Februar 2010  /  Du 803

Entfernte Aufsicht als nachdenkliche Einsicht

English Version: A Distant Overview as Contemplative Insight →
<p>Gestrandete Kühe und Fahrzeuge auf einem von Hochwasser umgebenen Stück Land: Jeram Perdas, rund 550 km nordöstlich von Kuala Lumpur, Malaysia, 8. November 2009</p>

Gestrandete Kühe und Fahrzeuge auf einem von Hochwasser umgebenen Stück Land: Jeram Perdas, rund 550 km nordöstlich von Kuala Lumpur, Malaysia, 8. November 2009

Sie klatschen ins Gesicht wie Insekten an die Windschutzscheibe, stechen ins Auge wie eisiger Schneeregen. Wo immer wir Zeitungen und Magazine aufschlagen, schnellen uns Fotografien entgegen. So bunt und glänzend, wie es der Druckprozess, so direkt und schreierisch, wie es die Redaktionsethik zulässt. Ereignisfotografien, die ein Stück Weltgeschehen in die gute Stube, den coolen Loft, das stickige Tram tragen. Ungleiches mischt sich dabei oft, Alltag und Fernbild formen unverhoffte, auch irritierende Parallelen: den dampfenden Kaffee beim Frühstück mit einer rauchenden Autobombe zum Beispiel. Das Druckrauschen des Geschirrspülers mit der reissenden Flut nach schweren Niederschlägen. Das prallvolle Morgentram mit dem Bild überfüllter Gefängnisse. Jihad meets Tchibo – ein Zusammentreffen der besonderen Art. 

All das geschieht ungefragt. Sicher. Auch wenn der Griff in die Zeitungsbox, der Abschluss des Abos freiwillig erfolgen. Es ist scheinbar unerwünscht. Vielleicht. Doch keine Kommunikation schiesst lange an den Bedürfnissen der Konsumenten vorbei. Es ist drastisch, aber nicht drastischer als die Gegensätze des realen Lebens. Diese täglichen Aufeinandertreffen von Medienrausch und Alltagsverrichtung spielen mit Angebot und Nachfrage, mit Werbung und Neugierde, mit Wollen und Bekommen, mit Provozieren und Erfüllen. 

Von Ereignisfotografien erwarten wir nicht, dass sie uns die grosse, ganze Wahrheit erzählen. Sie können nur einen winzigen Fetzen – einen Bruchteil, einen Augenklick – dokumentieren, die Augennerven reizen, um unsere Aufmerksamkeit zu binden und ein Thema anzureissen, auch wenn ihre realitätsnahe Erscheinung weit mehr verspricht. Sie gehorchen den Gesetzen des Newsjournalismus, sollen laut und packend sein. In der Regel ist «Impact» statt Information angesagt. Das Mass des Zeigbaren – Leidens, Liebens, Lebens – wird allmählich immer weiter verschoben. Ebenso das Mass der Nähe zum Geschehen und verbunden damit die mögliche Komplizenschaft zwischen Ereignis und Bild. 

Erhalten wir die Pressefotografie, die wir verdienen? Die wir uns wünschen? Jedenfalls geschieht selten anderes, kaum je begegnen wir in Tageszeitungen – und ausserhalb des Feuilletons – einem Bild von erzählerischer, epischer Tiefe. Das Bild hier von der Agentur Reuters, vergangenen November in den Zeitungen publiziert, ist eine Ausnahme. Die Legende sagt: «Die rettende Insel. Autos, Traktoren, Rinder, Ziegen und Menschen in Malaysia fanden Sicherheit auf einem letzten Stück Land, das den Fluten des Monsuns trotzte. Dort warten sie nun auf Rettung.» Zu sehen ist auf dem Bild eigentlich nicht viel. Ein Haufen kleiner Figuren überzieht eine grüne Fläche. Es fehlt ein packender Vordergrund, ein dynamischer Aufbau. Das Bild ist flach und statisch, Bewegungen sind kaum sichtbar. Das Einzige, was es als Bild für die Presse «rettet», ist seine eigentümliche Form, die geschlossene grüne Fläche, die aussieht wie ein Haus oder wie ein gestauchtes Kirchenfenster. Darum herum kaum druckbares, weisses oder schaumig beiges Wasser, das die Fläche umwogt und einschliesst. 

Dennoch, das Bild packt. Es ist konkret, datier- und lokalisierbar,undzugleicherzähltes, öffnet ein Feld und lädt zum erkundenden, nachdenklichen Sehen ein. Malaysia ja, aktuell, aber auch Bibel und Arche Noah, vor Hunderten von Jahren, und Pieter Breughel am Rande der Neuzeit – auch als Bild einer möglichen Zukunft hüpft es durch die Gedankengänge. Das Wasser steigt und steigt, die Fluchtwege sind abgeschnitten, die Herde wird zusammengetrieben. Gerätschaft und Wagenpark werden an den letzten sicheren Ort gebracht. Einige Teile des Restfleckens Land sind ebenfalls schon weiss, lassen nasse Stellen vermuten. 

Die drohende Gefahr, das Umzingeltsein vom ansteigenden Wasser, kollidiert jedoch mit dem Bild einer auffallenden Gelassenheit. Tier und Mensch scheinen ihren normalen Handlungen nachzugehen, die Kühe grasen friedlich, die Menschen kümmern sich um ihre Werkzeuge. Was geht hier vor? Woher stammt dieses Vertrauen, diese Ruhe? Zählen sie auf jahrhundertealte Erfahrung, dass das Wasser bei Monsun nicht weiter steigt? Oder vertrauen sie auf die Rettungskräfte, den angekündigten Helikopter? Die Kühe jedenfalls haben keine Handyverbindung. Sie scheinen zu riechen, dass es vorerst sicher ist, so bleibt, wie es ist. 

Dieses Agenturbild könnte leicht den Kontext wechseln, ebenso gut in einer Galerie gezeigt werden. Und auch da, als gerahmtes gross vergrössertes Denkbild, bestehen. Es mischt auf überzeugende Art konkretes Ereignis und zeitliche Tiefe, individuelle und archetypische Erfahrung. Und es überlässt uns der Unsicherheit, ob weiterhin fester Boden oder eine schwimmende Insel abgebildet und ob animalisches, naturhaftes Vertrauen noch immer gerechtfertigt ist – und nicht schon bald, bereits nach diesem Klick aus der Luft oder spätestens beim nächsten Monsun, weggetrieben, ein für allemal weggeschwemmt wird. Entfernte Aufsicht als nachdenkliche, rätselhafte Einsicht: ungewohnt – ganz allgemein und als Pressebild –, aber ungewöhnlich gut gelungen.