August 2010  /  Du 808

Eine heitere Schule des Sehens

<p>Luigi Ghirri: Salzburg, 1977, aus der Serie <em>Diaframma 11, 1/125 luce naturale</em> (C-Print, 23,8 × 35,5 cm)</p>

Luigi Ghirri: Salzburg, 1977, aus der Serie Diaframma 11, 1/125 luce naturale (C-Print, 23,8 × 35,5 cm)

Die Kunstwelt hat während der letzten Jahre die Väter heutiger Fotografie, heutiger «Kunst mit Fotografie» entdeckt, einen nach dem anderen. William Eggleston zuerst, dann Stephen Shore, Robert Adams, Lewis Baltz, Joel Sternfeld, schliesslich auch das karge existenzielle Werk von Peter Hujar. Auffallend ist, dass alle Amerikaner sind. Das hat sicher mit der Marktmacht amerikanischer Galerien zu tun, jedoch auch mit der Stärke der US-Fotografie in den späten sechziger und siebziger Jahren. Die «Neuen Topographen» und ihr Umfeld waren, wie kaum anderswo, auf Augenhöhe mit dem konzeptuellen Wahrnehmen, Spurensuchen und Handlungsreflektieren in der Kunst der damaligen Zeit. Wie kaum anderswo – dennoch, dieses Anderswo, Anderswer gibt es immer, auch wenn es oft und gerne übersehen wird. Eine solche Gegend ist die Emilia-Romagna, der Landstrich zwischen Modena und Reggio Emilia, und darin Luigi Ghirri. Er war Italiener, lebte südlich der Alpen und starb 1992 früh und unerwartet mit 49 Jahren, gerade zum Zeitpunkt, als der grosse Boom der Fotografie einsetzte. Das sind ausreichend Gründe für einen Fotografen, übersehen, vergessen, ad acta gelegt zu werden. Wenn da nicht seine Fotografien wären, sein Denken in Bildern, sein neues Sehen der (italienischen) Welt, sein Nachdenken über das Medium Fotografie – ein Kaleidoskop intelligenter, poetischer Bildsprachen, die Geist und Gefühl anspringen lassen. Dennoch, bisher haben diese Qualitäten nicht ausgereicht: Luigi Ghirri – der wohl wichtigste, einflussreichste Fotokünstler der siebziger und achtziger Jahre in Italien, eine Schaltstelle zwischen Fotografen, Literaten, Modeneser Konzeptkünstlern (Franco Guerzoni, Claudio Parmiggiani und Franco Vaccari), Architekten wie Aldo Rossi und Theaterschaffenden, einer, der die italienische Fotografie weiterdachte und einen grossen Schritt weiterbrachte – wird international weiterhin unter seinem Wert gehandelt. 

Luigi Ghirris Fotografie beschäftigt sich mit dem Tatsächlichen, mit dem, was jetzt da ist, die Welt bestimmt, mit den gemalten, gebauten Zeichen, die ihn in den siebziger Jahren tagtäglich umgeben haben. Nicht die schönen, sondern die normalen, nicht die erhabenen, sondern die banalen Orte und Dinge interessieren ihn. Gegenwärtig, konkret und analytisch will er mit seiner Fotografie sein. In der Serie Colazione sull'erba (Das Frühstück im Grünen) führt er mit feiner Ironie vor, wie sich das Grün der Natur in kärgliches Topfpflanzengrün verwandelt, das sich entlang von Verputzrissen die Hausmauern hochhangelt, dann wie Pinselstriche eines Malers ins alltägliche Wohnen eintritt und einen Bruch im Naturverständnis formuliert. Seine Paesaggi di cartone (Pappkarton-Landschaften) rücken auf neugierige Weise gedruckte Bilder, Plakate und Poster, Fotografien in Zeitungen und Schaufenster ins Blickfeld. Sie konfrontieren die reale mit der fotografierten Welt, thematisieren den Wandel durch neugieriges, direktes, einfaches Hinschauen. Die Bilder aus Catalogo (Katalog) nehmen die halb- oder ganz geschlossenen Fensterstoren, Bodenplatten, Türen, Fenster wie ein Musterbuch, wie ein Verkaufskatalog auf, um eine Topologie, eine Sammlung von Formen und Strukturen alltäglicher Gestaltung in der Emilia Romagna zu erstellen. Die Vedute (Veduten) inventarisieren die Schaukel, den Sonnenschirm, das Ladenschild als die neuen zeitgenössischen Symbole eines wachsenden, wuchernden Strandtourismus. Die Bildgruppe Diaframma 11, 1/125, luce naturale (Blende 11, 1/125, natürliches Licht) konfrontiert den Menschen, sein körperliches In-der-Welt-Sein mit den Bildwelten eines zunehmend mediatisierten Umfelds, sie zeigt den Menschen im Stadtgefüge, draussen auf der Strasse, drinnen im Museum, eingehüllt von Bildern, an sie gelehnt, an ihnen vorbeiziehend, mit ihnen konfrontiert, sie versunken betrachtend. Ghirri demonstriert hier, wie die Bilder der realen Welt mit jenen der imaginierten, die vorführenden, anpreisenden mit den privaten Welten verschwimmen, wie wir durch Bilderlandschaften, fiktionale Landschaften, durch Atlanten und Modelle reisen, ohne einen Schritt vors Haus zu machen. Vermittelte Erfahrung setzt sich bildkräftig neben reales Erleben.

In der Serie Inquadrature naturali/griglia (Natürliche Kadrierungen/Raster) verdeutlicht er, dass es sich bei seiner Fotografie um eine feine, filigrane Schule des Sehens, Wahrnehmens und Erkennens handelt. Diese Serie der natürlichen Einrahmungen, der gefundenen und arrangierten Gitterstrukturen spielt mit dem rechteckigen Rahmen der Wahrnehmung, der Wirklichkeit, sie demonstriert das Ausschneiden als zentrales Prinzip des fotografischen Sehens, thematisiert den weggeschnittenen Raum als bedeutsamen, mitzudenkenden Bestandteil des vorhandenen, abgebildeten Raumes. «Ausserhalb-des-Bildes-Sein» ist mitbestimmender Teil von «Im-Bild-Sein». Der Schnitt, die Subtraktion, welche die Fotografie unternimmt, schafft die Möglichkeit, die Totalität des Wirklichen entweder zu ordnen, lesbar und verstehbar zu machen oder sie zu verstümmeln, sie in unverständliche, bunt aufgereihte Fähnchen zu verwandeln.

Ghirris fotografische Konzeptstückchen, seine fotografischen Anleitungen zum Sehen und Verstehen sind bei allem intellektuellen, strukturalistischen Rüstzeug auch immer zauberhafte, poetische Bilder im Kleinformat. Im Gegensatz zu vielen konzeptuellen Arbeiten der damaligen Zeit verneinen sie das Bild als Ergebnis nicht, sie sind nicht nur skizziert und schnell ausgeführt, sondern mit Bedacht aufgenommen worden. Auch da, wo Ghirri scheinbar die Kamera nur hinhält, hinguckt und abdrückt, ist eine eigene Bildwelt zu spüren, eine, die sich durch eine sorgfältige und entspannte, präzise und heitere Atmosphäre auszeichnet. Ist jetzt die Zeit, ihn mit Applaus zurück auf den Sockel der Aufmerksamkeit stellen? Jetzt, wo präzises, konzeptuelles Schauen, Reduzieren, Einkochen gerade wieder aktuell ist, jetzt, wo sich viele auf seine Zeit, die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, beziehen?