Oktober 2011  /  Du 820

Eine (verzögerte) Würdigung

<p>David Goldblatt: <em>Mofolo South, Soweto</em> (Johannesburg, September 1972, Silbergelatine-Abzug, 40,5 × 30,5 cm)</p>

David Goldblatt: Mofolo South, Soweto (Johannesburg, September 1972, Silbergelatine-Abzug, 40,5 × 30,5 cm)

Es hätte eine Art Feier werden können. David Goldblatt wurde an die diesjährige Biennale von Venedig eingeladen, die unter dem Titel ILLUMInazioni steht. Das Licht der Aufklärung, das Licht der Erkenntnis ist deren Kern. Aussergewöhnlich passend für das dokumentarische Werk von Goldblatt, das er über fünfzig Jahre in Südafrika fotografiert hat. Doch er fühlte sich in dem Kontext, in den er platziert wurde, nicht wohl, er störte ihn, liess ihm nicht die Ruhe, die er braucht. Seine Werke sind im Para-Pavillon von Monika Sosnowska in schrägwinklige Räume und an die Metallstützen von Normwänden gehängt und zugleich den nervtötenden elektrischen Spannungsbögen des britischen Sound-Künstlers Haroon Mirza ausgesetzt. Das Performanceartige von Raum und Ton, dieses Ausgesetztsein nahm Goldblatt den Atem. Seine Werke wurden zum klaustrophobischen Theater. 

So soll hier eine verzögerte Würdigung des achtzigjährigen, durchtrainierten, zähen Fotografen geschehen. Seine Fotoprojekte handeln alle von Südafrika, beschäftigen sich mit den Menschen, der Arbeit, den gesellschaftlichen Konstellationen, mit dem gebauten und dem natürlichen Raum des Landes. Sie thematisieren dies alles in einem direkten, konkreten Jetzt und Hier, gleichzeitig durchdrungen vom Bewusstsein für die Geschichte, die Strukturen, die Machtverhältnisse, aus denen das Unmittelbare, das Heute entspringt. Dies zieht sich durch sein Werk: von den frühen Fotografien aus seinem Geburtsort Randfontein und aus Johannesburg, von den drei Serien über Minen und Minenarbeiter (On the Mines, 1973), dem dichten Porträt der Buren (Some Afrikaners Photographed, 1975), dem Porträt einer Kleinstadt für mittelständische Weisse (In Boksburg, 1982), der Visualisierung überlanger Arbeitswege für Schwarze (The Transported of KwaNdebele – A South African Odyssey, 1989), der Serie von ausschnitthaften Nahaufnahmen von Gesten und Haltungen (Particulars, 2003) hin zum grossen Projekt über Wohnhäuser, Geschäfte, Kirchen als «in Stein gehauene» gesellschaftliche Strukturen (South Africa: The Structure of Things Then, 1998). Und weiter zum neuen Südafrika, zu Farbfotografien von Beamten, neuen Arbeitsformen, den Strassen Johannesburgs und ländlichen Konstellationen (Intersections, 2005). 

Selten hat ein Land einen so eindrücklich und breit erzählenden, ausdauernden visuellen Chronisten hervorgebracht. Selbst grosse, topografisch und/oder soziologisch angelegte Fotoprojekte wie das der Farm Security Administration in den USA der 1930er-Jahre, die Mission photographique de la DATAR in Frankreich in den 1980er-Jahren, oder Linea di con ne in der Emilia-Romagna (ab 1990), laufen meist nach einigen Jahren aus, auch wenn sie flächendeckender operieren können. Nicht so Goldblatts Projekte: Seit dem Start seiner Laufbahn Anfang der 1960er-Jahre ist Südafrika sein Thema. 

Das lebensbestimmende Insistieren ist wohl, bei aller Vorsicht vor Psychologisierungen, einer besonderen Verknüpfung von individueller Konditionierung und gesellschaftlicher Entwicklung zu verdanken: David Goldblatt, 1930 in einer Minenstadt sechzig Kilometer westlich von Johannesburg, als dritter Sohn in eine jüdische Familie geboren, die Ende des 19. Jahrhunderts aus Litauen nach Südafrika eingewandert war, ist achtzehn, als 1948 die burische National Party in Südafrika überraschend die Wahlen gewinnt und die Macht übernimmt. Es siegt, entgegen der Erwartung nach der Niederschlagung von Nazismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg, eine rechtsnationale Partei. Damit begann sich die Baasskap, die weisse Vorherrschaft in Südafrika seit 1652, innert weniger Jahre zu radikalisieren. Aus der Rassentrennung – 1911 im Mines and Works Act und 1913 im Natives Land Act von den Briten festgeschrieben, aber nicht konsequent durchgesetzt – wurde schnell ein höchst gewaltsames, komplexes ideologisches Machtsystem, das das Leben in Südafrika und die Lebensentscheide von Goldblatt bestimmte. 

Betrachtet man sein bisheriges Werk, so fällt auf: David Goldblatt liest die Welt, in der er lebt, die gelebte, gebaute, gebrauchte Welt. Er tastet die Oberflächen nach sprechenden, verweisenden, erzählenden Hinweisen ab und setzt ein Foto neben das nächste, bis eine beträchtliche bildnerische Indiziensammlung entsteht, die in ihrem Sichtbarmachen ein Verständnis für das Wesen, die Struktur der Gesellschaft erlaubt. Seine Fotografie ist eine visuelle Strukturanalyse der südafrikanischen Gesellschaft, die jedoch nie abstrakt, sondern immer direkt am Erlebten und Beobachteten, an und mit konkreten Situationen und Begegnungen argumentiert. Goldblatt öffnet seine fotografische Arbeit mit seiner Textarbeit – den präzisen Legenden, den ausführlichen Hintergrundinformationen – hin zu einer vielschichtigen, gesellschaftskritischen Anthropologie Südafrikas. Gleichzeitig bleibt er jederzeit mit Leib und Seele ein Fotograf, der in seinen Schwarz-Weiss-Fotografien auffallend mit Licht und Schatten, mit dem gleissenden Licht Südafrikas arbeitet und in seinen neuen Farbfotografien nach der Apartheid die eigentümliche Farbigkeit und die leicht verwaschene, reduzierte Farbdichte südafrikanischer Landschaften einzufangen versteht. 

Goldblatts Werk handelt eminent von Südafrika und erzählt uns gleichzeitig von den Machtverhältnissen auf der ganzen Welt. Der Steidl-Verlag erklärt, dass er eine Reihe von Goldblatts Büchern neu aufzulegen plant. Dadurch erfährt ein zentrales dokumentarisches Werk, das lange Zeit am Rande des Fotografie-Spektrums entstanden ist, seine späte und passende Würdigung.