Oktober 2009  /  Du 800

Ein Himmel voller Zeichen

English Version: A Sky Full of Signs →
<p><em>Roof</em>, 2008 (aus <em>The Great Unreal</em>), Baryt-Print, 84 x 102 cm</p>

Roof, 2008 (aus The Great Unreal), Baryt-Print, 84 x 102 cm

Die amerikanische Landschaft ist leer. Sie wird still und in sich ruhend dargestellt, lediglich durch die Zyklen der Natur belebt und rhythmisiert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein formiert sich in der Fotografie die Wunschvorstellung der Landschaft als einer grossartigen, unberührten, heiligen, mit Grossbuchstaben geschriebenen «NATUR». «Die Landschaft als Gott», wie Estelle Jussim es formuliert hat. Sie wird idealisiert, zur Verkörperung des Beständigen, Ewigen, Göttlichen hochstilisiert. «El Capitan», dieser markante, erhabene Felsen im Yosemite Park, von Carleton E. Watkins 1861 für die Ewigkeit majestätisch festgehalten; der «Half Dome», im selben Park, noch 1960 von Anselm Adams so düster und erhaben bei Mondlicht fotografiert, dass die Betrachter beim Anblick erschaudern (sollen) – diese Landmarks, diese Naturmonumente (u.v.a.) bevölkern einzig die Vorstellung der grossen Weite, der amerikanischen Landschaft als naturalisiertes Göttliches, als gewaltige pantheistische Erfahrung. Sonst ist sie menschenleer. Der Raum, die Natur, die grosse Weite werden zum Symbol für Glück, für Heiliges. 

Ende der 1960er Jahre dann ein plötzlicher Dammbruch, ein Bilderbeben, eine Erfahrungsrevolution: Robert Adams, Lewis Baltz, Henry Wessel, Frank Gohlke, Dan Graham, Ed Ruscha, Stephen Shore und andere, damals junge Künstler stellten der entrückten eine zeitgenössisch-realistische Sicht der konkreten, alltäglichen, auch banalen Umgebung entgegen. Eine reale, sich verändernde Landschaft, eine bearbeitete Umgebung, eine Natur, die sich in ein Territorium verwandelt, die in Besitz genommen, also auch zum ökonomischen Faktor wird. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte mit der Ausstellung «New Topographics: Photographs of a Man-Altered Landscape» (Rochester, 1975) die Vorstellung des schönen, existentiellen Landschaftsbildes, indem sie das Ideal Amerikas der in-sich-ruhenden-schönen-und-erfüllten Natur ganz einfach bevölkert hat. Aus dem heroischen, poetischen «Ich und die Natur» wurde schnell ein «Wir und das Gärtchen". Einfamilienhäuschen stehen nun da, oder Tract Houses, Reihen- oder Kettenhäuser, ein endloser «Vorgarten» des amerikanischen Mittelstandes. Retortenhäuser und -städte, die die abendländische Idealstadt mit einem Zentrum und sinnhafter, hierarchisch angeordneter Struktur pragmatisch-wirtschaftlich unterlaufen. Da war immer schon jemand vorher da, die Landschaft ist besetzt, sie wird zur Real-Estate-Landschaft.

Das Haus in der Fotografie von Taiyo Onorato & Nico Krebs erinnert an solche Tract Houses, verweist auch auf die Serie Park City von Lewis Baltz, die den Aufbau einer Retortenstadt dokumentiert. Wer durch Amerika gereist ist, weiss, dass ausserhalb der Grossstädte das Land fast gänzlich aus Holz gebaut ist. Holz, das aussen im Finish sorgfältig verspachtelt und verputzt wird, damit das Resultat wie ein Backsteinhaus erscheint; Holz, das innen so sorgfältig drapiert und mit hochflorigem Spannteppich belegt wird, bis ein kuschelig-einfaches oder luxuriöses Nest entsteht. Wer gerne durch die Bilderwelt Amerikas surft, erkennt hier die Ur-Situation der Real-Estate-Landschaft: Construction Sites, die nie auf Anhieb klären, ob gerade auf- oder abgebaut wird, auf denen mit Blockhaus-Methoden der amerikanischen Traum des Eigenheims realisiert und mit der Masse von Billigstkrediten die Gewinne maximiert werden.

Das Giebelhaus von Onorato&Krebs liegt in vielerlei Hinsicht in der Schwebe: Ein kellerloses Fundament ist die Basis, grossflächige Spanholzplatten, nach innen mit Kanthölzern verstärkt, werden zu einer Aussenhaut vernagelt, die, mit einem verwirrenden System von Holzlatten temporär verstrebt, auf Stabilität, auf Ausbau und Zweckerfüllung wartet. Unklar ist, ob dieses Ziel je erreicht werden kann, oder ob dieser einfache Bauversuch wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt, allenfalls wie der unerfüllte Turmbau zu Babel den Kräften der Zeit überlassen wird. Welchen Zweck soll diese Hütte erfüllen? Wer hat sie in Auftrag gegeben? Das Baumaterial scheint ungebraucht zu sein, neu ab «Baumarkt» bezogen. Bei Nahsicht entdeckt man jedoch in der hinteren Ecke fünf gross gemalte Buchstaben, die sich, obwohl halb verdeckt und unvollständig, einigermassen leicht zu «Go to hell» vervollständigen lassen. Öffnet sich in dieser Differenz ein beabsichtigter Bild-Widerspruch? 

Onorato & Krebs sind fotografische Secondos oder Terzos. Sie sind nicht nur in der bevölkerten, «man-altered», von den Menschen gestalteten, umgestochenen, in Funktion genommenen Natur gross geworden, sondern in eine exponential wachsende, Köpfe durchdringende, Realität überziehende Bilderwelt hineingeboren worden. Da war immer schon jemand, der ein Haus ins Feld gestellt hat. Da war aber auch immer schon jemand, der das Haus fotografiert, ausgestellt, in Heft- oder Buchform publiziert oder heute auf dem Internet platziert hat. Die Welt ist von so vielen Bildwelten überzogen, durchwirkt, dass die Unterscheidung von So-Seiendem und So-Scheinendem schwierig, oft unmöglich geworden ist. Der verstorbene französische Philosoph Jean Baudrillard sprach von einer «Hyperrealität», einem Himmel voller Zeichen, in dem wir kaum mehr zur sogenannten «Realität» als Referenzort vordringen können. Taiyo Onorato und Nico Krebs reagieren fast wie Kinder darauf: Sie bauen sich ihre eigene Welt. Wie Fischli Weiss sich in der berühm­ten Tonarbeit «Plötzlich diese Übersicht» von 1979 in der ersten Phase der neuen Unübersichtlichkeit ihre eigenen Welten und Geschichten kneteten, so kreieren O&K in ihrem Projekt «The Great Unreal» ihr eigenes Bilduniversum, in dem Reales und Fiktives, Gesehenes und Gedachtes, Dokumentiertes und Konstruiertes, Bild und Trugbild, Land-Strasse und Frank-Strasse einander nähren oder sich gegenseitig das Wasser abgraben. Wetten, dass das Haus hier auf dem Bild selbstgebaut und vielleicht nur koffergross ist? Oder war es wohl doch realreal vorhanden?

 

Diesen Herbst erscheint von Taiyo Onorato / Nico Krebs «The Great Unreal» in der Edition Patrick Frey.