Mai 2011  /  Du 816

«Ehrlich gesagt, das Wetter hat geholfen ...»

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<p>Walid Ra’ad: <em>Let’s Be Honest, the Weather Helped</em> (1998 2006 2007; siebzehn Tafeln, je 45 × 72 cm)</p>

Walid Ra’ad: Let’s Be Honest, the Weather Helped (1998 2006 2007; siebzehn Tafeln, je 45 × 72 cm)

Es existiert ein Schimpfwort in der Kunst, bei dem viele sich sofort naserümpfend abwenden. Sichtlich indigniert. In der Regel genügt eine schnelle, scharfe Ächtung, und das Wort wird sofort – errötend, stammelnd, mit erklärenden Gesten – wieder zurückgezogen. Seien Sie also vorgewarnt. Und seien Sie cool genug, das Heft nicht gleich zuzuklappen, wenn das geächtete Wort nun hier auftaucht: politische Kunst

Ja, politische Kunst. Der Begriff ist die Sprengladung jedes Smalltalks, jedes Arttalks. Als hätte man sich eben ganz entblösst oder den Stand des Bankkontos öffentlich gemacht. «Politische Kunst finde ich einen schwierigen Begriff», «politische Kunst mag ich nicht», «entweder Politik oder Kunst»: Giftpfeile schiessen durch den Raum, Gläser klirren wild, danach wird es auffallend ruhig. Diese Reaktionen sind Spiegel eines Genusszynismus, der sich die pure Lust – am Schauen, an Kunst und Champagner – nicht vergällen lassen will. In ihnen manifestiert sich eine Haltung, die Kunst über alles liebt, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht wirklich Einfluss auf unser Leben nimmt. Doch haben die «Kunstsnobs» nicht auch ein wenig recht? Ist politisch motivierte, gesellschaftlich engagierte Kunst nicht oft sehr platt, lässt Hintergründigkeit vermissen, radiert Komplexität zugunsten überdeutlicher Aussagen weg? «Make Love, Not War!»: Schwarz auf eine rohe Betonwand gesprayt, sind die vier Wörter ja okay – aber als Malerei auf Leinwand oder als Fotoprint? 

Schlechte Strassen sind schlechte Strassen, schlechter Fisch ist schlechter Fisch. Ebenso verhält es sich mit Kunst, auch mit politischer Kunst: Schlechte politische Kunst verringert ihre Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten oft so drastisch, dass sie einfachen Befehlen oder harten Steinwürfen gleichkommt. Das prägt den schlechten Ruf des Labels politische Kunst. Dabei ist ernsthafte Kunst oft politisch gedacht und gesellschaftlich angelegt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der in New York lebende Libanese Walid Ra’ad, der dieses Frühjahr mit dem renommierten Hasselblad Award 2011 ausgezeichnet wurde, der wertvollsten Auszeichnung für Fotografie in der ganzen Welt. 

Walid Ra’ads bisheriges Werk demonstriert auf eindrückliche Weise, wie gut sich Kunst in unser politisches, gesellschaftliches Wahrnehmen, Erinnern, Bewerten einweben kann, ohne dass es ihr dadurch an reflektierender schillernder Vielschichtigkeit mangelt. Die meisten seiner Arbeiten sind reich an Verweisen auf die brutale jüngere Geschichte des Libanons. Und dennoch folgen wir einer Rhetorik, die uns manchmal sogar heiter stimmt, immer jedoch die Nachdenklichkeit vor die (sichere) Wahrheit, das Reflektieren vor das (endgültige) Urteilen stellt. 

In der Serie Let’s Be Honest, the Weather Helped schauen wir – in Reproduktionen eines geöffneten Albums – auf Schichtungen aus Fotografien, Konstruktionszeichnungen und farbigen Punkten. Stadtfotografien, Zeichnungen von Waffen, von Geschossen und manchmal viele farbige Punkte, die sich wie ein Konfettiregen über die Bilder legen. Walid Ra’ad fügt diesen Bildern folgenden Kommentar hinzu: «In den frühen 1980er-Jahren sammelte ich wie viele andere in Beirut Gewehrkugeln und Bombensplitter. Ich führte genau Buch über die Fundstellen, indem ich sie fotografierte und dann die Einschussstellen auf den Schwarz-Weiss-Fotos mit farbigen Punkten markierte. Die Farbe der Punkte entspricht den faszinierenden Farbtönen an den Spitzen der Geschosse – sie kennzeichnen die Hersteller aus verschiedenen Ländern, die so ihre Patronen codieren. Zur Komplettierung meiner Sammlung erstand ich auch Kugeln von Strassenverkäufern. Ich wollte die ganze Bandbreite an Farben an den Geschossspitzen der 7,62×43-mm-Patronen für das AK-47 oder der 5,45×45-mm-Patronen für die M-16. Erst nach 25 Jahren wurde mir bewusst, dass in meinen Notizbüchern alle 23 Länder vertreten waren, die den verschiedenen, an den libanesischen Kriegen beteiligten Milizen und Armeen Waffen und Munition geliefert hatten, darunter die USA, Grossbritannien, Saudi-Arabien, Israel, Frankreich, die Schweiz und China.» 

Die Arbeit erinnert an ein Kinderspiel, ihr Duktus ist bedächtig und zugleich heiter-kurios und bunt. Dabei wird am Schauplatz Libanon quasi aus einer Gegensicht, einer Aussensicht über die Verquickung von politischer Einflussnahme und harten wirtschaftlichen Eigeninteressen beim Waffenhandel nachgedacht. Walid Ra’ad, so sagt er, habe dieses Album 1998 der Atlas Group als Schenkung überreicht. Auch das ist ein nützlicher Gauklertrick, denn Atlas Group ist sein Alter Ego, seine andere Plattform, um audiovisuelle, aber auch schriftliche Zeugnisse, in denen sich die Kriege von 1975 bis 1991 spiegeln, zu finden, zu bewahren und aufzubereiten. Walid Ra‘ad, in einem Land aufgewachsen, in dem sich die Fronten allein schon innerhalb Beiruts mehrfach verschoben haben, dreht sich immer wieder um die eigene Achse, um einen neuen, erhellenden, fragenden Blick zu riskieren: auf die Geschichte, ihre Dokumente und unseren Gebrauch davon. Einen Blick, der vorgibt zu fixieren, der aber oft halluziniert, der alles Sichergeglaubte auflöst und preisgibt. 

Ein zweites Beispiel ist My Neck Is Thinner Than a Hair: A History of Car Bombs in the Lebanese Wars (1975–1991), 245 Dossiers, die sich Autobomben, ihren Fundorten und schrecklichen Auswirkungen verschreiben. Auch in diesem Werk wird mit spannender, ernsthafter künstlerischer Hinterlist eine politisch-historische Beschäftigung kunstfähig gemacht. Walid Ra’ads politische Kunst ist immer dicht, diskursiv, gescheit und attraktiv. «Aber so schwer war das gar nicht», würde er beifügen, bevor er sich davonstiehlt, denn das Wetter habe ja geholfen.