März 2007

Einleitung

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Es ist bemerkenswert und ein wenig ungewöhnlich: David Goldblatts Fotoprojekte spielen alle in Südafrika, handeln alle von Südafrika, beschäftigen sich mit den Menschen, der Arbeit, den gesellschaftlichen Konstellationen, mit dem gebauten und natürlichen Raum dieses Landes. Sie thematisieren dies alles jeweils in einem direkten, greifbaren, konkreten Jetzt und Hier, gleichzeitig durch­drungen vom Bewusstsein für die Geschichte, die Strukturen, die Machtverhältnisse, aus denen das Unmittelbare, das Heute entspringt. Von den frühen Fotografien aus Randfontein, Goldblatts Geburtsort, und aus Johannesburg, von den drei Serien über die Minen und Minenarbeiter (On the Mines, 1973), dem dichten Porträt der Buren, auch Afrikaner genannt (Some Afrikaners Photographed, 1975), dem Porträt einer Kleinstadt für mittelständische Weisse (In Boksburg, 1982), der eindringlichen Visualisierung überlanger, ja irrelanger Arbeitswege für Schwarze (The Transported of KwaNdebele – A South African Odysee, 1989), der Serie der Close-Ups, der ausschnitthaften Nahaufnahmen von Gesten und Haltungen (Particulars, 2003), hin zum grossen Projekt über Wohnhäuser, Geschäfte, Kirchen als gebaute, ‹in Stein gehauene› gesellschaftliche Strukturen (South Africa: The Structure of Things Then, 1998) und weiter zum neuen Südafrika, zu den Farbfotografien von städtischen Beamten, neuen Arbeitsformen, den Strassen Johannesburgs und den Konstellationen auf dem Land (erstmals zusammenfasst im Buch Intersections, 2005): immer und zu jeder Zeit hat sich David Goldblatt mit Südafrika beschäftigt – eine kleine Ausnahme ist das auf Einladung ausgeführte Projekt in Australien gewesen –, über fünfzig Jahre lang, seit dem Beginn seiner Fotografie Anfang der fünfziger Jahre, seit dem eigentlichen Start seiner Berufslaufbahn als Fotograf Anfang der sechziger Jahre, die den ersten Lebensabschnitt, in dem er den Bekleidungsladen seines Vaters führte und sich als Teilzeitstudent für Betriebswissenschaft interessierte, ablöste.

Äusserst selten hat ein Land einen so eindrücklich und breit erzählenden, ausdauernden visuellen Chronisten hervorgebracht. Selbst grosse, topographisch und/oder soziologisch angelegte Fotoprojekte wie zum Beispiel das der ‹Farm Security Administration› (FSA) in den USA der 1930er Jahre, die ‹Mission photographique de la Datar› – ein Fotoprojekt in Frankreich in den 1980er Jahren – oder ‹Linea di Confine› in der Emilia-Romagna, das 1990 initiiert wurde, laufen in der Regel nach ein paar Jahren aus, auch wenn sie zu einer gegebenen Zeit flächendeckender operieren können. Nicht so David Goldblatts Projekte: Noch heute, mit 76 Jahren, ist Südafrika sein Thema, wie das sich weiterentwickelnde Projekt ‹Intersections› belegt. Dieses ausdauernde, fast lebenslange Insistieren ist wohl, bei aller Vorsicht vor Psychologisierungen, einer besonderen Verknüpfung von individueller Konditionie­rung und gesellschaftlicher Entwicklung zu verdanken: David Goldblatt, 1930 in Randfontein, einer Minenstadt 60 Kilometer westlich von Johannesburg, als dritter Sohn in eine jüdische Familie geboren, die eine Generation früher, Ende des 19.Jahrhunderts, aus Litauen nach Südafrika eingewandert war, ist gerade 18 Jahre alt, als 1948 die burische National Party in Südafrika überraschend die Wahlen gewinnt und die Macht übernimmt. Es siegt, entgegen der Erwartung nach der Niederschlagung von Nazismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg, eine rechtsnationale Partei die Wahlen. 

Damit begann sich die ‹Baasskap›, die Weisse Vorherrschaft in Südafrika seit 1652, innert weniger Jahre zu radikalisieren. Aus der Rassen­trennung – 1911 im ‹Mines and Works Act› und 1913 im ‹Natives Land Act› von den Briten erstmals festgeschrieben, aber nicht konsequent durchgesetzt – wurde schnell ein höchst gewaltsames komplexes ideologisches Machtsystem. Die Rassentrennung bestimmte fortan das gesamte Leben in Südafrika. Mit dem ‹Group Areas Act› vom 13. Juni 1950 wurde die strikte Trennung der Wohngebiete festgelegt. Schwarze waren in den Städten fortan nurmehr als Gastarbeiter geduldet, abends hatten sie in die Townships am Rande der Städte zurückzu­kehren. Nichtstädtische Schwarze wurden wie unerwünschte Ausländer eingestuft und durften sich nur mit Kontrollpass [Nickname: ‹Dompas› für ‹stupid pass›] und maximal 72 Stunden lang in den Städten aufhalten. Damit war das komplexe System von ‹Petty Apartheid› und von ‹Grand Apartheid› lanciert, das 1961 mit der Ausrufung der Republik zur «umfassenden Synthese von Staat, Partei und den verschiedenen protestantischen Kirchen der Afrikaander werden sollte». (David Goldblatt)

David Goldblatt, in seiner Kindheit, in seinem schulischen Alltag immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert, erinnert sich in Gesprächen deutlich, wie schockiert und empört er damals auf die neuen, bisher unbekannten Schilder wie «Europeans only» reagierte. So bestimmt sein Entscheid für den 2. Lebensweg als Fotograf war, so bewusst scheint er sich dafür entschieden zu haben, sich mit seiner Arbeit auf dieses Land einzulassen, seine fatale Entwicklung visuell erforschend, diskursiv lesend, in Bildern erfahrbar, begreifbar zu machen – und sich dadurch persönlich in sein Land einzuschreiben. Zuerst mit dem Versuch, als Repor­tage­fotograf für Zeitungen und Magazine die vielen schändlichen Ereignissen festzuhalten und so eine Stimme der Information, der Aufklärung als Widerstand zu sein, später mit der Einsicht, dass ihn weit mehr «der Unterbau anzog – die Werte und Ordnungen, die diesen Ereignissen zugrunde liegen», dass er weniger für die Aktion geschaffen war und nicht für die Fotografie als Waffe einstehen konnte. 

Ein wenig überraschend kennzeichnet David Goldblatts Fotografie keine durchgehende Handschrift. Die Art von fotografischem Brands, die wir bei Atgets gelassenen Parisbildern, Edward Westons bildräumlicher Eleganz, Brassaïs verruchten Nachtbildern, Cartier-Bressons delikaten Kompositionen oder Weegees aufgeblitzten Unfällen und Verbrechen finden, formt sich bei Goldblatt nicht aus – im Gegenteil: Ein inhaltliches ‹form follows function› leitet ihn, er scheint immer wieder die Form dem Inhalt, die Art der Fotografie dem Projekt anzupassen, scheint jedes Mal von neuem zu definieren, mit welchen Mitteln er sich dem Thema zuwenden will. Ziemlich unterschiedlich von Projekt zu Projekt, aber immer sehr bestimmt, mit visueller und inhaltlicher Überzeugungskraft. 

Für die ersten Bilder der frühen sechziger Jahre – einige davon werden später in Some Afrikaners Photographed zu einem breit angelegten Porträt der Afrikaner vereint – trifft diese Goldblattsche Methode der vom Projekt her bestimmten Form und Eindringlichkeit noch nicht in vollem Umfang zu. Es ist noch nicht diese durchgeformte einheitliche Sprache der späteren Produktionen, mit der er hier spricht. Die Bilder sind heterogener, erinnern teils an die internationale Fotosprache der damaligen Zeit, an Bilder aus ‹Life›, an Gary Winogrand und andere Fotografen. Goldblatt ist hier augenscheinlich noch auf der Suche nach seiner Sprache – und schafft es dennoch, einen reichen, dichten Bildband über die Afrikaner zu veröffentlichen, der weniger über eine kohärente Bildsprache, eine klare Buchstruktur als über die darin sich wie Wellen verbreitenden Stimmungsbögen – von Feierlichkeit zu feierlichem Ernst und Steifheit, von Ausgelassenheit, Heiterkeit zu Ernst und Schrecken, von Gelassenheit zu Aufmerksamkeit und weiter zu Dumpfheit, von Aufrechtsein zur Verspannung und verkrampfter Offizialität – ein eindrückliches, nachdenklich stimmendes Bild der Buren zu vermitteln vermag, dieser Buren, die Kraft ihres Glaubens, der calvinistischen Vorbestimmtheit, sich einredeten, zu Recht die Vorherrschaft über die Schwarzen zu haben. Vom Bild einer kargen Ebene zum Salon einer Witwe, einem sparsam und mit Eigensinn angeordneten Interieur, vom Bild einer schwarzen Familie, die sich in der gleissenden Mittagssonne nach dem Gottesdienst der ‹Dutch Reformed Church› über den staubigen Platz nach Haus aufmacht zum ‹Plot-holder› (Pächter), der mit seiner Frau und seinem ältesten Sohn beim kargen Lunch sitzt, zieht Goldblatts Bilderreihe den Furchen entlang, die die Menschen hinter sich lassen und die ihnen gleichzeitig die Geschichte ins Gesicht geschrieben hat. 

On the Mines, Goldblatts erstes Buch, strukturiert die Bilder in drei Kapitel, zeigt zuerst die Umgebung einer sterbenden Mine, die Behausungen, Läden, die Maschinen und Geräte, die Werkzeuge und Insignien des ‹Boss Boy›, dann die Aktion einer Abteufung, das Ausheben von Schächten tief unter dem Boden, und schliesslich die Porträts von Minenarbeitern. 

Der kargen, leeren Ebene in Some Afrikaners Photographed entspricht in On the Mines das strenge Bild einer von links oben her steil abfallenden Halde von ausgehobenem Material, von Steinen, Kies und kleineren Brocken. Das Zentrum des Buchs führt in einer dichten, düsteren, hektischen Sequenz von Fotografien das Abteufen der Minenschächte vor. Weit unter Tage drillen, bohren, schlagen sich in drei Schichten grosse Gruppen von Basutos unter weisser Leitung – wie David Goldblatt in der Einführung schreibt – Stück für Stück tiefer und weiter in den Boden, erweitern Meter um Meter unter Einsatz ihres Lebens das Schachtsystem. David Goldblatt lässt hier jede Distanz hinter sich und zieht den Betrachter mit apokalyptischen Bildern in Bann: die Gesichter versinken im Dunkeln, ein Gewirr von Schläuchen, Schaufeln, Bohrern mischt sich mit Gruppen von vorgebeugten Menschen, von den wir nur ihre Pelerinen und Helme erkennen können, zu einem Höllenbild, einem indu­striellen Inferno als Spiegel menschlichen Wahnsinns. 

David Goldblatt wird für eine Zeit lang Teil jener, die er fotografiert, auf dem Weg zur Erdmitte, zum Gral der Menschheit. Das Parallel- und Gegenstück zu dieser goyaesken Darstellung eines menschlichen Höllenorts findet sich in der Serie über ‹The Transported› , die Transportierten, Beförderten, die um zwei oder drei Uhr in der Frühe aufstehen und von Bussen stundenlang an ihren Arbeitsort befördert werden. Der Hinweg dauert vier Stunden, der Rückweg dauert vier Stunden, Tag für Tag. Hier steht David Goldblatt ebenfalls mittendrin, in Hautkontakt, und zieht unsere Aufmerksamkeit auf dunkle, düstere Fotografien: in der Nacht an der Bushaltestelle und in den Bussen auf dem Weg zur Arbeit. Sonst ist das Gegenteil der Hektik in den Minenschächten zu sehen: Es herrscht grosse, wohl oft gequälte Ruhe. Die Menschen warten schläfrig auf den Bus, verlängern im Bus ihren Schlaf und sinken am Abend auf dem Rückweg in einen erschöpften, erneuten Schlaf. Ihre schwarzen Gesichter, Haare, Arme versinken in der Nacht, einzig helle Kleidungsstücke und metallene Haltestangen blitzen auf, konturieren die verschwommenen Langzeitbelichtungen. 

Mit den Bildern der Abteufung und der Nachtpassagiere schafft Goldblatt zwei unterschiedliche Energiemomente: von höchster Anspannung, höchster Kraftanstrengung hin zu müdem, erschöpftem Warten und Schlafen. In beiden Serien versinkt die Individualität des Einzelnen in der Masse. Das Ich versinkt unter Zwang in der Funktion, wird zeitweilig ausgelöscht. Die Menschen erscheinen gegen ihren eigenen Willen als Rudel. Düstere südafrikanische Odysseen in beiden Fällen, Übertage und Untertage. Goldblatt konfrontiert die Betrachter mit dem Bild extremer Verhältnisse als einem Zeichen für die ausgeprägten Machtverhältnisse, welche die schwarze Bevölkerung in inhumane Situationen zwingt. 

Eine Nähe ganz anderer Art erlauben die ‹Particulars›, die erst 2003 als Buch erschienen, aber bereits Mitte der siebziger Jahre fotografiert worden sind. Hier geht David Goldblatt so nahe auf die Menschen zu, dass seine Fotografien in gleichem Masse abstrahieren wie konkretisieren. Sie abstrahieren vom Menschen in seinem Umfeld, vom Menschen als integraler Gestalt, sie morphologisieren ihn und lenken den Blick umso prägnanter und direkter auf Einzelheiten – am häufigsten auf das Zentrum, den Angelpunkt des Körpers: Wir blicken auf den Bauch, die Oberschenkel und die Unterarme, konzentrieren uns auf Rumpf und Glieder. Weiter zeigen sie Hände und Füsse, seltener auch Rückenansichten. Die Anonymisierung des Menschen erlaubt den Blick in den Schritt, in den Knotenpunkt der menschlichen Gestalt. Die Direktheit durchbricht alles Repräsentative und erlaubt ehrliche Porträts körperlicher und psychischer Existenz. Gesten des Stolzes, der Eleganz, der Zierlichkeit, des Schutzes formieren mit dem Stamm, dem Rumpf des Menschen, seinen Wülsten und Falten, seinen Kleidern, die ihn bedecken, ein reiches Sprechbild. Die auffallende Qualität des Drucks und die Ausgewogenheit der Hell-dunkel-Werte tragen zur Konkretheit dieser Ausschnitte bei.

Die beiden Projekte ‹In Boksburg› und ‹South Africa: The Structure of Things Then› operieren deutlich anders. Die unterschiedlichen Qualitäten von Nähe werden durch eine sorgfältig gewählte Distanz ersetzt. ‹A photographic essay on life in a small, middle-class, white, South African community› untertitelt David Goldblatt das Projekt, für das er Boksburg hinsichtlich seiner Struktur und Grösse mit Bedacht ausgesucht hat, und für das er die Position eines zurückhaltenden, kaum zuspitzenden Beobachters wählt. Aus einer Mischung von quadratischen und kleinformatigen Abbildungen, alle mit schwarzem Negativrand versehen, entsteht ein vielschichtiges Porträt dieser Kleinstadt. Beobachtungen an Strassenkreuzungen, bei Shopping Centers, beim Optiker, an Sportanlässen, in Meetings, an zeremoniellen Anlässen, in Vereinigungen, zu Hause beim Rasenmähen, beim Spitzentanz auf der Veranda, beim Tee am Nachmittag führen durch den Alltag, zeigen Arbeit, Sport, Vergnügen und kleine Feste und ergründen so Bild für Bild das Klima, die Organisation und die Struktur der Stadt. Dabei lässt die Offenheit der Bilder den Betrachter in den Alltag eintreten, ohne ihn zu gängeln. Im Vorwort wird David Goldblatt weit deutlicher, wenn er das 1887 gegründete Boksburg als in seiner «self-elected, legislated whiteness» fixiert beschreibt, als eine Stadt, in der die Schwarzen nicht zu Hause sind: «They serve it, trade with it, receive charity from it and are ruled, rewarded and punished by its precepts.» 

In ‹South Africa: The Structure of Things Then› nimmt David Goldblatt eine Position ein, die noch zurückhaltender ist als seine bisherigen. Dieses Projekt zeigt ihn als Ethnografen, als Forscher, der das Gebaute, die Architekturen – Kirchen, Häuser, Friedhöfe, Monumente – als gesellschaftliche Repräsentationen, als in Stein gehauene Ideologien versteht. So wie bei barocken Kirchen in Italien, die wir meist als rein ästhetische Erscheinungen bewundern und dabei leicht vergessen, dass der architektonische Barock eine wesentliche visuelle (Kampf-) Manifestation der Gegenreformation im 17. Jahrhundert war, erinnert sich David Goldblatt bei jedem Gebäude an seine historische Funktion, erforscht die kulturelle Bedeutung der Bauten Südafrikas und stellt diese Architekturen in einfachen, fast trocken zu bezeichnenden Dokumentarfotografien vor. In diesem Projekt können und sollen die Bilder nicht mehr für sich allein stehen. Goldblatt hat deshalb jedes einzelne mit einer doppelten Legende versehen: einer kurzen, deskriptiven Legende, die er direkt unter jede Fotografie stellt. Eine ausführliche, analysierende und erläuternde Legende schliesst das Buch ab. Es ist kein übliches Fotobuch mehr geworden, sondern ein aufwändig recherchiertes, visuelles Kulturprojekt. Hier wird Goldblatt zum Phänomenologen südafrikanischer Gesten, Bauten, Oberflächen, die er auf signifikante Zeichen, die das gesellschaftliche System beleuchten, abtastet.

Diese Form von visueller Kulturanthropologie wird auch zur Methode bei der Erkundung des neuen Südafrikas nach der Apartheid. In Intersections überrascht Goldblatt uns mit Farbfotografien. Nach vierzig Jahren präziser Schwarzweiss-Fotografie eröffnete ihm der fundamentale Gesellschaftswechsel in Südafrika die Möglichkeit, selbst neue Wege zu gehen. Seine Grundhaltung aber ändert sich nur wenig. Die Bilder werden offener, werden zu Bildfeldern, in die wir als Betrachter eintauchen können: (Stadt-)Landschaftsfotografien, in einer sehr bildhaften eigenen Farbigkeit und Farbdichte gehalten, die sich jedoch immer als Kulturlandschaften entpuppen, als ästhetische Landschaften voller Zeichen des vergangenen und gegenwärtigen gesellschaft­lichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Südafrikas. 

Betrachtet man sein bisheriges Gesamtwerk, lässt sich zusammenfassend sagen: David Goldblatt liest die Welt, in der er lebt, die gelebte, gebaute, gebrauchte Welt. Er tastet die Oberflächen nach sprechenden, verweisenden, erzählenden Hinweisen ab und setzt ein Foto neben das nächste, bis eine beträchtliche bildnerischen Indiziensammlung entsteht, die vermittels des Sichtbaren ein Verständnis für das Wesen, die Struktur der Gesellschaft erlaubt. Seine Fotografie ist eine visuelle Strukturanalyse der südafrikanischen Gesellschaft, die jedoch nie abstrakt, sondern immer direkt am Erlebten und Beobachteten, an und mit konkreten Situationen und Begegnungen argumentiert. Goldblatt öffnet seine fotografische Arbeit mit seiner Textarbeit – den präzisen Legenden, den ausführlichen Hintergrundsinformationen – hin zu einer vielschichtigen, gesellschaftskritischen Anthropologie Südafrikas. Gleichzeitig bleibt er jederzeit mit Leib und Seele ein Fotograf, der, in seinen Schwarzweis-Fotografien, auffallend mit Licht und Schatten, mit dem gleissenden Licht Südafrikas arbeitet und der in seinen Farbfotografien die eigentümliche Farbigkeit und die leicht verwaschene, reduzierte Farbdichte südafrikanischer Landschaft einzufangen versucht. Die Mischung von konkretem Schaffen an der Bildlichkeit, von direkten, respektvollen Begegnungen mit Menschen, mit der strukturellen Analyse der Gesellschaft und mit dem Verweben von Bildern und Texten zu einer komplexen, kräftigen visuellen Anthropologie revitalisiert die Dokumentarfotografie und verschafft seinem Werk eine eigene, grosse Stärke. David Goldblatts Werk handelt eminent von Südafrika und erzählt uns gleichzeitig von den Machtverhältnissen auf der ganzen Welt.