwinkel aufnimmt. Und weil er mit der Kamera auftaucht, schreien oder weinen alle Anwesenden noch lauter, zeigen sogar, wie hinten auf dem Hansen-Bild, mit dem Zeigefinger den Fotografen: Hier bin ich! Bitte knipse! Ich will in die Medien! Dieser Auftritts- und Auswahlseffekt existierte schon immer. Früher jedoch nährte die perspektivisch realnah gestaltete, vom Trägermaterial her herb wirkende Schwarzweissfoto­grafie unseren Bildglau­ben, sie erzeugte dadurch einen Schein des Echten, Wahren, des wirklich Wirklichkeit Abbil­denden. Auch wenn das nie wirk­lich gestimmt hat. Die digitale Fotografie hingegen hat diesen Glauben endgültig geknickt. 

Mit dem Gesagten ist das Problem des Pressebildes noch nicht gelöst. Was oder wem sollen wir nun glauben, wenn wir der Abbildungswahrheit im Bild nicht mehr trauen dürfen, noch nie trauen durften? Das Problem der Glaubwürdigkeit ist heute meist nur über das Prinzip der Kühlkette zu lösen. So wie wir unserem Detailhändler vertrauen, dass der von ihm angebotene Meerfisch auch wirk­lich den ganzen Weg lang vom Fang bis auf den Teller eisgekühlt worden ist, so brauchen wir in den Medien Bildvertrauens-Ketten. Nicht das Foto gibt die Wirklichkeit wieder, sondern ein Fotograf gibt mit diesem Bild seiner Haltung, seinen Ideen zur Welt Ausdruck – mit Hilfe der vorgefundenen Realität. Und ich traue ihm, seinem Darstellungswollen, finde seine Auseinandersetzung stark und gut, deshalb mag ich seine Bilder anschauen (so wie ich auch dem einen Textautor vertraue und dem anderen nicht). Da wir nicht alle Fotografen kennen können, müssen wir den Bildredaktionen trauen oder den Zeitungsredaktionen, dass sie gute, ehrliche Fotografen beschäftigen oder dass sie ihre Bilder wiederum bei vertrauens­würdigen Bildagenturen einkaufen. Und schon sind wir mitten in einer Art von Kommunika­tions­­-Kühlkette. Das sind die Orientierungssyste­me und die Vertrauensbildungsmass­nah­men von heute. Ge­nau wie beim Vertrauensarzt in der Medizin, oder wie beim Biokälbli vom Bauern um die Ecke. Alle anderen, sich einst absolut gebenden Massstäbe haben ausgedient. Das macht uns natürlich unsicher. Weil wir nicht passiv die beruhigende Wahrheit, den ordnenden Massstab und die richtungsweisende Handlungsanweisung frei Haus geliefert kriegen, sondern weil wir aktiv sein und mit Vorsicht die Kanäle der Information und Kommunikation wählen müssen. Eine andere Möglich­keit zur Meinungsbildung sehe ich in diesem Feld nicht. 

Fotografien wie die preisgekrönte werden laufend produziert. Und auch gerne gedruckt, weil sie sowohl Emotionen wie hohe Auflagen schüren. Jedoch seltener von seriösen Zeitungen mit engagierten Bildredaktionen. Wirklich erstaunlich ist deshalb lediglich, dass sich eine Jury zusam­men­raufte, genau diesem Bild den Weltpreis der Pressefotografie zu verleihen. Ich würde gerne der Jury zuhören, wie sie für dieses Welt­schmerz-Bildprodukt argumentiert hat, wie sie aus 103‘481 Bildern von 5‘666 FotografInnen aus 124 Ländern genau diese Fotografie gekürt hat.

Zum Schluss: Das durch das Bild angesprochene Kriegsspiel «Raketenangriff von dieser, Luftangriff von der anderen Seite» ist grässlich, zermürbend, unmenschlich und vor allem auch wenig zielfüh­rend, doch das war hier nicht das Thema der Über­legungen.