Februar 2019  /  republik.ch

Dinge, die geschehen können
Die Poesie des Marginalen im Werk von Alessandra Spranzi

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Sie trägt einen Mantel mit Fischgräte-Muster, schwarz und weiss, weiss und schwarz, sie kehrt uns den Rücken zu. Die Arme sind hinter den Rücken gedreht, in beiden Händen hält sie gelbe Tennisbälle, mit der linken Hand zwei, mit der rechten einen Ball, zusammen bilden die Bälle ein Dreieck. «Mani che imbrogliano» hiess vor ein paar Wochen eine Ausstellung von Alessandra Spranzi in Bologna, die mit dieser Fotografie eröffnet wurde: «Betrügende Hände».

Der Mantel wirkt getragen, die Bälle sind gebraucht. Das Bild war gerahmt und auf eine schwarze Wand montiert, die den Blick in die Ausstellung verwehrte. Wir erkennen darin, dass sie, die Figur, ebenfalls vor einer Wand steht, dass das, was sie allenfalls verstecken will, offengelegt wird. «Chose che accadono», nennt sich das Bild, Dinge, die geschehen können. Betrügen die Hände dennoch, allein wegen der Absicht? Wir wissen es nicht.

Der späte Roland Barthes mied auffallend grosse, kämpferische, markante Worte und schrieb: «Der Sinn kann nicht frontal angegriffen werden, man muss mogeln, entwenden, subtilisieren.» Weil wir oft zu schnell verallgemeinern, abstrahieren, systematisieren, versucht er den Sinn der Dinge, so lange es nur geht, in der Schwebe zu halten – so wie Alessandra Spranzi, die hier vermutlich in Person die drei Tennisbälle und den Sinn des Bildes in der Schwebe hält.

In anderen Bildern bittet eine Gabel das Messer auf der Kante eines Glases zum Tanz; eine mit viel Leidenschaft und Können gestickte Decke schwebt frei über einem nicht vorhandenen Tisch; in «Quando la terra se disfa» (Wenn die Erde zerfällt) ringen Gegenstände gegen und um die Gravitation; am Tisch sitzt, bei Kerzenlicht, eine Frau mit Bart; ein Adler erstarrt förmlich im Angesicht eines Hypnotiseurs; «Bicchieri a righe», gestreifte Gläser, formen eine transparente Grossfamilie auf schwarzem Grund; eine Hand präsentiert gleichzeitig ein grosses und ein sehr kleines Ei, und es wird, erfolglos, Flüssigkeit in ein umgestürztes Glas eingeschenkt. Das Ganze oft vor schwarzem Grund – die Gesamtsumme ist schwarz, heisst es dazu in Klammern in den Legenden. Alessandra Spranzi versucht zudem, selbst im Bild agierend, Milch mit der Hand zu greifen, einen Kleinvogel mit der Flöte zu betören, Bücher auf dem Kopf zu tragen. Zum Schluss verziert sie Gedeck mit feierlichen Flammen. Wir erinnern uns an die Arbeit «Stiller Nachmittag» von Fischli Weiss und den lakonischen Beisatz: «Am Schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor‘s zusammenbricht».

Die Ausstellung in Bologna (bei P420) war mit Augenmass gehängt, alle  Werke ungefähr auf der gleichen Höhe, etwas angehoben die Gruppen von vier oder sechs Fotografien, eine Videobox war ausgegrenzt, aber nichts war mit dem Metermass abgemessen, nichts mathematisch genau, nichts systematisiert. Alessandra Spranzi fotografiert selber, aber sie übernimmt auch Gedrucktes, direkt oder abfotografiert, was ihren Fotografien den Eindruck von Gebrauchtem verleiht. Wie eine gebrauchte Hose, ein gebrauchtes Taschentuch, eine leicht «abgeschossene» Serviette. In Handlung übersetzt: wie ein faul herumsitzender, herumlungernder «Arbeiter». Fotografie liebt den Hochglanz, das Brillante, das den Träger vergessen lässt, wie ein perfekter Autolack. Fotografie liebt heute die Leuchtdiode, das LED-Licht, den Screen, der die Farben und die Welt erglühen lässt, als seien sie synthetisiert. Das da! Genau! Schön! Ich will es! Bei Alessandra Spranzi hingegen läuft alles andersrum. Wir sehen nicht die strahlenden Fassaden, sondern das welke, angegraute Gebälk, das Gebastelte der Struktur, das Kippen der Wahrheit, die Falten im Gesicht, die Auflösung der Ordnung. Man möchte ihre Bilder immer anfassen, weil sie materiell wirken, weil sie gleichsam in die Realitäten zurückfundieren, denen sie entsprungen sind. Man möchte ihren Bildern zuhören, weil sie Fragen stellen, weil sie zu sprechen scheinen, sowie die gewellten langen Haare einer Frau, viermal von hinten fotografiert, immer wieder anders fallen, anders sprechen, sich gleichsam versprechen in der Aufregung.

Der deutsche Künstler Hans-Peter Feldmann schrieb einmal: «Eine Wiese, wirklich grün, dichtes Gras, kein Unkraut, keine Blumen, saftige Wiese. Nicht sehr gross, vielleicht 20x20 Meter. Und drum herum ein Holzzaun. Die klas­sische Ausführung, senkrechte Holzlatten, oben angespitzt, vielleicht 1,50 Meter hoch. Waagrechte Latten halten alles zusammen, an den Ecken jeweils ein Pfosten. Jenseits des Zaunes die gleiche Wiese, aber schon etwas weniger ideal. Hier und da ein Baum, ein Weg, dicke Steine, Häuser in der Ferne und so weiter, die Welt eben. Und die Wiese innerhalb des Zaunes nennt man Kunst, und alles ausserhalb des Zau­nes nennt man Welt. Und dann fällt plötzlich der Zaun um. Plötzlich ist das auch keine Kunst mehr, – oder die Kunst ist überall. Und Du hast dann auf einmal kein Problem mehr ...»

Alessandra Spranzi aus Mailand ist eine «Lumpensammlerin» wie Feldmann, wie Peter Piller, Moyra Davey und Zoe Leonard auch, sie verwischt mit Absicht die Grenzen zwischen Bild und Materie, zwischen wahr und falsch, zwischen «Kunst» und «Welt», sie befragt Ordnungen und gibt ihnen einen kleinen Kick, damit unser Sinn, unser Wahn des Systematisierens aufgebrochen, aufgestört wird. Als würden wir beim Spazieren mit der Hand über die Welt gleiten, wie auf einem Handlauf, und dabei alle Unebenheiten, alle Abweichungen, die Zeichen der Zeit auf unserer «palm», wie man im Englischen so fein klingend sagt, auf unserer Handinnenfläche spüren. Alessandra Spranzi taucht in ihren Fotos und Videos wie heute die Influencer im Internet auf. Nur, ihre Waren sind nicht brandneu, ihre Wahrheiten wacklig, ihre Handlungen fragwürdig. Kehrt man den Stein um, beginnen sofort die Geschichten. Ärmliche Materialien, ärmliche Situationen entzünden auf intensive Weise unseren poetischen Sinn.

Dinge sind, Dinge geschehen, zwischen Dasein, Bildsein und Irresein – immer knapp neben der perfekten Utilitarität, auf die die Welt so fit getrimmt sein will. Das Werk von Alessandra Spranzi entwirft eine Poesie des Zauberns und Zauderns, des Marginalen, in einer Zeit der Hochleistung und Hochglanzes. Auch in zahlreichen kleinen Heften, die Spranzi unregelmässig publiziert. Diese Hefte bieten, wie kann es anders sein, mehr Haptik, mehr Geruch und Gefühl als die digitalen Daten hier.