Dezember 2018  /  republik.ch

Dieses leise Frösteln (Diane Arbus)

Weihnachten ist das am tiefsten verwurzelte Ritual der westlichen Zivilisation. Aber was wird sein, fragte Diane Arbus schon in den Sechzigern, wenn es nur noch Legende ist?

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«Xmas Tree in a Living Room in Levittown, L.C.» nennt Diane Arbus diese Fotografie, aufgenommen 1963 auf Long Island, New York. Mit «Schlingen­teppich» bezeichnen Händler die markante Schur des Spannteppichs auf dem Bild. Darauf baut sich ein räumlich knapp vermessenes Wohnzimmer auf, das mit Sofa und Fauteuil, Stehleuchte, freistehendem Fernseher, Zeitungsständer, Salontischchen und Wanduhr mit Sonnenkranz eher klein und bürgerlich anmutet.

Fast verschämt ist der Weihnachtsbaum in die Ecke gestellt, zwischen Boden und Decke festgeklemmt, als sei er passgenau gewachsen. Obwohl er mit silbrigen Kugeln und Lametta vollgehängt ist, vermögen weder sein Volumen noch sein Schmuck ihn gänzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das Wohnzimmer befindet sich in einem Zustand leicht fröstelnder Latenz.

Alles ist fein säuberlich geordnet und weggeräumt, aber zugleich wieder vollgestellt. Der Raum ist menschenleer, doch verkünden die zahlreichen Geschenke, die sich unter dem Baum stapeln, vom bevorstehenden Fest, von der anstehenden Weihnachtsfeier. Wie in aller Welt sollen die vielen Kinder und Erwachsenen für die vielen mit buntem Papier verpackten und mit strahlenden Bändern verschnürten Geschenke in diesem kleinen Wohnzimmer wohl Platz finden?

Die Fotografie ist von einer amerikanischen Fotografin an der Ostküste der USA aufgenommen worden. Gleichwohl erinnert mich die Szenerie an meine Jugend in Zürich. Es vermengen sich in meinem Erinnerungsbild das Weihnachtszimmer bei uns zuhause, dasjenige bei meinem Schulfreund und jenes bei meiner Lieblingstante. Das Frösteln legte sich jeweils erst, wenn, wie es hiess, «der Baum» angezündet wurde und wir alle feierlich das Zimmer betraten, Lieder sangen und uns auf die Geschenke und Canapés stürzten. Trotz kultureller Unterschiede trägt hier offenbar das christliche Ritual über den Atlantik hinweg, unterfüttert mit der Möglichkeit, dass eine der vielen Millionen von Familien, die aus Europa nach Amerika emigriert sind, damals dieses Zimmer bewohnt hat.

Die Fotografie entstand im Rahmen des Projekts «American Rites, Manners and Customs» (Amerikanische Rituale, Gewohnheiten und Bräuche) für das Diane Arbus zweimal, 1963 und 1966, das berühmte Guggenheim-Stipendium erhalten hatte. Arbus reiste mehrfach durch die Vereinigten Staaten und fotografierte Orte und Handlungen, die sie als «Symptome und Monumente», als Teil «der bedeutenden Zeremonien unserer Gegenwart» sah, und von denen sie sagte: «Ich möchte sie einfach bewahren, denn was heute zeremoniell, sonderbar und alltäglich erscheint, wird eines Tages legendär sein.»

Hinter der  wertfreien Beschreibung ihres anthropologisch angelegten Fotoprojekts versteckt sich eine Ebene von tiefer existenzieller Not. Diane Arbus ist 1923 als Diane Nemerov in eine reiche jüdisch-polnisch-amerikanische Familie hineingeboren worden. Eine Familie, die aus dem Nichts (mit Geld von Pferderennwetten) das edle Pelz- und Modegeschäft «Russek» in New York gegründet und bis zum Niedergang geleitet hat. In den dreizehn Jahren ihrer künstlerischen Tätigkeit hat Arbus eine Gegenwelt zu ihrer Herkunft als Tochter aus gutem Haus und zu ihrer Arbeit für die Modefotografie geschaffen. Sie hat Zirkusleute fotografiert, Kleinwüchsige, Nudisten, Transvestiten, Prostituierte, Menschen, die ihre Behinderung oder Eigenart zum Erwerb vorzeigen, daneben auch Kinder reicher Leute, Zwillinge, Drillinge, Familien mit auffallender Erscheinung.

Sie fotografierte leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als «normal», als bürgerlich bezeichnet, belichtete anderes Sein, anderes Verhalten, Randfiguren. Sie entfernte sich von den Formalitäten des Elternhauses, von den Distanziertheiten, vom dezenten kühlen Schweigen und sehnte sich nach Nähe, Echtheit, nach dem Greifbaren, Wahren. Vom Zentrum der Gesellschaft aus näherte sie sich schrittweise den darin eingelassenen Rändern. Ihre Reise ins Authentische, Direkte, Einfache  – da wo sie das Leben und sich selbst wirklich spürt – nahm zunehmend körperliche, erotische, sexuelle Züge an. 1971 nahm sie sich das Leben.

Im Kontext dieser Geschichte, auch passend zu den 1960er Jahren, lesen wir die Bilder von Diane Arbus als Ringen mit der grossbürgerlichen Welt, als Befreiung von Normen, Zwängen, Kälte, als Bruch mit der Gesellschaft. Zu Recht, auch wenn der frühe Selbsttod nahelegt, dass sie auf diesem Weg zwar Erfolg, aber keinen inneren Frieden, keine erfüllende Nähe gefunden hat.

Doch heute können wir sie auch anderes lesen, nämlich als «bewahrend», als «legendär», wie Arbus selbst angekündigt hat, als Zeugnis einer vergangenen Zeit. Einer Zeit noch vor der radikalen Säkularisierung, vor der immer weiter ausgedehnten Kommerzialisierung der Welt, vor dem Wechsel der Erotik in die Werbung, der Sexualität in die Pornographie, der Liebe zu Parship, der Freundschaft zu Facebook, des Körpers, des gelebten Lebens zu seinem Bild. Die Fotografie von Arbus liest sich so, wenn auch fröstelnd, wie eine Art pièce de résistance gegenüber der Totalindividualisierung mit ihrer Tendenz zur Auflösung des Gesellschaftlichen, Verbindenden, Verpflichtenden.

Ob unsere Welt heute besser oder schlechter ist als diejenige nach dem 2. Weltkrieg, ist ungewiss und, wie wir erleben, trotz harten Fakten in hohem Mass subjektiv. Gewiss ist hingegen, dass wir seither einige Utopien abgelegt, ja schlicht verloren haben. Wer das Suchen danach nicht ganz sistiert hat, mäandert unruhig in den neuen Bildwelten umher, auf der Suche nach Frames, nach Sinnbildern, nach Bedeutungen, die tragen und sich nicht sofort als Kitsch oder als Kommerz entpuppen.

Neulich sass ich bei einem Abendessen neben dem französischen Künstler Christian Boltanski. Irgendwann entwischte ihm sinngemäss der Satz: «Wir brauchen eine neue Religion – natürlich keine Religion wie bisher, aber ….» Er sprach davon, dass uns der Rahmen, der Halt, der stabilisierende Common Sense abhanden gekommen ist, ohne den das Leben auf längere Zeit doch schwierig zu leben ist. Das Aushalten der Differenz zwischen Idealität und Realität erfahren wir als Melancholie. Was halten wir aus, wenn dieses Spannungsfeld nicht mehr existiert?

http://www.artnet.com/artists/diane-arbus/xmas-tree-in-a-living-room-in-levittown-li-QR045SOUIJ7RFm3iKxq_Uw2