2001  /  Jean-luc Cramatte: On the Road (Christoph Merian Verlag)

Ein Flaneur der Grossbaustelle

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Irgendwann in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren begann die Industrie ihren Stolz zu verlieren. Es waren jedoch nicht die ersten Vorboten der Ölkrise, die dies auslösten; vielmehr setzte der Umschwung mitten im Wirtschaftswunder ein. Es schien, als verliere die Wirtschaft die Contenance, vergesse ihre gute Kinderstube, als würde sie alles, was ihr einst wichtig erschien, über Bord werfen – vor lauter Gier, Geldvermehrung, Marktanteilen, vor lauter Aufträgen, vor dem anlaufenden Endlosband von Produktion und Konsumtion. Da alle mehr verdienten, jeder vorwärts stürmte, keiner sich umschaute, schien dieser Wechsel unbemerkt vonstatten zu gehen. Doch er schlug sich im Bild nieder, in der hauseigenen Firmenfotografie.

Was war geschehen? Ein Beispiel: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat Antonio Paoletti für die Baufirma Umberto Girola aus Domodossola und Mailand alles minutiös aufgezeichnet, hat die Baustellen der Staudämme in den norditalienischen Alpen fast fotografisch inventarisiert. Daten lassen darauf schliessen, dass er sie regelmässig, manchmal monatlich besucht und Maschinenpark, Verkehrsnetz, Gerüste, das Fortschreiten der Baustelle in der Übersicht, einige Ereignisse (Besuch der Bauherrschaft, Besuch des Duce, Richtfest, heilige Messe) und schliesslich die Zentralen, Turbinenhallen, Transformatoren und Strommasten dokumentiert hat. Seine Bilder wurden dann in grosse rotbraune Alben geklebt. Das belegt das symbolische Gewicht des Dokumentierens und weist es gleichzeitig als stolzes Repräsentieren, als Firmenrepräsentanz aus: Schaut her, das sind wir, das haben wir gebaut, und das sind wir fähig zu leisten. Das Dokumentieren bekräftigte die Vorstellung des industriell Machbaren. Die repräsentative Bedeutung veränderte sich schlagartig, als die Firma Girola im italienischen Grosskonzern Impregilo S.P.A. aufging –  wenn auch in diesem Fall immerhin nicht gleich alle Fotos entsorgt wurden.

Das Beispiel beschreibt den klassischen Bruch im Firmenstolz, wenn die Patronfirma in einer anonymen Aktiengesellschaft und diese in einem Grosskonzern, einer Holdingstruktur aufgeht. Der erste, feinere Bruch ist in Girolas Firmenalben auch abzulesen: Die Qualität der Fotografien, die Antonio Paoletti noch in den dreissiger und frühen vierziger Jahren vorlegte, wird von seinen Nachfolgern in den fünfziger und sechziger Jahren nicht mehr erreicht. Ein Beispiel, das zur Regel wird: Viele Firmen beginnen in dieser Zeit, das Dokumentieren dem firmeneigenen Amateurfotoklub zu überlassen. Der Firmenfotograf wird entlassen, die grossformatigen Glasplatten werden weggeworfen, unsorgfältige, sporadische Kleinbildfotografie nimmt überhand. Später, angesichts der schnell wechselnden Firmenideologien, wird die Geschichte der Firmen oft völlig entsorgt, oder die Fotografen dürften einzig noch bei raren Jubiläen ihren bescheidenen Dienst tun.

Mit diesem Wechsel der Struktur, der Funktionen, des Klimas der Unternehmen schwindet das Interesse am Dokumentieren des Geleisteten. Die Autorepräsentation findet nicht mehr, oder nur noch beschränkt, statt. Seit den siebziger Jahren sind es Ethnologen vor Ort, Soziologen mit visueller Begabung, Künstler, Fotografen, die sich dem Dokumentieren, dem Zeigen-was-der-Fall ist annehmen. Seit den achtziger Jahren sind es dann kulturelle Projekte, die Fotografen in Firmen oder auf Baustellen schicken, um den schnellen Wechsel – ob Aufbau oder Auflösung – ausführlich zu dokumentieren. Die ‹Mission Photographique de la DATAR› oder die ‹Mission Photographique Transmanche› sind in Frankreich als gute Beispiele zu nennen, die Dokumentaraufträge der ‹Mediatheque Valais – Image et Son› (Walliser Ton- und Bildzentrum); in der Schweiz sind, die ‹Documentation Photographique› der Stadt Genf oder die ‹Documenta Natura› in Bern (Stiftung Bildinformation zur Lage der Natur) sind anzuführen. Und dann sind es viele Einzelgänger, Einzeltäter, die aus politischem, visuellem, persönlichem Interesse grosse Veränderungen in der Landschaft, im Stadtgefüge, in der Industriezone dokumentieren ‑ ohne  Auftrag, manchmal fast gegen den Willen der vor Ort Tätigen, manchmal mit geringer finanzieller Unterstützung. Sie erreichen meist nicht die Breite und Langfristigkeit der Dokumentationen, wie sie die firmeneigenen Fotografen über die Jahre vorlegen konnten, doch dafür sind ihre Projekte in der Regel klarer, gezielter angelegt. Als Beispiel ist das Projekt von Joachim Brohm zu nennen, der seit 1992 ein Areal von rund 600 x 600 Metern Ausdehnung am Rande von München fotografiert. Bis 2002, also zehn Jahre lang, will er die Veränderungen auf diesem Areal, den Wandel von einer Gewerbe- und Kleinfabrikzone zu einer  Grossüberbauung festhalten.

Jean-Luc Cramattes Projekt ON THE ROAD  gliedert sich in diese neue Tradition ein. Seine Bilder dokumentieren den Bau eines Autobahnteilstückes im Schweizer Mittelland, der 45 Kilometer langen Strecke von Murten nach Yverdon-les-Bains. Ein bedeutsames Stück, weil damit die E25, die Autobahn von Hoeck van  Holland nach Genua durchgängig wird, weil damit auch die ursprüngliche Route Romanshorn-Genf, die A1 (vormals N1) des Schweizerischen Autobahnkreuzes, nach Jahren der Verzögerung, der Unterbrüche, der Unklarheiten und Diskussionen bezüglich Routenwahl, des Stolperns über die Geschichte, über verschiedene archäologische Stätten, vollendet sein wird. Im April 2001 soll das Teilstück eingeweiht werden. Noch in den siebziger Jahren wäre ein Bundesrat mit Militärkapellen aufmarschiert, Regierungsräte und Blumenmädchen im Schlepptau, um mit Pomp und Reden über den Fortschritt das Band durchzuschneiden. In den achtziger und neunziger Jahre tat man das dann ruhiger, verschämter, weil die Umweltfragen im Vordergrund standen. Mit Spannung ist deshalb auf die Gesten von Bundespräsident Moritz Leuenberger, dem Schweizer Verkehrsminister, zu warten, denn sie werden den Stellenwert und die Wertschätzung des Strassenverkehrs zu Beginn des neuen Jahrzehnts visualisieren.

Jean-Luc Cramatte geriet fast zufällig da hinein. Ein Auftrag war es ursprünglich, verbunden mit ein paar persönlichen Erinnerungen – als Kind hatte er oft den Satz «Ja, wenn die Transjurane einmal gebaut ist, gibt es keine Probleme mehr», vernommen,  hatte von der Hoffnung auf Strassen, auf Verkehrswege gehört. Verbunden mit seiner Lust am Reisen liess ihn dies später gut fünf Jahre an dieser Wegstrecke fotografieren. Anfänglich in Farbe und Kleinformat, dann zunehmend und für das vorliegende Buch ausschliesslich schwarzweiss und im quadratischen 6 x 6 cm-Format. Unsystematisch, fast ein wenig wild fotografierte er: die grossen Einschnitte in die Landschaft, das Aushöhlen des Bodens, das Schneisen-Schlagen durch den Wald, das Umackern, Ausheben des Untergrunds, die Bagger, die beim Umschichten der Erdmassen tiefe Spuren hinterlassen, dann das Abstützen der Hänge, das Vordrängen der grossen Tunnelfräse, das Ausbetonieren der Tunnelwände, das Setzen des Endbelages, das Aufschütten der Wildübergänge. Diese Bilder sind unterbrochen durch Aufsichten auf Areale, durch Ansichten des ‹village›, des Bau-Dorfs, durch Porträts von Arbeitern, die, ein wenig aufgeschreckt, bei der Arbeit, bei einer Tätigkeit fotografiert werden oder direkt in die Kamera posieren. Dann geht Cramatte mit ihnen essen, zeigt sie  in der Kantine, beim Umziehen, im Schlafraum – eine reine Männergesellschaft von zweihundert Arbeitern wechselnder Nationalitäten, jede Volksgruppe mit ihrem eigenen Küchendienst. Schliesslich fällt der Blick auf Abseitiges, Randständiges, die Stiefel, den Handschuh, die im Wasser schwimmen, der Abfall, der allmählich im Schlamm versinkt, die bunte Schar von Aufklebern, die nun eine Bretterwand zieren. Beim ersten Schnee wird die Landschaft ruhig, gespenstisch, ein wenig unheimlich auch. Vor dem Tag der offenen Türen, den Besichtigungen von Tunnels und Teilabschnitten wird geputzt und gereinigt.

Jean-Luc Cramatte ist Spurensucher auf einer Grossbaustelle. Er nähert sich an, taucht ein, bewegt sich in der Bausstellen-‹Szene›, wird vertraut mit den Abläufen, den Menschen, den Geräten. Dann geht er wieder, kommt zurück, fünf Jahre lang, länger wohl als viele der Bauarbeiter, die hier beschäftigt sind. Er ist kein Landvermesser, kein distanzierter, objektivierender Beobachter, sondern ein Teilnehmer, wenn auch mit Rückfahrkarte in der Tasche. Sein Blick wirkt fast ein wenig ruhelos, trotz des konzentrierenden 6 x 6 cm-Formats, fällt dahin, dann dorthin, tastet die Szenerie ab, wird im Schnee episch ruhig, wirkt dynamisch mitten unter den Arbeitern. Die Fotografie wechselt von trockener, zurückhaltender Dokumentation zu lebhafter Teilnahme , zum Glamour von Fahrzeugen und Aktionen und schliesslich zur stillen Spurensuche im Untergrund.

Cramatte verfolgt auf dieser Grossbaustelle seine persönliche Fährte, lässt sich leiten, verführen, verweigert sich einer strikten Haltung, ausser jener: frei zu sein in seinem Tun, seine eigene poetische Fotobaustelle zu eröffnen. Er betreibt die Dokumentation wie eine Art visuelles Tagebuch, wie ein Notizbuch, in das diese und jene Begebenheit fällt. Er ist der visuelle Begleiter einer bauindustriellen Reise, ein Reisender in Sachen Baustelle, ein Reisender, der fünf Jahre lang dieselbe Wegstrecke hin- und hergeht, bis sie schliesslich für die grossen, für die Fernziele freigegeben wird  – und dadurch das Reisen ein weiteres Mal beschleunigt, in ein Hinkommen, Ankommen verwandelt.