Januar 2019  /  unpubliziert

Ein konsequenter Zwitter

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Es ist wahrlich eine Ironie des Schicksals. Lewis Baltz‘ Weg schien klar vorgezeichnet. Den Bachelor in Fine Arts schloss er am San Francisco Art Institute ab, den Master an der Clarmont Graduate School (heute Claremont Graduate University). Den ersten Degree mit den Prototypes, mit Fotografien, die die Sichtweisen und Formen verschiedener minimaler und konzeptueller Kunsthaltungen anhand der Stadtlandschaften der sechziger Jahre durchspielten. Den zweiten Degree mit den Tract Houses, der ersten von vielen Serien, die sein fotografisches Dokumentieren in eine konzeptualisier­te visuelle Feldforschung umwandelten. Beide Serien und auch die weiteren – Maryland, New Industrial Park Near Irvine, Park City, San Quentin Point, Candlestick Point u.a. – weisen Lewis Baltz als einen Künstler aus, der mit der Präzision eines Landvermessers, eines visuellen Statistikers die Kommerzialisierung der Landschaft und des Siedlungsbaus dokumentiert und gesellschaftskritisch reflektiert. 

Perfekt in das gedankliche und gestalterische Umfeld der damaligen Kunst, die sich zunehmend für Fotografie zu interessieren begann, passend, so schien es. Gesellschaftskritisch ohne politisch-moralisch, ohne triefend, fingerzeigend zu sein. Scharf, direkt, trocken zeigend, was der Fall ist. Zugleich räumte Lewis Baltz mit der Stickigkeit, der Klebrigkeit, der grossen existenziellen Bedeutsamkeit der Fotografie und mit ihrer virtuosen Gestaltung im angestammten Rechteck auf. Mit Fotografien von grosser Schärfe, glasklarer Zeichnung und erstaunlichem Kontrast, die aber zugleich transparent und materielos leicht wirken.

Der Weg des Künstlers Lewis Baltz schien vorgezeichnet. Die meisten seiner Serien wurden beim damals berühmtesten Galeristen von New York vorgestellt, bei Leo Castelli in Soho. Dennoch, irgendwie ist ein wenig Sand ins Getriebe geraten. Nicht dass Lewis Baltz nicht hätte ausstellen können, in Galerien und Museen, international, nicht dass er seine Serien nicht in Büchern hätte platzieren können, nicht dass Fachleute sein Werk nicht anerkannt hätten – aber seltsamerweise lief die Rezeption seines Werks vornehmlich im Feld der Fotografie und nicht im Feld der Kunst ab. Wer weiss, wie wenig Lewis Baltz die Foto-Szene als Szene mochte, das heisst präziser, wie sehr er vieles in der Fotografie antiquiert, larmoyant, unscharf, gefühlsschwadronierend fand, der begreift sofort, wie schmerzlich diese Reaktion, die Rezeption in der Fotografie, aber weniger in der Kunst für ihn gewesen sein muss. 

Die Gründe dafür sind vielfältig und auch noch nicht wirklich geklärt. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass er sehr wohl bei Leo Castelli, aber meist gleichsam nur in der Zweitgalerie, nämlich bei Castelli Graphics ausstellen konnte. Vielleicht spielte ebenfalls mit, dass seine Kunst wirklich gesellschaftskritisch gemeint war und nicht nur so tat. Scharfe Gedanken also und nicht nur Allüre. Etwas, das in den USA nicht immer auf Gegenliebe stösst. Als die ikonoklastischen sechziger und siebziger Jahre ihrem Ende entgegengingen und alle mit grosser Lust wieder Bilder produzierten, oft in sehr grossen Formaten, im Format von Billboards, und mit diesen Bildern die Museen und den Markt stürmten, blieb Lewis Baltz eine Weile lang weiterhin klein und präzis, scharf und zunehmen unangenehm, radikaler in seiner Sicht. Der zentralste Grund dafür ist aber anderswo zu suchen: Die damalige Kunstszene, die sich zunehmend mit Fotografie beschäftigte, liebte es, gebrauchte Fotografien, industriell hergestellte Fotografien, Fotofetzen in ihre Kunst einführten. Fotografie hatte die Rolle eines Realzeichens einzunehmen, die Rolle einer zweidimensionalen Reliquie zu spielen. Je mehr Patina sie hatte, desto besser. In einem Interview mit AD Coleman, dem New Yorker Fotokritiker, das 1972 in der New York Times erschien, erläuterte Ed Ruscha, dass Fotografie für ihn „strikt ein Medium ist, das man benutzen kann oder nicht, und ich benutze es nur, wenn ich muss. Ich benutze es, um einen Job zu erledigen, ein Buch zu machen.“ Im gleichen Interview fügt er bei, dass die Fotografien für dieses Buch keine Kunst seien, sondern industriellen Charakter haben, simply snaphots seien. Dagegen mussten die Abzüge von Lewis Baltz wie hochmoderne Prints anmuten. Lewis Baltz stellte hochpräzise, scharfe, punktgenaue Prints her, die wie ein Röntgenbild, heute würden wir sagen, wie ein Highres-Scan die amerikanische Landschaft abtasteten. Es scheint diese  Schärfe, diese Perfektion zu sein, die die Kunstszene bisweilen erschaudern und zögern liess. Die Fotoszene hingegen rezipierte ihn oft, wenn auch mit etwas Hassliebe, denn oft war Baltz allen einen Schritt voraus, im Ergründen und Verstehen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und ihrer visuellen Zeichen. 

So blieb Lewis lange Zeit ein Künstler der Künstler. Von einigen hochverehrt. Dann mutierte er zum Europäer, verliess die USA, verliess auch die Position des aufklärenden Autors, mutierte zum Verführer, zum Erzähler, Moderator, Rechercheur, Zauberlehrling, Autor A, Autor B, Nicht-Autor. Die Destabilisierung, die Auflösung der fotooptischen, fotostatischen Beziehung von Sehendem und Gesehenem sah er als gegeben an. Beide, Subjekt und Objekt, Bild und Welt wurden dynamisiert, werden laufend zueinander verschoben, geraten in neue Kontexte, begegnen sich in anderen Konstellationen, neuen Aggregatszuständen. In einer postpoststrukturalisti­schen Wende schliesslich glaubte er nicht mehr daran, dass die wissenschaftlich-genaue Aufdröselung oder visuelle Festnahme der Welt das Wesentliche erklären kann, er suchte deshalb nach neuen Zugriffen, nach Spektakeln auch.

Nochmals irritierend, und wie. Teilweise die eigene Fan-Gemeinde. Doch nun ist das Werk abgeschlossen (und in diesem Buch mit bisher nicht editierten Bildern ergänzt), seine Rezeption hingegen noch lange nicht. Sie wird immer wieder neu starten und die scharfe, kühle, wahre Bedeutung dieses Werkes wahrnehmen und diskutieren, die Kunst von Lewis Baltz im Kontext seiner Zeit und darüber hinaus verstehen. Da bin ich mir sicher. Lewis Baltz war ein höchst spannender, konsequenter Zwitter, zwischen Kunst und Fotografie, zwischen seiner ersten und zweiten Phase, zwischen der scharfen fotografischen Sicht der amerikanische Landschaft, die radikal ökonomisiert und kapitalisiert wird, und seiner grossartigen Wende, in der er sich als Künstler angesichts der gesellschaftlichen, ökonomischen und medialen Entwicklungen fast gänzlich neu erfunden hat.