Januar 2010  /  Du 813

Die Welt nahtlos mit Bildern versiegeln

English Version: Sealing the World Seamlessly with Images →
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<p>Eine Haut aus Bildern: Ansicht von Dubai in verschiedenen Ausschnitten von der Website gigapan.org</p>

Eine Haut aus Bildern: Ansicht von Dubai in verschiedenen Ausschnitten von der Website gigapan.org

Beim Schreiben der Vision «Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt» war das Gesicht von Oliver Wendell Holmes, einem Arzt und Schriftsteller aus Boston, sicherlich vor Aufregung gerötet. Er glaubte 1859 an den grossen Sieg der Fotografie über die Materie, versprach sich von der Verdoppelung der Welt im «Spiegel mit Gedächtnis» eine neue, eine leichte Welt, die die schwere immobile Materie für immer abzustreifen vermag. «In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von grossem Nutzen (...). Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.» Ein «menschlicher Triumph über die irdischen Bedingungen», fügte er euphorisiert hinzu. Sein Wunsch, der nächste europäische Krieg solle uns Stereobilder von Schlachten liefern, ging, wenn auch mit Verzögerung, in Erfüllung.

Diese Vorstellung, die Welt verdopple sich in der Fotografie, sie existiere fortan in zweierlei Gestalt, in der Welt der Form, der Fotografie, und in der Welt der Materien, mäandert seit ihrer Entstehung durch die Dunkelkammern fotografischer Allmachtsfantasien. Die schiere Masse von Fotografien sowie die Leichtigkeit ihrer Herstellung schienen diese Idee im 20. Jahrhundert zu sanktionieren. Dennoch, es dauerte noch 150 Jahre, bis Holmes’ Projekt tatsächlich in Angriff genommen wurde. Heute stechen wir mit Google Earth, elegant und schwungvoll, von der Stratosphäre steil hinunter auf das, was einst Mutter Erde hiess. Zielgenau und in Sekundenbruchteilen rasen wir auf die Erde zu und verharren wie Drohnen in der Luft, vielleicht hundert Meter über dem Boden, und erkunden von dort aus die Flachdachsiedlungen, den Swimmingpool im Nachbargelände, die Reihe der parkierten Autos, eine Person, die gerade das Gartentor öffnet. Alles haarscharf von Satelliten aus fotografiert, flächendeckend aufgenommen und zu einer Bilddecke montiert, die sich als zweite Haut über die Urmaterie (und die gebauten Materien), also über die Erdkugel, zieht.

Google Street View operiert als Fortsetzung dieser Sehreise. Wir sinken weiter ab, von den hundert Metern, die der Satellitenblick uns erlaubt, auf rund 2,5 Meter über Boden, den Standort der neun Kameras, mit denen das GoogleMobil, aus anderem Blickwinkel, aber wiederum flächen-, ja raumdeckend Strassenzüge und Vorgärten aufnimmt. Stadt um Stadt, Ort um Ort, Strassenzug um Strassenzug, schrittweise auf der ganzen Welt – mit horizontalem 360-Grad- und vertikalem 270-Grad-Sehwinkel. Millionen von Fotografien verwandeln die Strassen in endlose Schlaucheinheiten mit Drehmoment, durch die unser Auge sich, wie in einer gewagten Rutschbahn, aufregende virtuelle Anblicke verschaffen kann. Zuerst von weit her, dann von ganz nahe, gleichsam direkt aus dem Vorgarten digital aufgenommen, beides auf das weltweite Netz hochgeladen und dauernd zugänglich gemacht: Eine Haut aus Bildern, die wie eine Frischhaltefolie einen bestimmten Stand- und Zeitpunkt konserviert, wird über die Welt gezogen und (falls kein Widerstand auftaucht) nahtlos verschweisst. Geradeaus, dann nach links, einmal um die eigene Achse gedreht – und die Vorstellung wird zur Gewissheit, dass die Hotelanlage nicht so elegant gebaut ist, wie es der Ferienprospekt vorgaukelt.

Wem diese Bildverpackung nicht bunt oder radikal genug ist, der klicke auf gigapan.org und erlebe das Nachtpanorama von Vancouver, die Inauguration von Barack Obama, die Skyline von Dubai in grossen, attraktiven Panoramabildern. Bilder, in die man hineinzoomen kann, bis einzelne Wohnungen, Gesichter, Schilder scharf ins Blickfeld rücken. Möglich macht das die schier unglaubliche Zahl von 20 000 Aufnahmen, die zu einem einzigen zwölf Gigapixel schweren Bild verschmolzen werden. 20 000 Aufnahmen rechnerisch zu einem einzigen Bild vereint! 20 000 Einzelbilder, Details, die auf dem Computer zu einem einzigen Sehteppich verwoben werden, der spielend sowohl Übersicht wie Detailsicht erlaubt. Die elektronische Informationsdichte wird so sehr hochgefahren, dass die Bilder wasserdicht und staubfest wirken, als würde der Bildschein die alte materielle Welt wie ein bedruckter Silikonfilm versiegeln. Hier vollendet sich Oliver Wendell Holmes’ Fortschrittsglaube in ungeahnter Qualität. Verdichtete Bilder in aussergewöhnlicher Informationsqualität, perfekte Surrogate, die ausreichen, den Zustand der materiellen Welt dahinter vergessen zu lassen. Aber wollen wir sie deshalb gleich abbrennen?

Der Bildfilm, den Google Street View über die Erde spannt, beschäftigt auch Künstler. Jon Rafman oder Doug Rickard durchforsten das Giga-Archiv, wählen aus, eignen sich an und stellen die Bilder in neuem Kontext zu A New American Picture zusammen. In vielen Gegenden der Welt gilt: Reichtum hält sich bedeckt, Armut spielt sich auf den Strassen ab. In den Zusammenstellungen der beiden Künstler wird uns dies überdeutlich vor Augen geführt. Street View dokumentiert nicht nur Strassenzüge und Häuserfassaden, es nimmt auch den Alltag auf der Strasse mit – mit neun Kameras, die alle zwanzig Meter neun Aufnahmen machen, die elektronisch archiviert werden. Es entsteht so, nun anders angeordnet, eine neue Form der Strassenfotografie. Das sieht ja aus wie Eggleston, wie Sternfeld, wie Shore! Schau mal hier, ein Eugene Richards! Die Vergleiche beziehen sich auf eine ästhetische Nähe, aber das Namedropping lässt vergessen, dass diese Bilder zwar keineswegs interesse-, dafür aber sehr leidenschaftslos entstanden sind. Oliver Wendell Holmes’ Vision einer «leichten Welt» würden wir mit dem Verlust an Leidenschaften, an Gerüchen, Geräuschen, mit dem Ausschalten der (ausseroptischen) sinnlichen Welt doch sehr teuer bezahlen ...